Charitas Bischoff
Amalie Dietrich
Charitas Bischoff

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Amalie im Elternhaus

Als Ersatz für die verstorbenen Knaben sah Mutter Cordel das Malchen an. Da der kleine Nachzügler noch dazu ein Mädchen war, so würde sie nach der Meinung der Eltern ein Ausbund von Sanftmut und Milde werden. Sie sollte doch das weichherzige Fritzchen ersetzen! Es war der Mutter daher kaum recht, daß Malchen statt des weichen Blondhaares eine Fülle dunkler Locken hatte. Aber die Augen, die erinnerten an das Fritzchen, die waren groß, graublau, aber viel lebhafter, viel schelmischer; und noch mehr Innigkeit lag in dem Blicke, wenn er zärtlich die Liebe der Mutter erwiderte.

Malchen wuchs heran, und die Eltern wunderten sich über die sonderbare Mischung, die der Charakter des Kindes zeigte. Die Eltern urteilten durchaus verschieden über ihr Kind. Die Mutter, die eine gradezu leidenschaftliche Liebe für ihr kleines Mädchen empfand, behauptete, sie könne Malchen mit einem Blick regieren. Der Vater sagte: »Siehst du denn nicht, wie dickköpfig und eigensinnig das Mädel ist? Was die will, das setzt sie durch! Wenn du nicht beizeiten aufpaßt, werden wir wer weiß was an der erleben.«

Das kränkte Mutter Cordel, und fragend ruhte oft ihr Blick auf ihrem heißgeliebten Kinde, und leidenschaftlich drückte sie dann die Kleine an sich und flüsterte: »Malchen! Malchen! Du wirst uns doch nie Kummer machen?« –

Das Kind kam zur Schule; und nun hatten beide Eltern ihren Spaß daran, wie ernsthaft und ausdauernd ihr Kind lernte, mit welcher Wichtigkeit und mit welchem Eifer sie die biblischen Geschichten wieder erzählte, und wie sie die Mutter mit Fragen nach den fremden Ländern quälte, wo sich diese Geschichten abgespielt hatten.

Der Lehrer staunte über die kleine »Nellen« und sagte oft zu den besser gekleideten Oberstädtern: »Wenn ihr euch nicht zusammennehmt, werde ich die kleine Nellen noch über euch alle setzen!«

Die kleine »Nellen« blieb aber unten sitzen, und das empörte sie, denn sie hatte von klein auf ein scharf ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl. Sie hatte auch einen großen Glauben an das Wort von Erwachsenen; denn die Eltern sagten ihr stets die Wahrheit; jedes Versprechen erfüllte die Mutter, ja sie ging lieber über das Versprochene hinaus, um nur ja nicht Glauben und Hoffen ihres Kindes zu täuschen.

Am Sonnabend nahm Malchen ihren Sechser Schulgeld mit in die Schule, einmal im Monat drei Pfennige für Benutzung der Gänsefedern, und ebenfalls einmal monatlich einen Pfennig für Tinte. Bücher wurden nicht viel angeschafft. Den »Sächsischen Kinderfreund« erbte Malchen vom Karl, und als sie erst die Geheimnisse des Lesens innehatte, ließ es ihr keine Ruhe, bis sie alle die kleinen rührenden und moralischen Geschichten durchgelesen hatte. Nun verlangte sie mehr. Auf dem Eckbrett lagen Bibel, Gesangbuch und der Freiberger Bergkalender. Der letztere hielt nicht lange vor. Da verwies Mutter Cordel ernsthaft ihr Kind auf Bibel und Gesangbuch und bestand darauf, daß Malchen viele der alten Lieder auswendig lernte. Zufrieden war aber Malchen damit nicht, sie stöberte überall herum, und als die Niederstadt nichts mehr hergab, da setzte sie sich mit dem Kantor-Klärchen in Verbindung. Es fand sich, daß in der Oberstadt der Buchbinder einen Extra-Glasschrank hatte, der ganz voll von Büchern war; für einen Pfennig die Woche konnte man haben, was man nur mochte. Ja dieser Bücherschrank, das war eine Welt! Malchen übertraf das Kantor-Klärchen an Lesefähigkeit, und mit Kopfschütteln sahen Nelles die wunderbarsten Bücher bei sich ein- und auswandern; Ritter- und Räubergeschichten wechselten mit moralischen Jugendschriften und Reisebeschreibungen. Der Vater schalt über das dumme Zeug und sagte: »Ich will froh sein, wenn das Mädel erst konfirmiert ist; dann rührt sie mir keine von diesen Scharteken mehr an; dann setze ich sie an den Werktisch und sie hilft mir im Geschäft. Wenn ich mal nicht mehr kann, nehm' ich mir einen Gesellen, und der mag das Malchen heiraten.« Mutter Cordel seufzte: »Ach wer mag so lange voraus denken, es kommt meist ganz anders, als man glaubt.«

