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Sechsunddreißigstes Kapitel.

Als ich ins Haus eintrat, sprang Rack an mir herauf und war voll Freude, daß ich wieder da. Dann legte er sich demütig nieder, wie wenn er damit anzeigen wollte, daß er wisse, er sei auch mit schuld.

Ich ließ mich bei dem Professor melden, er ließ mir sagen, ich solle im Operationszimmer warten. Ich mußte da lange still bleiben; ich betrachtete die großen Buchstaben an der Wand und auch die zwei Worte, die da stehen, sie heißen: Geduld, Hoffnung. Das wird den Operierten vorgehalten, ob sie es lesen können. Ich las die Worte, ich sah die Buchstaben. Was läßt sich aus diesen Buchstaben alles zusammensetzen! Aber das, was ich zu sagen hatte, war noch nie damit zusammengesetzt.

Endlich klingelte der Professor, daß ich zu ihm eintrete. Er saß am Schreibtische und schrieb. Ohne mich anzusehen, sagte er:

»Setz dich.«

Er schrieb weiter. Endlich wendete er sich und sagte:

»Ich hab's gewußt, daß du wieder kommst, und habe dich nicht suchen lassen. Wir dürfen kein Aufsehen machen, die Ehre des Hauses verlangt das.«

Ich brachte endlich die Worte heraus:

»Ja, ich habe nicht nur an dem Manne, ich habe an Ihrem ganzen Hause gefrevelt. Darf ich nun fragen, wie es dem Herrn Rittmeister geht?«

Der Professor that die Brille ab, hauchte sie an, putzte sie, setzte sie wieder auf und sagte mit einer Stimme, die mir ganz fremd war:

»Jawohl, du darfst fragen. Er hat stark geblutet, ist aber so ziemlich wohlauf.«

»Und er ist blind?«

»Ja.«

»Und bleibt es?«

»Ja.«

Mir war, ich könnte nicht mehr atmen, nicht mehr die Augen aufmachen. Ich faßte mich und erzählte, wie alles geschehen. Der Professor blieb wieder lange still. Ohne mich anzusehen, sagte er endlich:

»Es war unrecht von dir, daß du mir nicht schon lange gesagt hast, was der Rittmeister an euch gethan. Aber pflichtvergessen, grausam bleibt doch, was du thun wolltest. Nun, ich habe das Vertrauen zu dir, daß du meinem Befehl gehorchst.«

»Alles, alles. Was soll ich thun?«

»Zunächst gar nichts. Du gehst in dein Zimmer, verlässest es nicht, bis ich dich rufe. Ich verlasse mich auf dich, daß du ohne mein Wissen nichts unternimmst. Geh auf dein Zimmer, schließe ab und öffne niemand als mir. Oder besser, ich schließe dich ein. Gib mir die Hand, daß du dich ruhig verhältst.«

Ich gab ihm die Hand, und seine sonst so ruhige, feste Hand zitterte.

Er geleitete mich an mein Zimmer und schloß hinter mir ab.

Da saß ich nun, gefangen. Ich öffnete, ich weiß nicht warum, meine Truhe. Da war mein Erspartes, meine Kleider. und da lag der Anhenker.

O Mutter! Mutter! Wie hast du es geahnt!

Ich saß lange auf meiner Truhe, ich war in Gedanken bei den Toten, draußen aus dem Leben.

Es erleichterte mir das Herz, daß ich endlich weinen konnte.

Von der Stadt herauf läuteten die Abendglocken, jetzt kehren die Menschen heim vom sonntäglichen Lustwandeln und freuen sich auf die Ruhe der Nacht und auf die Arbeit am Morgen, und ich, was wird aus mir? Komme ich vor Gericht, und muß ich jahrelang büßen?

Ein Gefangener wendet die Worte, die ihm gesagt wurden, hundertmal herum. Der Professor hat deutlich gesagt, er wolle kein Aufsehen machen, die Ehre des Hauses verlange das – er wird mich nicht dem Gericht überliefern; was aber wird mit mir geschehen? Wie werde ich gestraft? Ich will es geduldig hinnehmen und büßen. –

Warum aber hat der Professor gesagt: »Was du thun wolltest? Wolltest?« Hab' ich's denn nicht gethan? Träume ich denn nur, daß ich's gethan, und hat er dann nicht gesagt, er ist auf immer blind?

Es kratzte an meiner Thür, der gute Rack wollte zu mir, er konnte nicht herein und er winselte jammervoll.

Ja, ich soll mich lebenslang an keinem Menschen und an keinem Tier mehr freuen.

Was wird die Pfälzer Doktorin sagen, wenn sie's hört? Und der Ronymus? Ach, der gute Ronymus, die treue Seele, ihm kränkt's das Herz ab, daß ich so geworden, niemand auf der Welt hat mich so lieb wie er. Und jetzt, mitten in meinem Elend ist mir's aufgegangen, daß ich ihn auch lieb habe, von Herzen lieb; jetzt mußte ich weinen, um ihn und um mich. Ich habe ihm abgewehrt, daß er dem Rittmeister etwas anthue, und jetzt hab' ich's selber gethan und so entsetzlich. Ich habe laut aufschreien müssen vor Jammer.

Ich habe jede Viertelstunde schlagen hören von den Türmen drunten in der Stadt, und einmal machte ich das Fenster auf und meinte, ich müßte mich hinausstürzen, aber ich habe dem Professor versprochen, daß ich nichts thue, ohne es ihm zu sagen; gewiß hat er gemeint, daß ich mich nicht selbst ums Leben bringe.

Und da drunten liegt der Rittmeister und kommt nicht mehr aus der Nacht heraus. Plötzlich wird mir, wie wenn's Tag würde. Ja, so ist's, so muß es werden.

Ich nehme mir vor, daß ich den Rittmeister nie verlasse, so lang er lebt; ich pflege ihn, als wäre er mein Vater, und ich will Gott danken, wenn mir nichts weiter auferlegt wird.

Ich mache das Fenster auf.

Eine Sternschnuppe fliegt am Himmel, wie wenn mir ein Zeichen gegeben wäre, daß mein Opfer angenommen ist. Gott sei Lob und Dank, ich kann noch Gutes thun . . .

Ich lege mich nieder, ich spüre entsetzlichen Hunger, aber im Zimmer ist nichts als Wasser, ich trinke und muß denken, wie ich mich töten wollte. Nein, nein, ich lebe noch und will noch leben und Gutes thun.

Ich bin eingeschlafen und wache erst auf, wie es an mein Zimmer klopft.


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