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Die Gräfin Wilding-Wild an Ihre Königliche
Hoheit, die Frau Erbgroßherzogin Marie Luise,
Villa Beausite, St. Moritz Bad.
Pontresina, am 26. August.
Königliche Hoheit muß ich ehrfurchtsvoll bitten, mich heute zu entschuldigen.
Ein tragisches Ereignis, welches in diesem schrecklichen Hochtal sich zutrug, macht es mir unmöglich, heute unter Menschen zu gehen. Selbst meiner Fürstin Gegenwart muß ich daher heute entbehren.
Es wird mich beruhigen, wenn ich zu ihr wenigstens auf dem Papier sprechen darf. Etwas von dem Frieden, der mich erfüllt, so oft ich zu meiner besten Freundin rede, wird dabei über mich kommen …
Ein junger Engländer ist gestern vom Julier abgestürzt!
Das geschieht in diesen mörderischen Alpen so häufig, daß es nichts Außergewöhnliches – daß es etwas durchaus Gewöhnliches ist; nur dann eine »Sensation«, wenn der Absturz unter besonders tragischen Umständen erfolgt. Es ist bei diesem Unglück der Fall.
Der Abgestürzte befand sich seit dem Frühjahr in Pontresina. Er war Künstler: Maler. Wir sahen ihn mit seiner jungen Frau häufig. Er machte äußerst feine Zeichnungen von dem alten Pontresina, die er »leicht illuminierte« – wie Harro es nennt. Es soll das für diese Art von Malerei ein Ausdruck Goethes sein. Ich freute mich stets über den jungen, feinen Menschen, dem seine entzückende Frau nicht von der Seite wich. Das ist nämlich eine ganz eigentümliche Erscheinung: lilienhaft zart, dabei gleichsam durchglüht von einer seelischen Flamme: ihrer leidenschaftlichen Liebe zu ihrem jungen Gatten.
Harro kannte das sympathische Paar. Bei seiner Dreigipfelbesteigung, davon ich so oft zu Eurer Königlichen Hoheit spreche, lernte er es in der Bovalhütte kennen. Sie schienen beneidenswert glücklich zu sein. Das war wohl die Ursache, weshalb sich Harro für sie interessierte. Er beneidete sie gewiß.
Die beiden unternahmen hier mit demselben Führer, der Harro auf den Piz Palü begleitete, viele Partien. Aber von der Julierbesteigung blieb die Frau zurück. Sie war in letzter Zeit beängstigend zart, behauptete zwar, durchaus wohl zu sein, mußte jedoch auf die dringlichen Bitten ihres Mannes diesen seine kühnsten Exkursionen allein machen lassen. Und des jungen Künstlers Gipfelbesteigungen gestalteten sich von Mal zu Mal wagehalsiger und leichtsinniger; von Mal zu Mal rücksichtsloser gegen die Frau, die seit einiger Zeit stets von einer wahren Todesangst um das Leben ihres Mannes erfaßt wurde. Befand sich dieser ohne sie auf einer besonders gefährlichen Tour, so geriet sie in wahnsinnige Aufregung, konnte nicht eine Minute Ruhe finden, irrte umher, ging ihm weit entgegen: allein, auf den gefährlichsten Wegen.
»Du stürzest sicher einmal ab! Dann werde ich verrückt!« soll sie sich immer geäußert haben. Besonders in letzter Zeit.
Nun ist er abgestürzt …
Auch dieses Mal ging seine Frau ihm weit entgegen. Da sah sie den Führer zurückkommen – allein! …
Wie war das Unglück geschehen?
»Beim Abstieg. An einer Scharte. Es ist eine gefährliche Stelle. Ich wollte ihn anseilen. Er weigerte sich. Ich konnte nichts machen. Nur meine Hand wollte er nehmen; nur meine Hand sollte ihn halten! Wir betraten also die Scharte, darauf man kaum Fuß fassen kann. Ich bat: »Lassen Sie sich anseilen, Herr! Denken Sie an Ihre junge Frau, Herr!« Er sagte: »Ich denke an sie. Ich denke immer an sie. Und weil ich immer an sie denke –« Und plötzlich ließ er meine Hand fahren: ein Schwindel hatte ihn plötzlich befallen.«
Seine Frau schrie gräßlich auf:
»Kein Schwindel! Er wollte sterben! Er wollte sterben, weil ich ihn zu sinnlos liebe! Er wollte von meiner sinnlosen Liebe frei sein! Von meiner Liebe frei sein konnte er nur durch seinen Tod! Meine sinnlose Liebe trieb ihn in den Tod!«
Und nicht anders, als bräche bei ihr der Wahnsinn aus, wollte sie zu seiner Leiche …
Der Führer holte aus Silvanaplana Hilfe. Nur mit Todesgefahr konnte man zu dem Abgestürzten gelangen. Die Frau als erste! Es soll grausig gewesen sein, wie sie sich über den Zerschmetterten warf, rot von seinem Blut, als hätte sie ihn in Wahrheit getötet; grausig, wie man sie gewaltsam von dem Leichnam losreißen mußte, wie sie beständig schrie:
»Ich trieb Dich in den Tod! In den Tod trieb Dich meine sinnlose Liebe! Du wolltest frei von meiner Liebe sein! Jetzt bist Du frei davon! Für alle Ewigkeit frei! Hörst Du, hörst Du? Frei für alle Ewigkeit bist Du von mir!«
Der Führer war vorhin bei uns und erzählte es uns.
Er ist ein gebrochener Mann …
Nach einer Stunde.
Der Abgestürzte liegt in dem Kirchlein Santa Maria aufgebahrt. Die unselige Frau ist bei ihm, weicht nicht von ihm. Wie durch ein Wunder ist sein Gesicht nicht entstellt. Er soll wunderschön aussehen: wunderschön friedlich. Lächeln soll er! Lächeln, weil er für alle Ewigkeit frei von ihr ist.
Ganz Pontresina strömt nach Santa Maria, um den jungen Abgestürzten zu sehen, der so verklärt lächelt.
Sie soll gar nicht seine Frau gewesen sein.
Aber – das ist ja doch so gleichgültig.