Die Vorbereitungszeit zur Konfirmation begeisterte Amalie. Kein Schimpfen und Schelten wie in der Schule, nur Erbauung und Erhebung! Ja, wer das immer haben könnte! Sie ging eifrig zur Kirche und erzählte mit Begeisterung zu Hause die Predigt. Der Pastor hatte seine helle Freude an ihr, und nach der Konfirmation kam er wahrhaftig in das kleine Haus der Niederstadt und beglückwünschte die Eltern zu einem so gesunden und aufgeweckten Kinde. Ja, er brachte Malchen sogar ein großes Geschenk, zwei Bände: »Stunden der Andacht« von Heinrich Zschokke. Als der Pastor von Nelles hörte, mit welcher Lesewut seine Schülerin behaftet war, da bat er sie ernst und eindringlich, die andern Bücher zu meiden und nur »Stunden der Andacht« zu lesen. Malchen versprach es und begab sich nun mit größtem Eifer an die neuen Bücher. Sie war so begeistert davon, daß sie sich Sonntags in den nahen Wald setzte und ganze Andachten auswendig lernte. Ihre Sprache bildete sich an dieser eigentümlichen Übung und bald sagten die Leute: »Die Nellen-Male redet wie e Buch.«

»Paßt uff,« sagten noch andere, »wenn hier mal Komödianten her kommen, da geht de Male mit, die is ja ganz überspannt!«

Mutter Cordel aber sagte stolz: »Wenn mein Malchen ein Junge wäre, da setzte ich's durch, daß sie auf den Schulmeister studierte, den Kopf dazu hat sie allemal!«

Außer mit dem Kantor-Klärchen ging's nicht recht mit den Altersgenossinnen. Die gingen zu Tanz, unterhielten sich über Putz und schafften sich bald einen Schatz an. Gegen diese Dinge hatte Amalie einen offenen Widerwillen.

»Ja, was is denn das mit der albernen Nellen-Male? Was will denn die? Die is doch gar ni wie andere Mädel, aber die soll doch ni tun, als wär se was Besseres. Das hat schon manche gedacht, und was hat man an solchen derlebt!? Na! Na! – Man hat Beispiele!« So sagten die Alten kopfschüttelnd in der Niederstadt, und die Jungen gaben ihnen recht. Denn neulich bei Schwenkes, wo Malchen mit ihren Gefährtinnen zusammen gewesen war, da hatten sie auch lachend über Liebesgeschichten gesprochen, da war mitten in der Unterhaltung Malchen aufgestanden, hatte sich in der Tür umgedreht und entrüstet gerufen: »Schämt euch! Wißt ihr nichts Besseres als ewig eure Liebeleien?« und dann war sie verschwunden.

Ja Besseres? Gab es denn etwas Besseres als einen Schatz? Sie wollten doch mal sehen, wenn sie, die Male, erst mal einen hätte, ob sie dann so spräche? Oder waren etwa die Trauben sauer? Die war doch gar nicht wie ein Mädchen, da sie an nichts Freude hatte, was den anderen das Schönste und Liebste deuchte? Aber wart, ihre Stunde würde auch noch schlagen, und dann sollte sie's zu hören bekommen!

