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IV.

An mich selbst.

 

Pontresina im Engadin,
Haus Piedermann-Barblan.

Die Frühlingswiesen im Engadin! Denn hier ist erst Frühling; und von den Tausenden, die da kommen werden, sind wir die ersten: ein junges Paar auf der Hochzeitsreise! Eine Heerschar junger Paare auf der Hochzeitsreise wird dieses berühmte Hochtal überschwemmen. Wir sind von vielen nur eines: von dem Meer bräutlicher Seligkeit nur ein Tropfen.

Ihr Frühlingswiesen im Engadin! Fast gefühlvoll könntet ihr mich machen, ihr gelben, roten, blauen und violetten Blütenströme, die ihr von den weißen Firnen über die grauen Klippen niederstürzt, durch die smaragdgrünen Fluren rinnt, die rotstämmigen Lärchen und dunkelwipfligen Arven umwogt, die häßlichen Gletschermoränen mit bunter Heiterkeit säumt.

Das letzte Mal sah ich euch, da ich noch ein Knabe war – sah euch seitdem nicht wieder. Da ich noch ein Knabe war, lag die Welt vor mir, bunt von Blüten, wie die wilden Gärten des Engadins. Sie welkten, verbrannten in Daseinsgluten, wurden von Lebensstürmen geknickt, vom Schicksal zertreten. Aber ihr, ihr Frühlingswiesen im Engadin, behieltet in meiner Seele unsterbliches Blühen. Um euch wiederzusehen, kam ich wieder als junger, glücklicher Ehemann auf meiner Hochzeitsreise. Also kam ich zu zweit.

Als »glücklicher …« Wie oft in meinem, nun bald volle fünfunddreißig Jahre währenden Leben war ich wohl »glücklich«?

Glücklich nur für Tage, Stunden, Augenblicke?

Immerhin war ich's einmal.

War es hier, in diesem nämlichen Engadin, diesem nämlichen Pontresina, diesem nämlichen, altehrwürdigen Hause Piedermann-Barblan.

Mit meiner Mutter war ich hier. Mit meiner Mutter, die niemals gütig gegen mich war, und die ich – Aber davon kann ich nicht sprechen. Auch nicht zu mir selbst. Wir waren also hier in Pontresina, im Hause Piedermann-Barblan; und ich machte damals als fünfzehnjähriger Knabe eine Hochtour auf den Piz Palü. Allerdings nur bis auf den ersten seiner berühmten drei Gipfel, von dem ich denn auch ungebrochenen Halses glücklich wieder herunterkam.

Ich machte das für meine ungeübten Knabenkräfte unsinnige Unternehmen lediglich deshalb, weil mich meine Mutter davon nicht zurückhielt – was sie mit einem Wort der Sorge, einem angstvollen Blick vermocht hätte. Ich wollte sie zwingen, mich zu bitten: »Gehe nicht! Bleibe! Es ist gefährlich.« Sie blieb stumm, und ich ging. Ich ging mit brechendem Sohnesherzen. Als ich glücklich wiederkehrte, weinte meine Mutter.

Das war der eine Augenblick des Glücks in meinem ganzen Leben.

Und sonst wäre ich nie wieder glücklich gewesen? In meinem doch bereits recht lange währenden Dasein eines sogenannten Lebenskünstlers nie wieder glücklich?

Vielleicht war ich es noch ein zweites Mal?

Das war damals, als ich leidenschaftlich geliebt wurde.

Leidenschaftlich geliebt von einer stolzen Seele, die sich mir ganz ergab, die ich ganz zu eigen besaß.

Damals wußte ich nicht, daß solche Liebe möglich sei. Ich weiß es jetzt. Und ich weiß jetzt, daß eine zweite solche Liebe für mich nicht mehr möglich ist – nie mehr.

Damals war ich also möglicherweise ein zweites Mal ein glücklicher Mensch. Möglicherweise – ich bin mir dessen nämlich nicht klar bewußt – war ich es damals eine volle Woche lang. Die leidenschaftliche Liebe jener stolzen, großen Frauenseele zu mir währte Jahre und Jahre. Sie währt heute noch, wenn – Edda Dafis heute noch lebt.

Und jetzt?

Seit noch nicht vollen zwei Wochen bin ich verheiratet, bin ich der glückliche Gatte einer der liebreizendsten, entzückendsten jungen Damen des Weltalls.

Die Gräfin Wilding-Wild glänzte als Stern erster Größe in der Umgebung Ihrer Königlichen Hoheit, der Frau Erbgroßherzogin. Und der Stern sank herab. An dem Himmel eines Hofes erlosch er meinetwillen: des nicht mehr jugendlichen Mannes willen, der als moderner Dekadent, als kosmopolitischer Nichtstuer, als echter Aesthet des zwanzigsten Jahrhunderts die Menge der überflüssigen Mitglieder der menschlichen Gesellschaft um eine Zahl vermehrt. Und der verwöhnte Liebling eines glanzvollen Fürstenhofes nahm ihn zum Ehegemahl.

Müßte ich daher nicht jetzt ein drittes Mal in meinem Leben glücklich sein? Geradezu glückselig!

Ich weiß nicht: bin ich es oder bin ich es nicht? Alles, was ich weiß, ist, daß mich alle Welt um mein Glück beneidet; denn meine kleine Achime ist ein wahrhaft feenhaftes Frauenwesen, würdig, ihr aschblondes Köpfchen mit einer Krone zu schmücken. Demgemäß tituliere ich meine Gräfin: »Hoheit«, oder »Madame«, oder »meine Allergnädigste«. Jedenfalls ist sie die mir staatlich und kirchlich angetraute Königin meines Herzens, besitzt also das Recht, von mir mit »Majestät« angeredet zu werden. Und – auch jedenfalls! – müßte ich jetzt ein drittes Mal in meinem Leben ohne alle Frage glücklich, geradezu glückselig sein.

Weshalb führte ich meine binsenschlanke, elfenzarte, pariserisch elegante Frau Königin auf unserer Hochzeitsreise weder nach Ostende, noch nach Baden-Baden? Weshalb nicht – da wir nun einmal im Engadin sind – wenigstens nach dem fashionablen St. Moritz? Weshalb schleppte ich das reizende Opfer meiner Selbstsucht nach dem herzlich langweiligen Pontresina, welches allerdings für höchst »distinguiert« gilt? Und nicht einmal, daß ich für meine Frau Königin ein Apartement in einem ersten Hotel nahm, sondern ich mietete für uns dieses Alt-Engadiner Bürgerhaus Piedermann-Barblan.

