Charitas Bischoff
Amalie Dietrich
Charitas Bischoff

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Wolfenbüttel, 2.9.1868.

Liebe Mutter!

Du schreibst mir doch zu selten! Ich weiß ja freilich, daß Du mehr ins Innere wolltest, aber fast ein ganzes Jahr auf einen Brief zu warten, das ist doch schlimm. Du kannst Dir doch denken, daß ich mich um Dich sorge. Ach, immer dieses vergebliche Hoffen und Harren! Ich werde so neidisch, wenn ich sehe, daß alle anderen Briefe auf ihrem Teller haben, wenn wir zu Tisch gehen. Jetzt überwinde ich aber die Niedergeschlagenheit eher, da ich große Freude an den Kindern in der Schule habe. –

Ich habe Dir heute eine ganz große Neuigkeit zu erzählen.

In den großen Ferien wurde ich wieder von Frau Doktor nach Kiel eingeladen. Den Tag nach meiner Ankunft sagte sie zu mir: »In einer Stunde kannst du mal zu mir kommen, ich möchte dich sprechen.«

Ach, ich war sehr aufgeregt! Das bin ich nämlich immer, wenn Frau Doktor mich sprechen will. Auch wenn ich gar nichts getan habe, werde ich doch von einer unbestimmten Angst gequält, daß sie etwas zu tadeln haben könnte; oder ich denke, es könnte einen Wechsel in meinem Geschick bedeuten. Jedenfalls ging ich mit klopfendem Herzen zur bestimmten Zeit zu Frau Doktor. Die saß an ihrem großen, schönen Schreibtisch, von wo sie den Blick auf das schillernde Meer hat. Im Vordergrunde neigt sich ein saftiger Rasenplatz dem Ufer zu, der von herrlichen Hain- und Blutbuchen eingerahmt ist. Dieser Blick ist unbeschreiblich schön und wirkte befreiend auf mein aufgeregtes Gemüt.

Ich setzte mich, Frau Doktor drehte sich zu mir und sagte: »Nun, wie geht es dir denn eigentlich jetzt in Wolfenbüttel?«

Ich versicherte, daß ich endlich alle Schwierigkeiten überwunden hätte und daß ich mich täglich auf die Kinder freute, und ich ließ hindurchblicken, daß ich hoffte, noch recht lange da zu bleiben.

Frau Doktor ließ mich ausreden, dann sagte sie: »Hast du denn gar keine Lust, dir mal die Welt anzusehen? Wie lange bist du denn nun schon in Wolfenbüttel?«

»Vier Jahre.«

»Vier Jahre schon! Das ist eine lange Zeit. Nun mußt du anfangen, Menschen und Dinge nicht durch andrer Leute Brille sondern mit eignen Augen anzusehen.«

Darauf wußte ich nichts zu erwidern und knetete verlegen meine Hände. Ich war in höchster Spannung, wo das hinaus sollte. Dann fuhr Frau Doktor fort: »Ich habe dir heute zwei Vorschläge zu machen, du kannst sie dir beide überlegen. Am Paulsenstift in Hamburg sucht man eine Lehrerin für die Elementarklasse. Da wir sowohl mit Frau Wüstenfeld wie mit Fräulein Wohlwill bekannt sind, so könntest du durch Herrn Doktors Fürsprache gewiß die Stelle bekommen. Solltest du Lust dazu haben, so könntest du jetzt, da in Hamburg keine Ferien mehr sind, dahin reisen und täglich hospitieren. Ich würde sofort eine Pension für dich besorgen.« –

Nach einer längeren Pause nahm Frau Doktor wieder das Wort und sagte: »Der andere Vorschlag bezieht sich auf London.«

London! – ? – London – O, die Stube drehte sich mit mir! London, – ich nach London! Kannst Du Dir wohl so etwas vorstellen? Mir war zumute, als wenn jemand gesagt hätte: ›Stürz' dich ins Meer!‹ Während ich die Hand auf das heftig klopfende Herz preßte, fuhr Frau Doktor fort: »Ich habe in London eine Nichte, es ist sogar möglich, daß du sie bei uns gesehen hast, sie heißt Mrs. Buxton.«

»Mrs. Buxton!« rief ich lebhaft, »ja, ja, die kenne ich! Das sind doch die Leute, die das entzückende kleine Mädchen hatten, das ich Weihnachten vor sechs Jahren im Hamburger Hause gesehen habe.«

»Ganz recht! – Die sind es! – Nun, du hast wenigstens eine Vorstellung von der Familie. Die kleine Mabel ist mittlerweile herangewachsen und soll wieder eine deutsche Erzieherin haben. Es sind außerdem noch zwei kleinere Kinder da, mit denen würdest du am Nachmittag eine Art Kindergarten einrichten. Mrs. Buxton wünscht noch etwa sechs bis acht Kinder dazu zu bitten. Das aber würde zu besprechen sein, nach deiner Entscheidung. Überleg' dir die Sache, und dann sag' mir Bescheid.«

Da war für mich nicht viel zu überlegen. Das fast verblaßte Bild dieses Engelskindes zog mich mit geheimnisvoller Macht, und ich sagte fest: »Ich gehe nach London!«

»So,« sagte Frau Doktor lebhaft, »ich bin ja ganz überrascht, daß du so schnell weißt, was du willst!«

Sie reichte mir die Hand und sagte: »Ich werde noch heute an Mrs. Buxton schreiben, daß sie dich Ostern erwarten kann. Viel Glück zu deinem Vorhaben!«

Ja, entschlossen hatte ich mich wohl schnell, aber nachher kamen all die Zweifel und Bedenken. Ach, es ist alles wieder so neu und fremd!

Jeder Abschied wird mir schwer, auch der von Wolfenbüttel, und all das Neue, auch die Reise steht mir so bevor. Und doch sollte im Vordergrund nur der Gedanke stehen: Bin ich auch fähig und würdig an der Seelenentwicklung von Kindern zu arbeiten?

Gott gebe es!

Mit herzlichen Grüßen
Deine Tochter Charitas.


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