Amalie und Kantor-Klärchen gaben sich das Wort, sie wollten nie, niemals heiraten, es sei denn, es käme mal einer, der hoch über ihnen stände, den sie als ihren Herrn anerkennen könnten. Allerdings, dann wollten sie »ja« sagen und oh, so glücklich werden.

Klärchen fand sehr bald in einem Registerschreiber, der beim Bergamt angestellt war, ihr Ideal. Trotz des schroffen, ablehnenden Wesens, das Amalie den jungen Burschen offenkundig entgegen brachte, bemühten sich doch manche Handwerker um das frische, lebhafte Mädchen; aber weder der Leineweber noch der Sattler, weder der Bergmann noch der reiche Mehlhändler aus der Oberstadt fanden günstiges Gehör; sie schickte einen nach dem andern heim. Die Eltern schüttelten den Kopf, was sollte daraus werden? Wenn ein Mädchen in die Zwanzig kommt, und es werden ihm Anträge gemacht, da zieht man es doch in Erwägung. Worauf wartete sie denn? »Das kommt von der ewigen Leserei und Lernerei!« knurrte der Vater; die Mutter meinte seufzend: »Man muß doch Geduld mit ihr haben!« »Geduld! Jawohl Geduld!« sagte der Vater. »Wartet sie etwa, daß ein Studierter hier herunter steigt, vielleicht ein Advokate oder ein Pfarrer? Die läuft noch mal tüchtig an, aber du läßt ihr auch immer in allem ihren Willen!«

Karl war lange weg, der war auf die Wanderschaft gegangen, nachdem er das Handwerk des Vaters gelernt hatte. Seinen Platz sollte Amalie ausfüllen. Sie tat es seufzend; denn den ganzen Tag in Leder nähen, und noch dazu unter den strengen Augen des Vaters, das war wahrlich kein Spaß. Meist hatte sie doch in der Schieblade, wo sie Wachs, Zwirn und Nadel hatte, heimlich auch ein Buch – es war nicht mehr Zschokke – in dem sie las, wenn der Vater einen Geschäftsgang machte.

Das Einerlei dieses ruhigen Lebens wurde unterbrochen durch das jährlich wiederkehrende Königschießen, durch die Jahrmärkte, die Vater Gottlieb regelmäßig besuchte, und durch die Briefe, die vom Karl aus der Fremde kamen. So ein Brief wurde nach und nach Eigentum der ganzen Niederstadt. Zuerst ging Mutter Cordel, den Brief in ein weiß und blau kariertes Schnupftuch gewickelt, zum Pastor, der las ihn noch einmal laut vor und machte seine Bemerkungen dazu. Gewöhnlich holte er eine Landkarte herbei und zeigte der Mutter Cordel ein kleines Pünktchen, mit dem Bemerken, da sei jetzt der Karl. Mutter Cordel nickte; sie konnte sich gar keine Vorstellung machen, was die Punkte und die bunten Linien mit Karls Aufenthalt zu tun hatten; aber sie ließ die Sache auf sich beruhen.

Eines Tages kam ein Brief, der brachte große Aufregung in das kleine Häuschen der Niederstadt. Karl war bis Bukarest gekommen, er hatte die Tochter seines Meisters geheiratet, und die war katholisch. »Katholisch!« rief Mutter Cordel entsetzt. Ach, das mochte sie dem Pastor ja gar nicht sagen! Sie hatte sich doch so viel darauf zugute getan, daß die Sachsen gut evangelisch waren, und nun nahm sich der Karl eine katholische Frau!

Aber wissen mußte der Pastor das, vielleicht konnte er etwas zum Troste und zur Beruhigung sagen. Kurz entschlossen schritt sie in die Pfarre, und wer sie zurückkommen sah, konnte bemerken, daß sie still und nachdenklich, ohne bei den Nachbarn vorzukehren, wieder nach Hause ging. Was der Pastor zu der Heirat ihres Ältesten gesagt hatte, das blieb ihr Geheimnis.


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