Ist es möglich, daß ich einer Knabenerinnerung willen: weil ich hier, an dem nämlichen Ort, in dem nämlichen Hause einen Augenblick des Glücks genoß – ist es möglich, sage ich, daß ich deshalb mit meiner jungen Frau hierherkam? Also aus Sentimentalität! Wie käme ich, Verneiner jeder Empfindung, zu solch einer empfindsamen Regung?

Jedenfalls sitze ich heute, nach vollen zwanzig Jahren, wieder in der Casa Barblan, in meiner weißen Zelle, an meinem Schreibtisch aus gelbrötlichem Lärchenholz, vor meinem »neugierigen Fenster«, von dem aus ich die grau-grünen Alpenketten des Albula und Julier, die hellen Bergwiesen, den dunklen Lärchenwald, das weiß-blau angestrichene Hotel Roseg mit seiner bräunlichen Dependance, die weiße, staubige Landstraße und das ganze fahrende, promenierende, gipfelersteigende Pontresina überblicke. Ich sitze hier und schreibe an mich selbst, als wäre ich nicht der glückliche Gatte einer entzückenden Frau, von der ich nicht weiß, ob ich sie eigentlich liebe oder nicht: von der ich nicht einmal sicher bin, ob sie mich liebt.

Weshalb ich an mich selbst schreibe? … Daran trägt kein Geringerer die Schuld als der Piz Palü.

Wer ist dieser Mächtige?

Der Piz Palü ist am Hofe Seiner Majestät des Königs Bernina einer der nächsten am Thron. Wie der leibhaftige »weiße Tod« steigt er aus dem graugrünen Gletschermeer mit dreizackigem, schimmerndem Stirnreif himmelhoch auf. Die blinkenden Zinken verbindet ein Silberstreifen wie eine Messerschneide so scharf. Dort oben hinzuschreiten, müßte – so erschien es mir schon als Knabe – kein irdisches Wandeln sein, sondern ein Gleiten durch die Lüfte, ein Schweben zwischen Himmel und Erde, ein Sichloslösen von allem Schweren, Staubigen, Häßlichen, ein – Erlösen.

Und plötzlich packte mich solche Sehnsucht, den leuchtenden Pfad zu wandeln. Es war etwas Unwiderstehliches, Magisches, geradezu Mystisches. Auch die Knabenerinnerung mag schuld daran sein, daß ich mich getrieben fühlte, auf jenem Silbersteg zwischen Himmel und Erde zu schreiten, von Zacke zu Zacke. Damals gelangte ich nur bis auf den ersten Gipfel. Mein Führer weigerte sich, mit dem Schuljungen die »Dreigipfeltour« zu unternehmen, die nur der geübte Hochtourist, der gänzlich Schwindelfreie wagen darf. Ich wollte sie damals machen, damit meine Mutter weinte, wenn man ihr den abgestürzten Sohn ins Haus zurückbrachte.

Auch heute bin ich in der edlen Kunst des Bergsteigens ein elender Laie. Aber ich bin heute schwindelfrei. Gelassenen Blicks, ruhigen Herzschlags kann ich in Abgründe schauen, in dunkle, unergründliche Schlünde, in bodenlose Finsternisse – wenigstens in solche des Menschenlebens und Menschenherzens. Wer das kann, darf ungestraft über Alpengipfel hinschreiten, umwittert von Grabeshauch. Also ging ich zu meiner Gattin, um mir Urlaub zu erbitten.

Meine Majestät bewohnt in diesem Palast ihre eigenen Gemächer, die den meinen gegenüber liegen, sie ließ sich gerade von Höchstdero Kammerfrau ankleiden. Ich mußte daher im Salon antichambrieren. Es sieht darin etwas ländlich aus, fast klösterlich. An den weiß getünchten Wänden dunkeln etliche alte Stiche nach ehemals berühmten Originalen: Meister Niedels »Mädchen von Albano« und ähnliche akademische Schönheiten; den Fußboden aus Lärchenholz schmückt ein kleiner blumiger Teppich, wie ihn unsere Großmütter vor dem Kanapee hatten; unter dem Mobiliar – es ist gleichfalls aus dem Holz des Baumes des Engadins verfertigt – befindet sich eine Chaiselongue, die für den ausgestreckten Leib eines Normalmenschen viel zu kurz, für den Feenkörper meiner Gattin jedoch gerade recht ist. Ueber meinem Haupte glänzt in schneeiger Weiße edles, mittelalterliches Kreuzgewölbe, und die Aussicht aus den beiden Fenstern ist ein Landschaftsbild größten Stils: aus dem einen Fenster Albula und Julier, aus dem anderen das wildschöne Rosegtal: Gletscher, Alpenweiden, Hochwald, ein durch bunte Matten sich windender grauweißer Gletscherbach, dessen zum Brausen anschwellendes Rauschen zu diesem Drama von Fels und Firn die Musik ist.

Auf die holde Herrin des hellen Zimmers wartend und darin Umschau haltend, werde ich wider Willen gedankenvoll. Auf dem Schreibtisch liegt die perlgraue Ledermappe mit silbergrauer Chiffre und Krone, steht im Silberrahmen die Photographie Ihrer Königlichen Hoheit, der Frau Erbgroßherzogin, steht die Photographie eines schlanken, sogenannten schönen Mannes. Der interessante, mit tadelloser Eleganz gekleidete Herr hat ein schmales – jedenfalls blasses – Gesicht und dunkle, schwermütige Augen. Es sind Augen, die zu dem übrigen Menschen nicht passen; denn es sind die Augen eines Träumers, eines tief einsamen Menschen.

Die Photographie betrachtend, fällt mir nicht gleich ein, was der elegante Herr auf diesem Schreibtisch zu tun hat. Er besitzt jedoch ein heiliges Recht, neben dem Porträt Ihrer Königlichen Hoheit zu stehen: ist es doch das Bild des jungen, glücklichen Gatten der jungen, glücklichen Frau …

Ich sitze auf dem mit rotem Wollenrips überzogenen Lehnsessel an dem runden Tisch, darauf in Vasen und Schalen ein kleiner Alpgarten blüht: purpurbraune Brünellen, goldgelbe Arniken, azurblaue Gentianen, feuerfarbene Berglilien. Meine Gattin erwartend, starre ich auf den Schreibtisch, starre auf mein eigenes Antlitz in dem bronzenen Empirerahmen und stelle Betrachtungen darüber an, daß auch auf meinem Schreibtisch ein Bildnis steht: dasjenige des entzückendsten Frauenwesens unter der Sonne; stelle Betrachtungen darüber an, daß ich – solche Betrachtungen anstelle.

