Charitas Bischoff
Amalie Dietrich
Charitas Bischoff

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26

»Und ob es währt bis in die Nacht –«

Amalie saß bei Madame Hänel in der Stube hinter dem Laden, und die beiden berieten, was nun werden sollte. »Sie haben noch den Hund und den Wagen –«

»Freilich,« fiel Amalie der Madame Hänel trocken in die Rede, »ich bin ja noch Besitzer eines Fuhrwerks! Nun, das muß schleunigst verkauft werden, so schwer mir auch die Trennung von meinem kleinen, treuen Gaul werden wird,« und Amalie streichelte zärtlich den Hund zu ihren Füßen.

»Nein,« sagte Madame Hänel, »ich dachte an etwas anderes. Wollen Sie sich nicht jetzt noch mal den Vorschlag der alten Krumbiegeln überlegen? Die Laudel-Rieke steht bei ihrem Grünhandel wirklich nichts aus, sie hat ihr gutes Brot; und nicht wahr, man muß doch Grund unter den Füßen haben?«

Aha, wieder die alte Geschichte!

Amalie stand erregt auf, streckte abwehrend die Hand aus und sagte fest: »Nicht das! Sie haben doch auch gehört, es soll ein jeglicher dienen mit der Gabe, die er empfangen hat.«

»Ach was! – Da kommen Sie immer mit Ihrem überspannten Kram! Jetzt mal hübsch bei der Stange geblieben! Gabe hin, Gabe her! Bei der Laudel-Rieke ihrem Geschäft brauchen Sie weiter keine ›Gabe‹. Das ist so einfach: wenn Sie's in die Hand nehmen, dann können Sie's. Ich will damit nicht sagen, daß jedes Geschäft so einfach ist. Bewahre! Ich würde Ihnen doch nicht zumuten, daß Sie etwa mein Geschäft übernehmen, dazu gehört mehr. Aber so nehmen Sie doch um Gottes willen Vernunft an, und hören Sie auf Menschen, die's gut mit Ihnen meinen. Sie sitzen doch wahrhaftig jetzt tief genug drin; was wollen Sie denn noch mit dem albernen Blümchenkram? Strecken Sie endlich die Hand aus nach gutem Brot.«

Amaliens Blick war abwesend, wie in weite Fernen gerichtet. Sie setzte sich, stützte den Kopf seufzend in die Hände, und Madame Hänel, die da meinte, sie ließe sich die Sache durch den Kopf gehen, störte sie nicht in ihrem Sinnen.

Brot! – Liebes Brot! – Gutes Brot! – So sprachen die Leute; dem jagten sie nach; das stellten sie in den Mittelpunkt allen Strebens. Ach, aber der Mensch lebt doch nicht vom Brot allein! – Schon in der Niederstadt hatte man von ihr verlangt, daß sie ihr Bestes – ihr Herz – für äußere Dinge verkaufte, und noch soeben hatte der Vater ihr Vorwürfe gemacht, daß sie damals nicht den reichen Mehlhändler genommen hätte: ›Wie man sich bettet, so liegt man‹, hatte der Vater gemurrt.

Ja freilich. Greifbares konnte sie nicht vorzeigen, aber bedeutete ihr Innenleben nicht doch einen Aufstieg?! – Ach, wie ihre Bekannten lachen würden, wenn sie ihr Leben einen Aufstieg nennen würde! Die Leute im Armenhaus besaßen ja mehr als sie in diesem Augenblick. Und doch, – wenn ihr Brot auch hart und nicht »lieb und gut« war: sie wollte sich in ihrer Armut die Freiheit wahren, es zu erwerben, wie sie selbst es für gut fand. Sie richtete sich jetzt auf, reichte Madame Hänel die Hand und sagte: »Seiner Überzeugung muß man treu bleiben. Über meinen Beruf wollen wir nie mehr sprechen, aber dankbar wäre ich Ihnen, wenn Sie mir sagen könnten, wo ich unter den augenblicklichen Umständen ein Unterkommen für Charitas und mich finden könnte.«

