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VII.

… Komödie! Komödie! Aus dem Trauerspiel wird im letzten Akt ein Lustspiel: »Sie kriegen sich.« Zwar nicht gleich beim Fallen des Vorhangs, wenn das liebe Publikum befriedigt Beifall klatscht und sich »angeregt« aus dem Theater zu einem soliden Abendbrot in der Familie oder einem Souper in einem fashionablen Weinrestaurant begibt: die Einen nach Hause zu Gattin und Kind, die Anderen zu chambres séparées. Aber – sie werden sich kriegen! Wenn auch nicht in einem Jahre, so doch sicher in zwei, drei Jahren. Alle Chancen stehen gut, und die letzte Szene ergibt für das Pärlein eine Perspektive in eine Welt voll lauter Glanz und Glück. Es freut mich für meinen Parcival und das Menschenblümlein, wie ich nicht glaubte, daß mich im Leben noch etwas freuen könnte.

Übrigens allen Respekt vor Madame Kundry! Die Dame benimmt sich gut, wenn ein kluges Benehmen zugleich ein gutes ist. Außerordentlich klug benimmt sie sich! Mein plötzlich bis über die Ohren in das Blümlein verliebter Jüngling greift sich an die Stirn, um auf diese Art klar darüber zu werden: ob er das alles nicht geträumt habe? Unter dem »alles« ist die Potipharszene zu verstehen, die Madame aufgeführt hatte, und die sie jetzt meisterlich in ihr Gegenteil zu drehen weiß: schön wird häßlich, häßlich schön. Es war lediglich mütterliche Zärtlichkeit, die der gute Junge ihr einflößte; und dieser ist nahe daran, es zu glauben; ist nahe daran, sich mit Selbstvorwürfen zu überhäufen: »Wie war es nur möglich, so etwas zu denken? Ich bin ja ein total dekadenter, total perverser junger Mann!« Darin kann ich ihm nun beim besten Willen nicht beipflichten; aber ich helfe Madame auf das Ritterlichste, um sie aus der peinlichen Situation herauszubringen, und dem weißen Unschuldslamm die »Mütterlichkeit« zu suggerieren. Zum Glück ist der Junge ein wahres Prachtexemplar für hypnotische Behandlung.

Und Daisy! …

So etwas von Keimen und Knospen einer jungen Liebe haben die Berge des Engadins noch nie erlebt. Und sie stehen doch schon eine Ewigkeit an ihrem Fleck, erlebten bereits allerlei; darunter manches, was in die auch schon seit einer Ewigkeit bestehende Rubrik: »Menschliche Liebesangelegenheiten« fällt. Daisys Lächeln nimmt es mit dem Leuchten des Piz Palü auf; ihr Blick mit dem Glanz der Engadiner Lüfte; der Klang ihrer Stimme mit dem Zwitschern der Schwalben, das hier zu Gesang wird. Bald werden die lieben Vögel abziehen; denn bald kommt für dieses Sommertal der Herbst, der womöglich noch strahlender ist. Aber noch mehr des Glanzes erträgt nicht der für diese graue Welt geschaffene Mensch.

Bald ziehen die Schwalben fort! Und mit den Schwalben zieht Madame nebst Töchtern; zieht der große Gelehrte nebst Sohn. Sie trennen sich. Madame geht für den Winter nach Paris; der Professor nach Wien. Aber die beiden, die der festen Meinung sind, sie würden die Trennung nicht überleben, dürfen sich schreiben, dürfen sich im nächsten Sommer wiedersehen: im Oberengadin, in Pontresina, im Hotel Roseg! In dieser vortrefflichen Fremdenherberge soll alsdann Verlobung gefeiert werden. Aber die zwei Glücklichen halten es für ausgeschlossen, den großen Tag zu erleben.

