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Neuntes Kapitel.

Emil ging dahin und wischte sich mit der Hand über das Gesicht; es war ihm, als hätten sich unablösbare Spinnweben drauf gelegt.

»Die Mutter! Die Mutter! Meine Mutter!« sagte er oft vor sich hin, und in diesen Ausruf preßte sich der ganze Jammer der Kindesseele.

Die Mutter war also noch wo anders gewesen, als bei Heister! Wo denn? Warum hat sie nie davon gesprochen? Und was ist das mit der schweren Zeit und mit dem Freiwerden?

»Nein, ich lasse meine Mutter nicht verunehren,« rief der Knabe laut, wie zu feindlichen, unsichtbaren Mächten, die ihm die Mutter kränken und entwürdigen wollten. Er nahm sich vor, die Justizrätin oder besser, die Mutter zu fragen; er verwarf das wieder, und zum erstenmal war ein Kampf in der jungen Seele, die bisher so friedsam erwachsen war.

Zum erstenmal im Leben nahm sich der auf der Schwelle des Jünglingsalters stehende Knabe vor, über etwas zu schweigen, das er weiß und noch bestimmter wissen möchte. Das kann einen festen Charakter bilden, es kann aber auch zu Verstocktheit und Tücke führen.

Als wäre er bereits stundenweit gewandert, so ermüdet war der Knabe, und er legte sich am Bahndamm unter die Akazienhecken.

Tief drunten im Dunkel der Erde gräbt ein Wurm sich unhörbar heran zur Wurzel des Baumes, nagt und saugt, und wenn der Stamm nicht bereits stark genug, so muß er verkümmern.

In der Seele des Kindes wühlte ein Unnennbares, und plötzlich ging es mit Schrecken auf: nie haben Vater und Mutter von ihren Eltern gesprochen, sie haben nicht Brüder, nicht Schwestern. Das ist's! Das ist's! Gewiß haben sie Schweres erlebt und wollen nicht dran rühren.

Der Knabe weinte um die Eltern und um sich selber, er gelobte sich aber, um so besser zu werden, damit die Eltern Freude an ihm erleben.

Da hörte er Stimmen drohen an der Bahn.

»Mich geht's nichts an und dich auch nicht,« sagte Nachbar Süß.

»Aber unterducken müssen sie, unterthänig sein,« rief die Frau heftig. »Er hat Akten! Akten hat er! Ich hab's gehört. Bei unserm Haus hat der Ketterer zum Justizrat gesagt, ob man seine Akten nicht vernichten könne. Da liegt was. Das mußt du herauskriegen.«

»Fällt mir nicht ein. Sie sind beide Ehrenleute, mag gewesen sein, was will.«

»Ich hab's!« rief die Frau, »ich hab's. Wie kommt der Mann dazu, die Gärtnerei so zu verstehen? Es heißt ja immer, er sei bei der Post angestellt gewesen. Ja, so ist's, die Gärtnerei hat er im Zuchthaus gelernt.«

»Schweig still! Ein Ehrenmann ist er, und weiter will ich nichts wissen.«

Die Redenden gingen vorüber; der horchende Knabe wäre gern aufgesprungen, um den Mann zu umarmen und die Frau zu erwürgen.

Also vom Vater ist was? dachte er, Ehrenmann! rief er bitter lächelnd, indem er sich aufrichtete.

Ein heißer Luftstrom zog plötzlich dahin. Von fern aus der öden Wüste kommt er dahergezogen, wer weiß, was er auch hier versengt.

Der Knabe eilte nach dem Dorfe, um die Schwester zu holen.

Er legte die Hand auf die Lippen und dachte in sich hinein: Nie soll ein Wort über euch kommen von allem, was ich gehört habe.

Als Emil mit der Schwester heimkam, mußte ihn Magdalena doch fragen, ob ihm was fehle, er sehe so blaß aus. Emil beruhigte die Mutter und that lustig.

Zunächst war also bestimmt, daß der Knabe in das Seminar eintrete; er war jetzt doppelt gern dazu bereit.

Am Abend, als die Gastfreunde wieder abgereist waren, saß Jakob mit seiner Frau wohlgemut vor dem Hause und rauchte seine Abendpfeife in die Welt hinaus, wo drüben über dem Rhein die Sonne in vollem Purpurglanze hinabging. Er sprach kein Wort und war doch so fröhlich im Nachgefühl des heute Erlebten. Denn guten Freunden das Heimwesen zeigen, das ist doch wie wenn man selber wieder neu daherkäme, und alles Gewohnte bekommt ein neues Ansehen.

Auch Magdalena schwieg, denn über alles Freudige hinüber fühlte sie sich beklommen wegen Emil und sie wollte Jakob nichts davon sagen.

Als es Nacht geworden, und der Vater zum Güterzug gegangen war, rief Magdalena noch ihren Sohn Emil und sagte, er solle sich zu ihr setzen. Sie wollte erforschen, ob nicht ein Funke in seine Seele gefallen wäre, der noch fortbrenne. Emil war lange still, und gegen seine Gewohnheit kramte er nun sein Wissen aus; er kannte viele Sternbilder und erklärte dieselben der Mutter.

Endlich, sich an sie schmiegend und sein Gesicht an ihrer Brust verhüllend, sagte er:

»Mutter, ich will im Seminar recht lernen; aber Mutter, ich bitt' dich, laß mich fragen: Bist du denn nicht immer bei Heisters gewesen? Und was ist denn das mit dem Freiwerden?«

»Ist recht, daß du nichts vor mir verhehlst,« sagte Magdalena, sich gewaltsam fassend. Sie erzählte, daß ihr Vater verunglückt sei und während dessen habe sie um seinetwillen das Haus Heisters verlassen müssen.

Sie sprach zum erstenmal von ihrem verstorbenen Vater und bat Emil, nicht weiter danach zu forschen und zu fragen.

Der Tag war so schön gewesen und Mutter und Sohn hatten doch zuletzt noch schweres Leid zu verwinden und, was vielleicht noch schlimmer ist, anderes zu verschweigen. Emil hatte nicht gefragt, was das mit den Akten des Vaters sei, und Magdalena hatte ihrem Sohne die volle Wahrheit vorenthalten. Da klopften zwei Herzen so nahe und so bang und vermochten es nicht, einander zu befreien und das Unheil abzuwenden.


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