»Das müssen wir mal überlegen. Sie wollen Charitas nicht in Nossen lassen?«

»O, auf keinen Fall! Ich hab' das Kind schon durch das ewige Reisen so viel zu fremden Leuten geben müssen; außerdem könnte ich ihre Hilfe bei meinen Arbeiten gar nicht entbehren.«

Madame Hänel schüttelte mißbilligend den Kopf, sagte aber trotzdem: »Na, da muß ja Rat geschafft werden. Die kleine Wohnung im Hinterhause steht leer, ich will sie Ihnen überlassen. Sie machen ja keine Ansprüche, da helfe ich Ihnen erstmal zurecht.«

»Das wollten Sie doch tun?« rief Amalie lebhaft. »Aber bedenken Sie, ich kann Ihnen keinen Zeitpunkt angeben, wann Sie Ihr Geld bekommen können. Ich habe auch niemanden, der für mich eintritt und ›gut sagt‹.«

»Na, lassen Sie nur!« sagte Madame Hänel, »meinen Sie denn, ich hätte keine Menschenkenntnis? Glauben Sie nur, bei meinem Geschäft lernt man viel. Ich sage mir, Sie haben allerdings sehr verschrobene Ansichten, aber auf Ihr Wort kann man sich verlassen. Hab' ich nicht recht? Ich behaupte, Sie bezahlen, sobald Sie Geld haben. Sie sagen kein Wort; aber die, welche schweigen, sind mir lieber als die, welche viel reden.«

Amalie reichte Madame Hänel tiefbewegt die Hand, und während ihre Augen feucht schimmerten, sagte sie lächelnd: »Nun wollen wir hoffen, daß die ›albernen Blümchen‹ mich nicht im Stich lassen.«

In der Stille der Nacht aber faltete sie ihre Hände und seufzte:

»Und ob es währt bis in die Nacht
Und wieder an den Morgen,
Noch soll mein Herz an Gottes Macht
Verzweifeln nicht, noch sorgen.«

Mit fieberhaftem Eifer arbeiteten nun Mutter und Kind im Hinterhause von Madame Hänel.

»Wir müssen uns die Arbeit einteilen,« sagte Amalie zu Charitas. »Ich stelle die Sammlungen zusammen, und du besorgst die Unterschriften. Nun gib dir aber beim Schreiben rechte Mühe!«

»Weshalb nehmen wir denn nicht wie früher gedruckte Etiketten?« fragte Charitas.

»Weil die alle in Herzogswalde sind,« sagte Amalie kurz. – »Jetzt komm! Hast du noch das Schema der Etiketten im Kopf, oder muß ich dir alles diktieren?«

»Es ist wohl sicherer, du diktierst.«

»Kennst du denn diese Pflanze?«

Charitas besann sich einen Augenblick und sagte dann zögernd: »Ist es nicht – Sym – phy – tum – off – i – –«

»Diese Unsicherheit! Wenn du's nicht genau weißt, greifst du zu »officinalis«. Das ist es nicht, sieh doch genau zu! Sag' mal, vergißt du denn alles wieder? Man sollte doch meinen, du kämest weiter; aber du hast früher mehr Interesse gehabt und hast einen besseren Blick für die feinen Unterschiede gezeigt. Wenn man die Pflanzen so viel unter den Händen hat wie wir, dann sollte man sich nicht mehr irren! Also schreib, – aber halt! Probier' erst auf einem Stück Papier, damit du mir nicht die Pflanzen verunzierst:

Symphytlum tuberosum L
Knollentragende Wallwurz.
S. L. Klasse V, Ord. 1.
Familia naturalis: Asperifoliaceae
Kommt vor: Sachsen, Schlesien, bei Salzburg.
Wächst in Wäldern und Gebüschen.«

Amalie seufzte. Was war das für eine Stümperarbeit mit dem Kinde! Ach und welcher Unterschied zwischen der Handschrift des Kindes und der Wilhelms! Wenn für eine selten vorkommende oder eine eingetauschte Pflanze grade keine gedruckte Etikette vorhanden war, – wie zierlich, wie sicher und schnell hatte er die Unterschrift hingesetzt; und jetzt diese Umständlichkeit! –

