Charitas Bischoff
Amalie Dietrich
Charitas Bischoff

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Charitas Bischoff

Hamburg, 4. Januar 1864.

Meine liebe Mutter!

Wie freute ich mich, zu sehen, daß Du wirklich glücklich in Australien angekommen bist. Ganz wie Du es Dir gedacht hattest: am 24. Dezember bekam ich Deinen lieben Brief. Ich hab' ihn mir selbst vom »Alten Wandrahm« geholt. Denke Dir, ich bin nicht mehr »An der Alster«. Ich bin, bald nachdem Du abgereist warst, nach Hamm in Pension gekommen zu einer alten Dame, die zwei Töchter hat. Eine der Töchter gibt mir französische und deutsche Stunden. Ich gehe aber auch zur Schule, habe einen tüchtigen Weg von Hamm nach Hamburg in die Theaterstraße. Weihnachten aber wurde ich eingeladen, das Fest an der Alster zu verleben. Darüber habe ich mich sehr gefreut, denn ich war sehr traurig, als ich von Dr. Meyers fort sollte. Als ich in Hans' Stube saß und in einem seiner schönen Bücher las, kam Fräulein Elise herein und sagte: »Geh doch mal an den ›Alten Wandrahm‹ und frag', ob vielleicht ein Brief von Deiner Mutter da ist!« Ich sah sie mir genau an, und mir schien, sie lachte ein ganz klein wenig, – sollte sie etwas gewußt haben, daß ein Schiff aus Australien angekommen war? Ich ging eilig hin. Es war so frisches Frostwetter, und ich freute mich so auf einen Brief, daß ich ganz lustig war. Und richtig! einer der jungen Herren im Kontor gab mir den Brief. Das war doch ein schönes Weihnachtsgeschenk! Wie oft habe ich ihn gelesen, bis ich ihn auswendig konnte. Frau Doktor sagte, nun müßte ich Dir bald wieder schreiben, ich könne Dir doch das Fest beschreiben. Ja, das will ich auch, denn ich dachte immer, wenn Du doch dabei wärest und alles mit erleben könntest. Fräulein Elise kam um fünf Uhr zu uns und sagte: »Heute dürfen die Kinder mit den Großen essen. Charitas, mach' Dir noch einmal sorgfältig das Haar, und wasch Dir die Hände.« Mir war ganz feierlich zumute, als es zu Tisch klingelte. Es war das erstemal, daß ich mit den Erwachsenen essen durfte. Ich war ganz verwirrt, als ich die große, schön gedeckte Tafel sah. Es war sehr viel Besuch da, vier Schwestern und ein Bruder von Frau Doktor, und denke Dir nur: eine Familie aus England! Wirkliche Engländer sah ich! Sie hatten ein dreijähriges Kind bei sich, das konnte auch nur englisch sprechen und verstehen. Ich mußte es immer ansehen, denn es sah genau so aus wie eins von den vielen Engelchen, die wir in Dresden in der Bildergalerie sahen. Es hatte ein so rundes, liebes Gesichtchen, rote, zarte Bäckchen und goldschimmernde Löckchen. Ach, wie ich mich sehnte, dieses schöne Kind nur einmal in die Arme zu schließen, aber es wäre gewiß bange vor mir geworden, und da sah ich es nur immer von weitem an. Das lebendige Engelchen fand ich noch viel schöner als das gemalte. Es war auch so entzückend angezogen, es trug ein kurzes, duftiges Kleidchen, das reich mit Spitzen besetzt war, ganz wie es zu dem kleinen Märchenprinzeßchen paßte. Herr und Frau Doktor sprachen auch englisch. Es ist mir ganz unbegreiflich, wie man eine fremde Sprache sprechen kann. Es muß einem ja wunderbar zumute sein, wenn man es kann. Ob ich es wohl so weit bringe, daß ich einst eine fremde Sprache sprechen kann? Es war ein Abend wie ein Märchentraum; alles blitzte und funkelte: das viele Silber, die schön geschliffenen Gläser, ja sogar die Augen all der fröhlichen Menschen erstrahlten vor Freude. Aber es kam noch immer schöner! Als wir fertig waren mit essen, boten die Herren den Damen den Arm, Johann öffnete die Türen zum großen Gesellschaftssaal, und nun hättest Du mal sehen sollen! Ich hatte manchmal ganz heimlich mit Hans durch die Türspalte geguckt, und da war mir der große Saal immer so unheimlich erschienen; es war kalt, und alles was drinnen war, war mit grauen Decken zugedeckt, und die Fenster waren ganz dunkel, weil dichte Läden davor waren. Desto größer war nun mein Staunen. Du kannst Dir nicht denken welche Pracht! Ich stand ganz geblendet. Die Kronleuchter brannten, und an den Kronleuchtern hingen eckige Glaszapfen, und die glänzten in allen Farben. Ein großer Tannenbaum, der bis an die Decke reichte, hatte viele, viele große Lichter, und an den Wänden waren Tannenlauben, davor war ganz groß der Name, und drinnen stand Tisch und Stuhl mit vielen schönen Sachen. Und dann all die schönen und freundlichen, glücklichen Menschen! Ich mußte aber immer das Engelchen und Herrn und Frau Doktor ansehen. Wie schön waren die drei! Dicht bei der Tür war auch ein Tisch für mich aufgebaut. Ich bekam ein schottisches Kleid, einen Nähkasten und einen Regenschirm. Denk' mal, einen Regenschirm, den ich nun ganz für mich allein haben darf! In der Mitte lag ein schönes Buch. Ach, nun fiel mir ein, weshalb Frau Doktor mal gefragt hatte, ob ich mir wohl ein Buch mit Gedichten wünsche? Ich sagte ja, ich möchte wohl Klopstocks Gedichte haben. »Warum denn gerade die?« fragte sie. »Die haben wir gerade in der Schule gehabt, und da war ein Gedicht, das hatte mich zu Tränen gerührt.« Zitternd vor Freude griff ich nach dem Buch, aber es war nicht Klopstock, es waren Schillers Gedichte. Frau Doktor trat zu mir und sagte lachend: »Du bist sentimental genug, du brauchst nicht noch Klopstock zu lesen, Schiller ist dir besser.«