Rauschen eines Seidengewandes auf dem Gange! Dieses wohlbekannte, leis knisternde, geheimnisvolle Rauschen, bei dem mein Herz beginnen müßte, heftig zu schlagen. Die Tür wird geöffnet, und das Original der Photographie auf meinem Schreibtisch huscht herein, in gelbliche Spitzen über mattrosa Crêpe de Chine gehüllt, auf dem Köpfchen ein sinnverwirrender Glanz von Flechten und Locken – wenigstens hätten sich meine Sinne bei dem Anblick verwirren müssen. Mit dem wohlklingendsten Stimmchen von der Welt, süß wie Lerchengesang, beginnt die Reizende zu plaudern:

»Fandest Du es langweilig, zu warten?«

»Ich wartete ja doch auf Dich.«

»Wie höflich Du bist!«

»Wie entzückend Du aussiehst!«

»Du findest? … Was unternehmen wir heute?«

»Deswegen ließ ich mich bei Hoheit melden.«

»O, deswegen …«

»Ich möchte nämlich auf den Piz Palü.«

»Welch komischer Name!«

»In dem Almanach der großen Welt der Alpen befindet sich der Name unter denjenigen der allerhöchsten Herrschaften.«

»Du willst hinauf?«

»Wenn es Dir recht ist?«

»Weshalb sollte es mir nicht recht sein?«

»Weil die Besteigung des Piz Palü eine Hochtour ist, und weil ich leider kein Hochtourist bin.«

»O, wirklich?«

»Abgesehen davon, mußt Du einige Male allein speisen.«

»Also wird es einige Male recht langweilig sein.«

»Dann gebe ich meine Hochtour auf.«

»Weil ich mich ohne Dich etwas langweilen werde?«

»Etwas mehr als gewöhnlich.«

»Findest Du? … Uebrigens habe ich zu schreiben.«

»An Deine hohe Frau?«

»Also geniere Dich nicht und pflücke mir einen Strauß Edelweiß.«

»Auf dem Piz Palü?«

— — — — —

Bis zu den Berninahäusern begleitete mich Achime, die überaus huldvoll zu meinem Führer, »Herrn« Bossi, war. Der Mann aus Pontresina saß in der landesüblichen Ausrüstung, mit Stricken und Eispickel versehen, neben dem Kutscher und wendete sich schwerfällig zurück, um die Fragen meiner Gattin zu beantworten. Es waren Fragen, wie sie Ihre Königliche Hoheit, die Frau Erbgroßherzogin, stellen würde, wenn Höchstdieselbe sich populär machen wollte: ob Herr Bossi verheiratet sei, ob Herr Bossi auch Familie habe?

Ja, Herr Bossi war junger, glücklicher Ehemann. Auch bereits junger, glücklicher Vater!

Achime zeigte sich sehr interessiert; das Aufleuchten in den ernsthaften Augen des Engadiners bemerkte sie jedoch nicht. In ihrem englischen Reisekostüm, mit dem Pariser Hut sah sie übrigens wonnig aus. Selbst Herr Bossi schien dieser Ansicht zu sein; und der Blick, mit welchem die perfekte Kammerfrau, die für die einsame Rückkehr mitgenommen worden war, mein gleichgültiges Antlitz streifte, lautete in der Sprache der Leute, für die es weder Held noch Heldin gibt: »Und Du bist der Gatte dieses Modells allen eleganten Liebreizes, dessen vollen Wert nur ich zu schätzen weiß!«

Jetzt konnte ich meiner Gebieterin den Piz Palü zeigen. Ueber dem blassen Gefilde des Morteratschgletschers stieg er auf, sonnenüberflutet in den wolkenlosen Aether hinein. Der ganze Berg glänzte und gleißte. Er ist der schönste seines hohen Geschlechts, schöner als der Monarch Bernina, dessen Haupt von dem anbrechenden Tag den ersten, von der scheidenden Sonne den letzten Strahl empfängt: die Königssalbung.

Ich zeigte meiner lieblichen Lebensgefährtin die lange, schimmernde Linie des die drei Gipfel verbindenden Grates, den ich morgen in heiliger Frühe wandeln würde – was nur der Schwindelfreie wagen darf, zu tun.

»Dort oben wirst Du gehen? Wie hübsch!«

»Nicht wahr? Von hier unten gesehen, nimmt es sich famos aus. Eine Eispromenade zwischen Himmel und Erde, gerade breit genug, um darauf Fuß fassen zu können. Statt des Edelweißes, das in dem edeln Weiß dort oben nicht gedeiht, könnte ich für Dich einen Strauß Himmelsblau herunterholen. Eigentlich sollte ich in Lackschuhen, in Frack und weißer Weste hinaufspazieren, wie zu einer Audienz bei Deinen allerhöchsten Herrschaften.«

Sie lachte. Wir lachten beide. Es war eine vergnügliche Fahrt, die Berninastraße hinauf, höher und höher, durch eine Landschaft, die immer wilder, öder, erhabener ward. Und in dieser Alpenwelt von tragischer Größe ein wahrer Korso den Paß hinunter: Equipage auf Equipage mit Insassen, die mein holdes Gemahl zum Entsetzen undistinguiert fand. Aber – die Wagen hatten Gummiräder! Rechts und links am Wege glühte das Gestein von Alpenrosen, blaute es von Vergißmeinnicht. Allmählich hörte das Blühen auf. Nichts als Fels und Fels, Schneefeld und Schneefeld. Bei dem großen Schweigen vernahmen wir das Pfeifen der Murmeltiere, und ein rostbrauner Falk kreiste uns zu Häupten. Es war eine Welt, viel zu groß für unsere winzigen Seelen.

Vorüber an den grauen Berninahöfen bis zu der Stelle, wo es rechts zur Diavolezza emporführt. Das war mein Weg. Also verabschiedete ich mich. Herr Bossi gab meiner Majestät mir nichts dir nichts die braune Rechte, die für meinen unsicheren Fuß die eisigen Stufen einhauen und meinen sterblichen Leib am straffen Seil über Abgründen halten sollte.

»Du siehst prachtvoll aus! Bitte, bleibe einen Moment ruhig. Auch Herr Bossi. Wie kühn Du Deinen Eispickel hältst – wie eine Streitaxt! Prinzessin Alice würde Dich bewundern.«

Und sie nahm ihren »Kodak« … Dann von neuem ein Abschiednehmen, Hutschwenken und Handwinken. Noch eine ganze Weile Schwenken und Winken; denn von meinem Pfad aus sah ich noch lange den Wagen, wie er den Paß vollends hinauffuhr: Achime wollte die beiden geschwisterlichen Seen schauen, von denen der eine tiefdunkelblau, der andere lichtgrün ist.

Ich hatte ihr von den Berninaseen erzählt. Sie waren auch eine Erinnerung aus meiner Knabenzeit.

Daß ich zu der fremden Frau von diesen Dingen sprechen konnte!