Pflanzenpressen waren für die verschiedensten Bedürfnisse in allerlei Größen ein halbes Dutzend dagewesen: jetzt mußte sich Amalie mit Brettern und Steinen behelfen. – Ach es war für ihren Eifer und ihre Ungeduld eine schwere Prüfung, daß ihr durch all diese Entbehrungen so viel Hemmungen entgegentraten. Dieses langsame Vorwärtskommen, wenn es einem so auf den Fingern brannte. Und die heranwachsende Tochter war auch nicht das, was Amalie sich wünschte. Sie ging keineswegs durchaus in botanischen Interessen auf. Sie half willig und freundlich, aber sie geriet nicht außer sich vor Freude über eine seltene Pflanze, und die Zeit für die Hilfe war nur knapp bemessen, da die Schule und die Konfirmandenstunden viel Zeit in Anspruch nahmen.

Gleich nachdem Charitas aus Nossen gekommen war, hatte Amalie sie auf den ganzen Ernst der Lage aufmerksam gemacht und ihr die Notwendigkeit vorgestellt, daß sie jede Minute ausnützen müßten. Charitas hatte ihre Bereitwilligkeit zugesagt, aber dann war sie stürmisch auf die Mutter zugeflogen, hatte die Arme um ihren Hals geschlungen und eindringlich gerufen: »Wenn ich alles tue, was du von mir verlangst, gibst du mir dann auch etwas dafür?«

Befremdet hatte Amalie gefragt: »Dir etwas dafür geben? Wie kommst du darauf, da du doch weißt, ich habe nichts zu geben!«

»Doch Mutter, du kannst ganz gut, wenn du nur willst. O, wenn du doch wolltest!«

»Nun?«

»Schenk' mir die Singstunde, die der Pastor am Mittwoch nachmittag denen gibt, die kommen können und mögen.«

»Das kann ich nicht! Du hast schon so vieles, was du mußt, woran sich nichts ändern läßt, aber – das würde ja drei Stunden kosten mit dem Weg. Der ganze schöne Nachmittag würde mir zerrissen.«

»Gib mir den Nachmittag, Mutter! Es ist das beste, was du mir schenken kannst; ich will es wieder einholen. Sieh, Mutter, die Konfirmandenstunden und die Singstunden sind das Schönste in meinem Leben!«

»Geht ihr denn alle aus der Schule in die Singestunde?«

»Nein – eigentlich nur die Vornehmeren.«

»Siehst du, das dachte ich mir! Die anderen haben keine Zeit. Du meinst aber, du mußt diesen Luxus mitmachen. Du, mit deinen bloßen Füßen, paßt ja gar nicht zu den andern.«

»Nein, Mutter, das tu' ich auch nicht, es spricht auch keine mit mir, und das tut mir vor der Stunde sehr weh; aber wenn der Pastor kommt und mir so freundlich die Hand reicht und mich von der Tür wegführt zu den andern hin, dann – dann wird mir so wohl, obgleich ich immer weinen möchte. So wunderschöne Lieder singen wir, daß ich über dem Singen alles Schwere vergesse und ganz glücklich werde. Nicht wahr, du läßt mir die Stunde?«

»Gut,« sagte Amalie, »ich lasse dir die Stunde. Jetzt aber geh, und sei desto fleißiger!«

Dieses heiße Sehnen und wehe Ringen und Kämpfen, das kannte sie so gut. Dieses Streben nach Zielen, die eigentlich jenseits des Erreichbaren waren, würde Enttäuschungen und Schmerzen bringen. – Aber auch Glück und Freude – hoffentlich! –


Was sollte aus Charitas werden, wenn Amalie wieder reisen mußte? Wer konnte ihr hierin einen Rat geben? Sie ging zum Pastor, der Charitas konfirmierte. Aber der konnte ihr nicht helfen. Amalie sann und sann; endlich kam ihr der Gedanke, daß vielleicht die Pastorsleute auf dem Lande, von denen sie jeden Sommer Pflanzen aus dem Garten bekommen hatte, etwas wüßten. Sie ging den weiten Weg und setzte dem Ehepaar auseinander, was sie suchte.