»Schiller haben wir noch nicht gehabt,« sagte ich leise, aber ich dankte für alles. Es war so viel, und alles so schön, ich fand nur gar keine Worte, die andern konnten sich alle so laut freuen. – Ich mag immer am liebsten die wehmütigen Gedichte, das kommt wohl, weil ich meist so traurig bin, und mich so nach Dir sehne. Mir ist oft, als wolle mir das Herz vor Weh zerspringen, und ich möchte mich dann ganz weg weinen. Die Damen in Hamm sagen, das sei undankbar, ich hätte alles, was ich brauchte, und wenn ich nur recht fleißig lernte, dann würde mir schon die Sehnsucht vergehen, aber ich sei noch lange nicht fleißig genug, ich solle tüchtig französische Verben lernen. Ich lerne, aber die Sehnsucht nach Dir bleibt doch. Sie sagen, ich solle nur mal sehen, wie mit den Jahren die Sehnsucht verschwände, denn Du bliebest ja noch lange weg, und je länger es dauerte, desto ruhiger würde ich. Das glaube ich aber niemals. Damit es nicht undankbar aussieht, verstecke ich meine Trauer und scheine ganz gleichgültig, aber wenn ich nur jemanden hätte, dem ich mal ordentlich sagen könnte, wie mir um's Herz ist! Ich sollte mich ja wohl mehr über alles freuen, was mir hier geboten wird, aber Mutter, ich brauche ja gar keine so schönen Sachen, ich will ja auch gar nicht so gutes Essen, wenn ich nur mit Dir zusammen sein könnte, wenn ich nur wüßte, daß mich jemand recht lieb hätte! Aber es kommt mir immer so vor, als wären sie hier alle viel zu vornehm, als dürfte man es nicht einmal zeigen, wenn man jemanden gern hat; denn sieh mal, die einzige, die mich hier manchmal in die Arme nimmt und küßt, ist die gute, alte Köchin Lisette bei Doktors, die ruft mich wohl mal einen Augenblick herein, wenn ich auf meinem Schulweg ins Kellerfenster gucke, und hat mich lieb, fast wie eine gute Mutter. Aber sie tut es immer ganz heimlich, und sowie sie hört, daß jemand kommt, schiebt sie mich ganz schnell zur Tür hinaus. Ist's denn ein Unrecht, sich lieb zu haben? Ich verstehe das alles gar nicht, aber es macht mir Unruhe, daß wir's so heimlich tun müssen.

Ich hab' ein kleines Buch, darin lese ich viel; es ist so klein, daß ich es in die Tasche stecken kann, es heißt: »Die Nachfolge Christi.« Der Weg zur Schule ist so weit, und »Oben Borgfelde« ist es so einsam, da kann ich bei gutem Wetter jeden Tag einen Abschnitt lesen, das macht mich ruhiger und gibt mir auch Antwort auf allerlei Wünsche, die wohl nicht recht sind. So schlug ich neulich auf, wie ich mich auch so nach jemand sehnte: »Von der Neigung zu geliebten Personen mußt du so frei sein, daß du, so viel dich anbelangt, ohne alle menschliche Verbindung zu sein wünschest. Um so näher kommt der Mensch Gott, je weiter er sich von allem irdischen Troste entfernt.« Ob ich das wohl je lernen werde?

Ich glaube, ich werde mich immer danach sehnen, daß mich jemand recht lieb hat. Ach komm doch bald zurück, Du weißt gar nicht, wie ich mich nach Dir sehne.

Es küßt und umarmt Dich

Deine
Charitas.


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