— — — — —

Denn sie ist für mich eine Fremde, wie ich für sie ein Fremder bin. Wir wissen nichts voneinander, kennen einander kaum. Und sind doch Mann und Frau. Das heißt: wir wurden staatlich und kirchlich miteinander getraut. Sogar in der Hofkirche! Mann und Frau und trotzdem einander fremd …

Den Zickzackpfad durch das Felsgetrümmer zur Diavolezzahütte aufwärts steigend, gellte mir dieser Satz beständig durch die Seele. Hätte ich meinen vortrefflichen »Zeiß« vor die Augen gehalten, so würde ich an Achimes Hut die Farbe der Blumen erkannt haben. Aber ich gönnte mir für diese Schau keine Zeit. Meine jagenden Gedanken trieben mich so rasch vorwärts, daß ich sogar meinen Führer, Herrn Bossi, den glücklichen Gatten einer hübschen, jungen Frau und stolzen Vater eines Prachtjungen, hinter mir ließ.

Trotzdem einander fremd …

Das hindert mich jedoch nicht, auf meine liebreizende Gemahlin stolz zu sein: stolz auf ihre Schönheit, ihre Eleganz, ihr perfektes Französisch; stolz auf ihre niedlichen Aquarelle und darauf, daß sie am Hofe der Frau Erbgroßherzogin ein Stern erster Größe war. In dem Prospekt unseres Ehelebens werden ihre Toiletten einen wichtigen Paragraphen bilden; wir werden viel reisen: nach Paris und Rom. In Paris und Rom wird meiner Majestät gehuldigt werden, und ich werde dieser Zeremonie voller Entzücken zuschauen. Jeden Sommer werden wir auf Schloß Augustental Gäste der Frau Erbgroßherzogin sein, was ehekontraktlich festgemacht wurde. In unserem äußerst distinguierten, leider etwas stillen home in der guten alten Stadt München werden wir in einer Weise Haus machen, daß die lieben Münchener sagen werden: »Die Wilding-Wilds sind scharmante Leute, denn man speist ausgezeichnet bei ihnen!«

Trotzdem einander fremd …

Und wir werden einander fremd bleiben auf Lebenszeit.

— — — — —

Ich überschritt das Schneefeld zwischen der Diavolezza und dem Mont Pers, ohne mich nach dem Führer umzuschauen, vorwärtsgetrieben durch die wilde Flucht meiner Gedanken zurück in die Vergangenheit. Unwillkürlich blickte ich auf die in der Nachmittagssonne flimmernde Schneefläche, als müßte ich daselbst die Spur noch finden, die mein schwacher Knabenfuß in das funkelnde Weiß trat.

Verwischt und verweht!

Höher hinauf!

»Hoch über allem« – lautete das aus dunkeln Tiefen zu strahlendem Gipfel emporführende Wort, welches meine Devise sein sollte: ein Königswort für einen Königsmenschen.

Habe ich das stolze Motto meines Lebens erfüllt?

Aus dunklen Tiefen zu strahlenden Gipfeln aufstrebend, mutterseelenallein in der gewaltigen Einsamkeit von Fels und Firn, befragte ich mich, erforschte ich mich.

— — — — —

Ich lebte, um zu leben. Das schien mir Lebenszweck genug, schien mir des Lebens wert zu sein. Das allein!

Wie lebte ich?

Beständig jagend, suchend; bisweilen findend; immerfort hinwerfend. Und von neuem jagend, suchend; bisweilen findend; immerfort von neuem hinwerfend.

Ich hielt Schönheit für Höhe. Da ich hoch über allem zu stehen begehrte, wollte ich in höchster Schönheit leben. Von all' den vielen großen Worten, die der moderne Mensch sich erfand, machte ich dieses Wort mir zu eigen. Es sollte mein Lebenswort sein: »In Schönheit leben!«

Und ich begann meine Existenz als Lebenskünstler mit den Aeußerlichkeiten des Lebens. Folge davon war, daß die Form mir genügte. Ich wollte ausschließlich die Form, wollte nichts anderes als die Form. Und zwar mußte es die schönste Form sein. Das Schönste war für mich gleichbedeutend mit dem Edelsten, also gleichbedeutend mit dem Höchsten.

Schon als Knabe liebte ich die Schönheit fanatisch. Es ist das Einzige, was ich jemals liebte und jemals lieben werde. Ich kann nichts anderes lieben als die Schönheit – außer meiner verstorbenen Mutter nichts anderes.

Sie kannte mich. Und weil sie mich kannte, wollte sie mir einen würdigen Lebensinhalt geben: Zweckmäßigkeit, Nützlichkeit, Arbeit. Arbeit als das Edelste und Höchste, also als das Schönste. Aber ich hörte das Evangelium nicht. Ueber meiner Liebe zur formvollendeten Schönheit verlor ich die Liebe meiner Mutter. Und das schon als Knabe. Es war ein Verlust, durch den ich mich selbst verlor: das Beste in meinem Menschen, des Menschen Göttliches. Deshalb kann ich von meiner Mutter nicht reden. Nicht einmal zu mir selbst.

An mir selbst lernte ich die Schönheit zuerst kennen. Es ist dies ein Bekenntnis, welches ich heute mir selbst ablegen muß. Die Scham darüber sei meine Buße.

Schon als Knabe erkannte ich das große Geschenk, welches gütige Götter mir gaben; und bevor ich noch wußte, was ein Kunstwerk sei, empfand ich mich selbst als solches. Diese Entdeckung machte mich übrigens nicht eitel. Ich fand es durchaus natürlich, daß Schmeichler, falsche Freunde und geschmacklose Menschen mir ins Gesicht sagten: ich sei schön. Meine Schönheit wie ein Kunstwerk der Schöpfung zu pflegen, kam mir durchaus natürlich vor.

Ich liebte mich selbst, weil ich in mir die Jünglingsschönheit selbst verkörpert sah. Mein Bekenntnis als Mann sei meine Buße – ich muß es noch einmal sagen! Kein Stoff erschien mir edel genug, um mich zu kleiden; alles, was mich umgab, sollte zu meinem Bilde: zu dem Bilde meines äußeren Menschen passen. Es sollte dieses umrahmen, diesem gleich sein. Ich schwelgte in Formen und Farben. Außer vollkommener menschlicher Schönheit waren Blumen und Wolken für mich das Schönste. Gewissermaßen die Offenbarung des Schönen der Schöpfung.

Ich litt bei allem, was unschön war. Das Unschöne, davon die Welt voll ist, machte mich frühzeitig krankhaft sensitiv. Es machte mich frühzeitig unglücklich.

Bereits in meinen jungen Jahren begann ich das Leben eines Müßiggängers. Ich selbst hielt mich jedoch für ungemein beschäftigt, mein eigenes Ich zum Lebensinhalt machend. Ich war von Natur ein Ichmensch, also von Natur ein moderner Mensch. Ich war der Modernsten einer; denn ich war die verkörperte Selbstsucht.