Der Pastor schüttelte den Kopf. In Callenberg gäbe es ja freilich ein Lehrerinnenseminar, aber ob man da eine Freistelle bekommen könnte? Jedenfalls würde es schwer sein, da anzukommen, wenn man gar keine Konnexionen hätte.

»Aber,« meinte der Pastor endlich, »da kann Ihnen doch Graf Schönberg in Herzogswalde sicher helfen. Ihr Mann muß sich um Fürsprache an ihn wenden.«

»Nein,« sagte Amalie kurz. »Wenn Sie keinen anderen Weg wissen, dies ist ausgeschlossen.«

Pastors schwiegen betroffen. Endlich meinte die Frau Pastorin, sie könnte sich vielleicht in Meißen oder Dresden in einem Putzgeschäft umhören. Aber da kam Leben in Amalie.

»In ein – Putz–geschäft?!« rief sie entsetzt. »Nein! – Soll sie etwa in einer dumpfen Hinterstube sitzen und all ihr Sinnen und Denken in Tand und Plunder stecken? Da soll sie womöglich mit künstlichen Blumen zu tun haben, mit diesen Karikaturen ohne Duft und Leben! Das nenne ich doch kein Heben der Persönlichkeit! Dann doch lieber Kuhmagd als so etwas!«

Die Frau Pastorin schlug entrüstet die Hände zusammen und rief: »So was ist mir noch nicht vorgekommen! Ist das eine Mutter! – Kuhmagd?! – Reden Sie doch nicht Dinge, die Sie gar nicht meinen.«

»Das meine ich,« sagte Amalie trotzig. »Als Kuhmagd hat sie wenigstens für lebende Wesen zu sorgen. Auf der Weide hat sie den blauen Himmel über sich und darf ihr Sinnen und Denken höher richten, als wenn sie tagaus tagein mit Hüten und Federn zu tun hat. Das dürftigste Stück Natur bietet ihrem Gemüt mehr Nahrung als was Sie mir vorschlagen.«

»Nun,« sagte die Frau Pastorin gekränkt, »wenn Sie nichts Besseres für Ihr Kind wissen –«

»Finden Sie wirklich meine Auffassung so verächtlich?« fragte Amalie, während ein schalkhaftes Lächeln über ihr Gesicht huschte. »Haben Sie nie gehört, daß der Bürgermeister von Leipzig in seiner Jugend die Kühe gehütet hat? Ich wüßte nicht, daß man ihm grade daraus je einen Vorwurf gemacht hätte. Aber zu meiner vollständigen Rechtfertigung muß ich Sie noch an das Lied erinnern, das ich – vielleicht auch Sie? – in der Schule gesungen habe:

Was kann schöner sein,
Was kann edler sein
Als von Hirten abzustammen;
Da zu alter Zeit
Arme Hirtenleut
Selbst zu Königswürden kamen!
Moses war ein Hirt mit Freuden,
Joseph mußt' zu Sichem weiden;
Selbst der Abraham
Und der David kam
Von der Hürd' und grünen Weiden.«

Der Pastor hielt sich lachend die Ohren zu und rief mit komischem Entsetzen: »Ach, wenn Sie alle die Erzväter zu Zeugen gegen uns anrufen, da müssen Sie ja recht behalten! Sie knüpfen, wie es scheint, an Ihre kleine Kuhmagd ganz hochfahrende Hoffnungen. Meinen am Ende gar, die arme Hirtin könne sich in eine Prinzessin verwandeln? Sie sind uns zu sehr für die Extreme: tief unten oder hoch oben! Wir sind für die goldene Mittelstraße, geht man da nicht am sichersten? – Nun, wir wollen jedenfalls hoffen, daß bei Ihren sonderbaren Ansichten ein brauchbarer Mensch aus Ihrer Tochter wird.«

Schweren Herzens schied Amalie. ›Ach,‹ dachte sie seufzend, ›die Welt kann man durchjagen, ehe man Verständnis findet.‹

Das, was sie in der Erregung als Trumpf ausgespielt hatte, die Kuhmagd, das mußte bittere Wahrheit werden, einfach, weil sie keinen anderen Ausweg sah.


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