In Kunst und Literatur wirkte auf mich nur das, was mir ähnlich war. Auf beiden Gebieten fand ich Wahlverwandtschaften genug. Reich und unabhängig wie ich war, folgte ich lediglich meinen selbstischen Zielen, rücksichtslos gegen alles, was mir in meiner Entwickelung als »Lebenskünstler« hemmend in den Weg trat. Nur mir selbst wollte ich angehören; nur mich selbst wollte ich empfinden. Das Einzige, dem ich Gewalt über mich einräumte, war meine Liebe zur Schönheit.

Ich begann mein Leben zu komponieren; denn es sollte auch äußerlich ein Kunstwerk sein. In meiner Wohnung war von mir jeder Gegenstand eigens für solchen Zweck erdacht worden. Und das bis auf den Teller, von dem ich speiste; bis auf das Glas, aus dem ich trank. In meiner Umgebung befand sich keine Form, keine Farbe, die nicht einen Teil meines Wesens ausgedrückt hätte. Und das nannte ich armer Tor: »In Schönheit leben!«

Alles, was ich unternahm, tat ich, unbekümmert um jeden anderen, lediglich meiner Selbstsucht zur Liebe. Um mich jedoch kümmerten sich alle. Ich wurde Mode. Man erzählte sich, welche Bilder in meinen Zimmern hingen, welche Krawatte ich trug und wie ich meine Geliebte kleidete.

Auch in den Frauen liebte ich lediglich mich selbst. Meine Geliebten mußten in dem Stil meiner Möbel, meiner Stoffe, meiner Services, meiner Blumen, meiner Stimmung sein. Meine Stimmung … Das war ein großes Kapitel in dem Buche meines Lebens, welches so viele leere Seiten hat.

Dann lernte ich die Leidenschaft kennen: die wahre, große, göttliche. Und dann war ich allem Anschein nach ein zweites Mal in meinem Leben glücklich.

Durch eine volle Woche.

— — — — —

Ich wußte, daß es die Leidenschaft gab, wollte sie jedoch nicht kennen lernen: sie zerstörte meine Schönheitslinie. Schönheit ist Harmonie; und Leidenschaft löst alle Melodien in Mißton auf. Also galt mir Leidenschaft für den Superlativ des von mir so grimmig gehaßten Unschönen.

So oft ich von jener dunklen Gewalt hörte, die sich die Menschen untertan macht, wandte ich mich unwillig ab. Meine Natur stieß die Leidenschaft als etwas mir Unnatürliches von sich, empörte sich dagegen, schaffte für mich die Leidenschaft aus der Welt, verneinte sie einfach.

Leidenschaftlich geliebt zu werden, erschien mir als Unglück: ließ ich mich doch von einer Frau nicht küssen aus Furcht, der Kuß der Frau könnte der Atem der Leidenschaft sein. Ich küßte die Frau, die mir gefiel. Aber ich küßte sie ohne Leidenschaft.

Wenn man mir erzählte: »Der und der liebt die und die mit solcher Leidenschaft, daß er dadurch zugrunde gerichtet wird« – so verstand ich das nicht. Ich verachtete es. Es war mir widerwärtig. Oder, wenn ich vernahm: »Die und die verließ aus Leidenschaft für den und den Gatten und Kinder, brachte sich schließlich aus unglücklicher Liebe um das Leben« – so fühlte ich gegen diese Frau dieselbe feindselige Empfindung wie gegen etwas Unnatürliches, Absurdes, Aberwitziges.

Ein Schönheitsfanatiker darf weder leidenschaftlich geliebt werden, noch darf der Mann selbst leidenschaftlich lieben.

Plötzlich trat Edda Dafis in mein leidenschaftsloses, selbstherrliches, unnützes Leben.

— — — — —

Wer Edda Dafis war? Die verkörperte Leidenschaft. Wohl verstanden: jene Leidenschaft, die aus Abgründen zu strahlenden Gipfeln emporzieht, daß der Mensch zwischen Himmel und Erde auf leuchtendem Pfade dahinschreitet, hoch über allem.

Das wußte ich damals nicht. Ich wußte es nicht, solange Edda Dafis mein war: solange sie mich zu ihrer hellen Höhe emporzog. Ich weiß es heute, wo ich sie verloren habe; heute, wo mir unbekannt ist, ob sie überhaupt noch lebt.

Wer sie sonst war?

Eine freie, stolze, machtvolle Natur: machtvoll in jeder Empfindung, jedem Gedanken. Hätte sie gewollt, so hätte sie eine große Künstlerin sein können. Sie wollte jedoch nur sie selbst sein.

Wenn ich in jedem Blutstropfen der moderne Mann bin, so war sie in keinem Nerv die moderne Frau.

Sie verstand gar nicht, was diese in unserer Zeit bedeutet. Sie war eben die Frau.

Wie ich Edda Dafis kennen lernte?

Durch einen brutalen Zufall. Er sollte zum Schicksal, zum Verhängnis werden. Wenigstens für sie. Ich glaube, sie hatte vor mir bereits geliebt. Es war so gleichgültig! Als sie mich kennen lernte, war es, als wäre ich der einzige Mensch, der für sie von Anbeginn auf Erden gewesen war. Zugleich der einzige Mensch, der für sie bis zu ihrem letzten Atemzug sein würde. Ich wurde für sie zur Menschheit. Aber ich zerstörte die Welt, die ich für sie schuf. Nachdem ich sie verließ, – und wie verließ ich sie! – lebte sie auf einer entvölkerten, einer entgötterten Erde weiter. Es muß für die Verlassene eine grauenvolle Einsamkeit gewesen sein.

Oft richtete ich an mich selbst die Frage: »Wie war es nur möglich, daß Edda Dafis Dich lieben konnte?«

Es gab Zeiten, wo ich nichts anderes zu denken vermochte, als diese Frage. Da ich sie mir jedoch nicht beantworten konnte, hörte ich schließlich auf zu fragen. Dann kam eine Zeit, wo ich vergaß, daß ich mir diese Frage jemals stellte; eine Zeit, wo ich vergaß – mich kaum noch darauf besann – an mir selber erlebt zu haben, was Leidenschaft ist und von Edda Dafis geliebt worden zu sein.

So ist das Leben … Oder muß ich sagen: So ist der Mensch – so bin ich?

— — — — —

Als Edda Dafis mich liebte, wurde mein ganzes Leben verändert. Ich glaubte damals, auch mein ganzer Mensch. Aber es war nur die Oberfläche meines Menschen, die eine Wandlung erlitt. Ich selbst blieb – eben ich selbst. Und ich blieb es bis zu dieser Stunde, in der ich mich als junger glücklicher Gatte einer jungen reizenden Frau auf der Hochzeitsreise befinde.

Wie gestaltete sich mein Leben, als ich von Edda Dafis leidenschaftlich geliebt wurde? Aus dumpfer Tiefe von ihr emporgezogen, wandelte ich auf leuchtenden Höhen, auf glanzvollen Alpengipfeln, in Sonnennähe, in Nähe des Himmels.

Der Sturm der Leidenschaft umtoste mich. Es war ein Aufruhr, bei dem meine liebe, moderne Seele in allen ihren Tiefen – in allen ihren Oberflächen – erbebte. Schauer erfaßten mich. Ich fühlte die Nähe des Göttlichen, wurde davon berührt, von seinem Hauche beseelt: ich lebte! Während einer vollen Woche empfand ich mein Leben. Nach dieser einen Woche ertrug mein armseliger Menschengeist das gewaltige Element nicht mehr.

Von glanzvollen Alpengipfeln sank ich wieder zu dumpfen, dunklen Tiefen herab.

— — — — —

Wir kämpften miteinander: Edda Dafis und ich – die gewaltige Leidenschaft einer großen Frauennatur mit der erbärmlichen Eigenliebe des Mannes, der nur sich selbst lieben wollte, nur sich selbst lieben konnte. Der Kampf wurde von uns beiden mit allen Kräften geführt; denn jeder von uns kämpfte um sein Leben, um Sein und Nichtsein, welches für sie der Tod meiner Liebe war, (denn sie glaubte an meine Liebe!) und sie fühlte die ihre als solche göttliche Gewalt, daß sie wähnte, damit Tote erwecken zu können. Also auch meine gestorbene Liebe.

Ich machte damals eine seltsame Erfahrung: der eiskalte, felsenharte, brutale Egoismus des Mannes erwies sich machtvoller als die Liebe der Frau. Wohl verstanden: als die Liebe der edlen Frau. Eddas Seele wurde gebrochen durch meine schnöde Selbstsucht, von welcher ich, der ich doch ausschließlich in Schönheit leben wollte, damals nicht wußte, daß sie von des Lebens Häßlichkeiten das Allerhäßlichste sei. Selbstlinge meines Schlages wissen sehr genau, was sie mit der Seele einer liebenden Frau beginnen können: sie können die Seele der liebenden Frau zerstören, ohne daß in der ihren ein Atom verletzt wird.

Bis Eddas Seele zermalmt wurde, dauerte es lange. Aber – sie wurde zermalmt! Aus dem Zweikampf, bei dem ihr Lebensblut floh, ging ich unbeschadet als Sieger hervor.

Ich befreite mich von der Leidenschaft einer stolzen und großen Frauenseele, erlöste mich von Edda Dafis und tat einen tiefen Atemzug: »Gott sei Dank – das wäre vorbei!«

Heute erkenne ich, daß die Selbstsucht des Mannes ein Fels ist, daran die unendliche Flut der Liebe einer edlen Frau wie eine Welle zerschellt.

— — — — —

Nachdem ich Edda Dafis aus meinem kunstvoll komponierten Leben entfernt hatte, lebte ich wie ich vor der »großen Zeit« gelebt hatte. So nämlich hatte ich die Edda-Jahre in einem Moment der Empfindsamkeit – in einem Augenblick der Erkenntnis – getauft. Auf dem Repertoire eines Lebenskünstlers, der ich sein und bleiben wollte, dürfen keine »großen Zeiten« stehen. Ein Virtuos jener Kunst darf nicht einmal große Augenblicke auf seinem Programm haben. Edda Dafis war aus meinem Leben fort, und ich wollte es als Befreiung, als Erlösung empfinden. Dennoch muhte ich beständig fühlen, daß sie in meinem Leben gewesen war. Ich wollte es mir nur nicht gestehen, leugnete es: verleugnete die einzige große Empfindung meines Lebens, wie der Jünger den Messias verleugnet hat.

Petrus ging freilich hin und weinte bitterlich …

— — — — —

Als Nachwirkung der Edda-Zeit mochte gelten, daß ich mich fortan etwas weniger mit meinem heißgeliebten Ich beschäftigte; daß ich der Schönheit, der ich bis zum Ende meiner Tage leben wollte, etwas weniger Raum gab; meine Lebenslinie überhaupt gerader und strenger zog. Ich machte eine Weltreise, lernte viele Menschen kennen, erfuhr allerlei Menschliches, allzu Menschliches. In dieser Schule bildete ich mich mehr und mehr zu einem »glänzenden Lebemann« aus. Obgleich ich liebenswürdig war, mochten mich die Männer nicht leiden; vielleicht deshalb nicht, weil ich liebenswürdig war. Ich gewann keine Freunde, wollte keine gewinnen. Um junge Mädchen kümmerte ich mich nicht, wurde jedoch den Frauen gefährlich – wie die Redensart lautet. Und ich wurde es mit vollem Bewußtsein. Seitdem ich aus dem Kampf mit der einen Frau so glorreich hervorgegangen war, gab es für mich einen Kampf mit Frauen überhaupt nicht mehr. Heute erkenne ich, wie nichtig und klein alles war.

Wenn ich etwas sehr Schönes sah: einen Gewittersturm auf dem Ozean; wenn ich etwas sehr Großes erlebte: einen Ritt durch eine brennende Prärie Nordamerikas; oder wenn ich mich in Todesgefahr befand – so dachte ich an Edda Dafis. Aber nur in den ersten Jahren. Nach dieser Epoche tauchte selbst der Schatten jener »großen Zeit« nicht mehr in mir auf; verwischte sich jede Erinnerung an sie, gleich der Spur meiner Knabenschritte auf dem Firnschnee des Diavolezza-Gletschers.

Ich lebte bald hier, bald dort; dilettierte in dieser und jener Kunst; begeisterte mich heute für ein Gedicht von Stephan George, morgen für eine Statue von Rodin, ein Gemälde von Manet. Es konnte auch nur ein Stoff oder eine Farbe sein, was mein Entzücken erregte. Ich hatte Freunde, die, im Grunde genommen, meine Feinde waren, und besaß Geliebte, von denen jede mich gern ruiniert hätte. Ich verglich meine Küsse nicht. Auch nicht mit denen, die ich auf Eddas stolzen Mund gepreßt hatte. Aber, wenn ich jetzt von einer Leidenschaft erzählen hörte, an der eine Frau zugrunde ging, so wandte ich mich nicht mehr ungläubig und verächtlich ab. Nur wollte ich auch jetzt nicht glauben, daß ein Mann durch eine Leidenschaft für eine Frau zugrunde gehen könnte. Jedesmal, wenn ich von solchem sonderbaren Schwärmer hörte, lächelte ich mein gewisses Lächeln, welches – wie ich sehr wohl weiß – meinem Gesicht einen Ausdruck gibt, der nur gewissen Frauen gefällt.

So zu leben fuhr ich fort, bis es meiner unersättlichen Eitelkeit, meiner unergründlichen Selbstsucht beliebte, ein junges, liebreizendes und blütenreines Geschöpf, dem ich fremd bin und das mir fremd ist, zur Frau zu nehmen …

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Bis zu dem feierlichen Augenblick in der Hofkirche hatten meine jagenden Gedanken mich in die Vergangenheit zurückgetrieben: hinweg über das winterliche Gefilde, dem majestätischen Schneeberg zu, auf dessen schimmernder Scheide ich morgen schreiten wollte. Erst kurz vor der Diavolezza-Hütte holte mein Führer mich ein, äußerst unzufrieden mit meinem Schnellauf: ob ich nicht wüßte, daß der Hochtourist schön langsam und bedächtig ausschreiten müßte? Besonders anfangs. Morgen würde ich meine unsinnige Eile verspüren! Ich würde morgen schlecht steigen und wollte doch die Dreigipfel-Tour machen.

Richtig – ich war Hochtourist! Daran hatte ich nicht gedacht. Und ein solcher miserabler Bergsteiger wollte hoch über allem auf Alpengipfeln stehen!

In der Diavolezza-Hütte fand ich Gefährten: ein junges englisches Ehepaar und einen deutschen alpinen Herrn. Die beiden Glücklichen – trotz aller »Fashion« verrieten sie, daß sie es waren – kümmerten sich nicht um mich, während der Deutsche sogleich Kameradschaft mit mir gemacht haben würde, wenn er aus meinem kosmopolitischen Menschen klug geworden wäre, und ich eine ansprechende Art gezeigt hätte. Uebrigens habe ich auch sonst das Glück, von der Masse meiner Lebensgefährten ziemlich unangesprochen meines Weges gehen zu dürfen.

Der Diavolezza-Fels, darauf die Schutzhütte steht, könnte den Palast des Gletscherkönigs tragen: aus saphirblauem und smaragdgrünem Eiskristall, ein Wunderbau mit Grotten und Domen, Sälen und Hallen in dem geheimnisvollen Reich ewigen Winters.

Dort oben bot sich mir ein Anblick, der Dich gefreut hätte, Edda! Denn es war ein Anblick, Deiner großen Seele würdig. Besonders wenn über den blassen Tiefen die fahle Dämmerung der anbrechenden Nacht lagert, deren finstere Feierlichkeit Du so liebtest. Die langen weißen Ketten der Alpenriesen steigen auf mit Gipfeln, die im letzten Tagesschein schimmern, ein Glanz, der nicht von der Erde ist. Ringsum kein Laut. Jeder Ton erstorben in der Welt des Schweigens, welches nur der Donner der Lawinen, das Bersten einer Eiswand unterbricht: die Laute einer Menschenstimme sind zu sehr von der Erde in dieser höheren Welt.

Dann schaute ich zu, wie aus den Tiefen die Nacht emporquoll. Sie klomm von Fels zu Fels, von Gipfel zu Gipfel; löschte den letzten Tagesschein, hüllte allen Glanz in das schwarze Bahrtuch. Ueber dem Piz Palü, gerade an der Stelle, wo ich morgen den schmalen Eispfad des Grates betreten werde, ging ein Stern auf: still, groß, leuchtend.

Sie wäre dort hinaufgestiegen, hätte ihre Hand ausgestreckt nach dem Licht, um es für mich herunterzuholen, wie sonst eine Frauenhand für den Geliebten eine Rose pflückt.

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Die Kälte trieb mich hinab in die Hütte, wo Fremde und Führer behaglich beisammen saßen. Auch das junge englische Ehepaar tat ganz menschlich, versuchte sogar einige deutsche Worte zu stammeln, was meinen Landsmann in Begeisterung versetzte. Mein Herr Bossi berichtete: es sei die erste Palü-Besteigung des Jahres, die er mit mir unternahm; als solche habe sie die Ehre, im »Engadiner Expreß« zu erscheinen. Es half mir nichts: ich mußte mich zu der Gesellschaft bequemen, mußte mich wieder zum gewöhnlichen Sterblichen machen, für den es keine Gedankenflucht in Vergangenes gab. Aber – o weh! Die beiden jungen Glücklichen wohnten in Pontresina, hatten mich und meine Majestät häufig gesehen, waren von dem Liebreiz meiner holden Königin bezaubert und erkannten in mir den beneidenswertesten aller Sterblichen, der auf Erden etwas ganz anderes zu tun gehabt hätte, als der erste Palü-Besteiger des Jahres zu sein – selbst wenn er schwindelfrei einen Todesweg schreiten konnte.

Meine Kammer füllte der Mond mit fahler Leichenfarbe. Er schien gerade auf meine Lagerstätte und zwang mich, weit offenen Auges in sein Licht zu schauen, welches für mich stets etwas Gespenstisches hat. Selbst in den Tropen, in der Wüste und in den griechischen Tempeln am Strande von Girgenti mochte ich den unheimlichen Gesellen, der des Einsamen bester Freund sein soll, nicht leiden: er hat etwas Dekadentes, also mir allzu Aehnliches. Es fällt mir nämlich nachgerade unangenehm auf die Nerven, daß ich schließlich nichts anderes bin als ein Mann meiner Zeit: der echte Sohn einer Zeit, die – statt Männer der Lebensarbeit – Jünglinge des Genusses hervorbringt. Und sie sind nicht einmal jung! Nur wir Kinder dieser Zeit wissen, wie alt und abgelebt, matt und morsch, hohl und innerlich verfault wir sind.

Und von einem meinesgleichen ließ sich eine große Frauenseele zermalmen!

Daß ich gerade in dieser durchwachten Nacht beständig daran denken mußte, von meiner Lagerstatt aus wachen Auges durch das Fensterlein auf den mondbeschienenen Piz Palü blickend: auf jenen mattglänzenden, feinen Streifen hoch in den Lüften, zu dem ein faustisches Sehnen mich hinauftrieb.

Als wenn ich imstande wäre, Sehnsucht nach leuchtenden Bergeshöhen zu empfinden? Sehnsucht überhaupt!

Dann muß ich aber doch eingeschlafen sein. Wenigstens träumte ich. Es war wild verworrenes Zeug. Ich sah eine schwebende, schneeweiße Frauenhand, daran ein Ring funkelte mit einem Stein, von dem eine Glorie ausging. Ein Strahl davon traf mich. Auf dem Strahl glitt ich empor, um die Hand zu fassen, deren schlanke, blasse Schönheit ich so gut kannte. Aber eine innere Stimme raunte mir zu: ich müßte mich von hoch oben herabstürzen, ehe ich die schneeweiße Hand wieder fassen und in der meinen halten könnte. Das tat ich in meinem Traum. Ich fühlte mich stürzen, fühlte mich zerschmettern – fühlte mich von zwei zärtlichen Armen umfangen und emporgezogen: »Edda, Du lebst!« – schrie ich auf und erwachte.

Mein Herr Bossi stand vor mir, sagte: es sei Schlag halb drei, und Schlag drei müßten wir unsere Palü-Besteigung antreten. Sogleich war ich völlig wach und auf den Beinen. Aber – daß ich als junger Ehemann von einer längst gestorbenen und begrabenen »Jugendleidenschaft« träumen konnte!

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Hinauf! Höher und höher durch eine Welt von Schnee und Eis! Weiße, glatte, harte Mauern empor, in welche Stufen gehauen werden mußten, eine schaurige Himmelsleiter.

Und die blasse Mondsichel stand noch immer am Himmel …

Ich wußte ja, daß der Mond mein Feind war: mein Fuß wurde unsicher bei dem Gespensterschein; und vor meinen Augen schwamm es flimmernd. Schwindel ergriff mich. Ich mußte stehen bleiben, mußte an der Eiswand hängen bleiben, mußte meine Augen schließen, meinem Führer zurufen: mir sei nicht wohl! Ich mußte mich von seiner nervigen Faust fassen und halten lassen.

Der Traum der letzten Nacht war schuld daran. Dann aber überwand ich mich, verscheuchte die Geister, öffnete meine Augen.

Ueber mir Eismauern, neben mir Eismauern! Unter mir eine Tiefe, deren Grund ich nicht erkennen konnte. Und immer noch Mondschein!

Hinauf! Höher und höher! Das Aufhacken des Eises mit dem stählernen Pickel bildete den einzigen Laut; der Pickel selbst wurde als einziger Halt gegen die glatte, weiße, harte Mauer gestemmt. Ich tastete mit meinem Fuß nach der Sprosse, die mein Führer für mich einschlug, klimmte von einer Sprosse zur anderen, höher und höher die eisige Himmelsleiter hinan. Ein einziges schwaches, kaum merkliches Ausgleiten und – es gab keinen jungen, glücklichen Ehemann meines Namens mehr.

Aber zu sterben, ohne ein drittes Mal im Leben glücklich gewesen zu sein … Und wenn es dieses dritte Mal wiederum nur ein einziger kurzer Augenblick gewesen wäre!

Endlich ein anderer Schein! Gleichfalls matt und unirdisch, jedoch weniger geisterhaft.

Der Tag graute.

Ein wundersames Licht am Himmel, der sich gleich einem Gewölbe aus grünlichem Kristall über mir spannte; die Gletscher ringsum tiefviolett, fast purpurn. Der Berninagipfel erglühte zuerst, wie aus seinem Innern heraus: geheimnisvoll, mystisch. Jetzt wurde der weiße Grat des Piz Palü mit den Rosen der Morgenröte bestreut.

Unwillkürlich schaute ich empor, ob ich die blasse Frauenhand nicht sah; ob sie mir nicht zuwinkte? Bei dem Rosenschein dort oben hätte sie gleich glühendem Leben leuchten müssen.

Wenn ich diese lebensvolle Hand noch einmal für einen kurzen Augenblick in der meinen gehalten hätte –

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Durch Stunden und Stunden über Gletscher und Firnschnee, die weißen, glatten, harten Eismauern empor; jetzt in dem vollen Glanz eines wolkenlosen Sommertages aufwärts steigend.

Je höher wir gelangten, um so starrer und feierlicher die Alpenwelt, um so blendender die Lichtfunken, um so machtvoller die Empfindung: Herr seines Lebens zu sein, und mit einem Ruck die Bürde des Daseins abwerfen zu können – um so berauschender das Königsgefühl, über Leben und Tod zu gebieten … Dann ward der erste Gipfel erreicht, auf dem ich bereits als Knabe gestanden hatte.

Damals konnte ich mich sehnen! Ich sehnte mich nach einem zärtlichen Mutterwort, einem angstvollen Mutterblick, einer Träne aus Mutteraugen, einem Kuß von der Frau, die mich mit Schmerzen geboren hatte. Es waren doch gute Zeiten gewesen.

Auf dem Gipfel war Raum genug zum Lagern und Rasten. Herr Bossi stellte den Sekt in den hart gefrorenen Schnee. Als er kunstgerecht gekühlt war, ließ ich den Pfropfen springen und trank aus meiner Perlmuttermuschel das Wohl sämtlicher jungen, glücklichen Gatten und Gattinnen des Weltalls. Schwerlich ward jemals von solcher Höhe ein solcher Trinkspruch getan. Mögen ihn gütige Götter erfüllen!

Nachdem der Vater des Prachtjungen die Flasche geleert hatte, wurde sie in die Tiefe geschleudert: hinab nach Italien, welches mit arktischen Eismassen zum Palügipfel aufstieg.

Jetzt kam der Weg über den Grat, das Wandeln auf der schmalen, schimmernden Kante über der weißen Tiefe; das Schweben zwischen Himmel und Erde. Fausts heißes Verlangen nach Bergeshöhen wäre auf diesem Gang von Gipfel zu Gipfel gestillt worden. Eine Stunde und länger dauerte der Weg. Der eine Fuß mußte vorsichtig vorgeschoben, mußte in den knirschenden Schnee tief eingebohrt werden: mit dem einen Fuß mußte ich festen Halt fassen und dann den anderen langsam, behutsam nachziehen. Es war gerade Raum genug für den einen Fuß.

Links ein weißer, blendender, in Brillantfeuer lodernder Abgrund – rechts eine flimmernde, funkelnde, von Strahlen erfüllte Tiefe. Hinter mir, vor mir der schmale, scharfe Glanzstreifen von Gipfel zu Gipfel durch das Lichtmeer, durch die Lüfte gezogen. Um mich ein Glänzen und Gleißen, als glitte der Mensch durch himmlisches Feuer.

Und plötzlich wußte ich's! Ich wußte, daß ich in meinem langen, selbstsüchtigen, unnütz hingebrachten Leben außer jenem einen kurzen Augenblick als Knabe nur noch ein einziges Mal wahrhaft gelebt hatte. Und das war gewesen, als ich von Edda Dafis geliebt wurde. Ich wußte plötzlich, daß ich, seitdem ich diese Liebe aus meinem Leben gerissen hatte, nichts mehr besaß, was des Lebens wert war: eines Lebens, wie das meine ist, hingebracht ohne einen Hauch des Göttlichen in der Seele.


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