Ihr Pessimisten dieser Welt, die Ihr an keine Erdenseligkeit glaubt, geht hin ins Hotel Roseg und seht Euch des liebenden Jünglings greisen Herrn Vater an. Wäre mir noch möglich, über irgend etwas feuchte Augen zu bekommen, so würde es geschehen, wenn ich das strahlende Antlitz des berühmten Gelehrten betrachte, der ein seliger Vater ist. Denn sein Junge ist selig! Sein Junge liebt, sein Junge wird wiedergeliebt: von diesem allersüßesten Geschöpf auf Gottes Erde, die mitunter (das sage sogar ich) eben doch – schön sein kann.

— — — — —

Wenn ich meine Hand auf mein Herz lege; und wenn ich dieses kranke Organ ernsthaft, sehr ernsthaft befrage: »Beging ich mit dieser »guten Tat« etwas gutes?« – so höre ich mein Herz ernsthaft, sehr ernsthaft erwidern: »Schwerlich, lieber Graf.«

Schwerlich! Angenommen: die beiden werden ein glückliches Paar – werden sie ein glückliches Paar bleiben? Schwerlich! Wird das Leben meinen reinen Toren einen reinen Menschen bleiben lassen? Schwerlich! Und das liebliche Daisykind? Wird die holde Mädchenblume nicht von dem Wurm mütterlicher Vererbung angefressen werden? … Denn auch diese Mutter war gewiß einmal ein liebreizendes, unschuldiges Frauenwesen, das wiederum von seiner Mutter den Keim empfing, daraus sich die Dame in Trauer entwickelte, die sich die Lippen färbt, die Augen untermalt und reinen Toren nachstellt. Und dann mein guter Jüngling der Gatte solcher Gattin …

Die Verantwortung für sein Unglück träfe mich.

Nein, lieber Graf Wilding-Wild – es wäre besser gewesen, Sie hätten einem treuen Hunde das Leben gerettet. Gehen Sie und versuchen Sie, die erste gesegnete Tat Ihres ungesegneten Lebens zu vollbringen, damit Sie vor seinem Ende wenigstens zu etwas nütze gewesen.

— — — — —

Daß ich über die Liebeskomödie anderer Leute nicht meine eigene Ehetragödie vergesse! …

Achime tut Hofdamendienste; und sie tut es mir zu Liebe. Ich bat sie nämlich darum. Denn es fällt mir mit jedem Tage schwerer, dieses Leben zu ertragen. Nie trug ich an einer Lüge so schwer, und ich war die Last doch gewöhnt.

Die Gräfin Wilding-Wild wiederum Hofdame bei der Frau Erbgroßherzogin Marie Luise; der vortreffliche Baron Erffa wiederum Ihrer Königlichen Hoheit Hofmarschall. Und ich bin auf den Herrn nicht mit einem Herzschlag eifersüchtig! Könnte ich es mit einem Zucken meines Herzens sein, so –

Aber weshalb mit dem Unmöglichen spielen?

— — — — —

Eine Entdeckung!

Heute besuchte mich der Herr Hofmarschall. Er kam im Auftrage seiner Gebieterin, um mir offiziell höchstderen Dank für die gütige Ueberlassung meiner Gattin abzustatten. Ich empfing den Ausdruck gnädigster Erkenntlichkeit mit gebührender Ehrfurcht, fragte den Ueberbringer, ob er für eine Stunde Urlaub habe? Und als dies bejaht wurde, lud ich ihn ein, mit mir zu lunchen. Der Herr Hofmarschall war so liebenswürdig, die Einladung seines glücklichen Nebenbuhlers anzunehmen; und so begaben wir uns denn im besten Einvernehmen von der Casa Piedermann-Barblan nach dem vorzüglichsten aller vorzüglichen Gasthäuser des Engadins. Zu gleicher Zeit lunchte mit Familie und Verlobten die junge, exotische Schönheit, und einsam im Hintergrunde die Tigerin, die mir mehr als je die Empfindung einflößte: sie müßte in allernächster Zeit den Sprung tun und die Beute packen. Allerdings wünscht der Herr nichts sehnlicher, als baldmöglichst gepackt zu werden und sich das Blut aussaugen zu lassen – so viel dieses durchaus nicht immer sehr besonderen Saftes der Bankmensch besitzt. Ueber meiner Sorge um meinen Parcival waren mir von der Hotel-Roseg-Komödie Nr. II einige Szenen entgangen. Aber Achime war aufmerksam geworden, hatte starke Teilnahme empfunden und folgendes in Erfahrung gebracht:

Die Braut des Kuponabschneiders ward von ihren Leuten gewarnt. Sie erkannte die Gefahr und kämpfte dagegen. Die Familie wollte abreisen. Das tapfere Kind bestand jedoch darauf, zu bleiben: Abreise wäre Flucht gewesen! Was hätte sie geholfen? Flucht vor dieser Dame: sie, die Reine und Keusche; sie, die Liebende! Ihre Familie sagte:

»Ein Mann, der schon jetzt und in solcher Weise von Dir abfallen kann, ist Deiner unwert. Gib ihm den Laufpaß! Du willst ja doch nicht sein Geld, sondern sein Herz; und er wirft es vor Deinen Augen in eine Pfütze. Preise doch das Geschick, das Dir zur rechten Zeit die Augen öffnet.«

Sie war jedoch anderer Ansicht:

»Ich bleibe und kämpfe! Ich kämpfe angesichts dieser Versucherin, die ihn mit ihren Blicken bannt. Es ist nicht möglich, daß er mich für sie hinwerfen kann. Sie hat ihn narkotisiert. Wenn er meinen Glauben sieht, meine Liebe erkennt, wird er zur Besinnung kommen. Also harre ich aus. Ihr, die Ihr mich liebt, helft mir, auszuhalten. Wenn er diese Prüfung besteht, sind wir beide gerettet; und das nicht nur für jetzt, sondern für Zeit unseres Lebens.«

Wodurch Achime dies alles erfuhr, wollte sie nicht gestehen. Wofür gibt es jedoch Zofen und Kammerdiener? Genug, ich fand Achime vollständig orientiert. Da sie wiederum bei ihrer geliebten Durchlauchtigsten Dienst tat, so vertraute sie mir die Liebesangelegenheit anderer Leute an:

»Ach, Harro! Daß es solche Frauen gibt! (Sie meinte die Tigerin.) Daß solche Frauen Euch gefährlich sein können; daß Euch vor ihnen nicht graut! Man braucht sie doch nur anzusehen, um zu wissen –«

Ich erinnerte sie lachend, wie sie die Dame lange Zeit sehr eifrig angesehen hätte, ohne auch nur das Mindeste zu »wissen«; wie sie von dem » grand air« der Dame entzückt gewesen wäre, und wie sie ihren Kostümen, Krausen, Shawls, Hüten – besonders ihren Hüten! – eingehendes Studium gewidmet. Sie fand mich »einfach abscheulich«, worauf ich ritterlich entgegnete: ich fände es einfach entzückend, daß sie bewußte Dame für eine Lady gehalten und von der Existenz derartiger Schönen so gar nichts geahnt hätte. Heute nun befand sich die Gräfin in Villa Beausite, befand sich der Herr Hofmarschall als mein Gast im Restaurant des Hotel Roseg; und ich machte die bewußte große Entdeckung.

Wir saßen zwischen den Fenstern des Eckzimmers an meinem gewöhnlichen Tischplatz, der solche bequeme Theaterloge war. In geringer Entfernung von uns speiste die exotische Familie mit der reizendsten aller Bräute neben dem freien Schweizer, der durch die Nähe des prachtvollen Raubtieres vollständig hypnotisiert war. Ich hatte mit dem Anbeter meiner Gemahlin – der Mann gefällt mir von Mal zu Mal besser; so daß ich mich nachgerade in ihn verlieben werde – ich hatte mit dem Baron sehr behaglich geplaudert, als ich bemerkte, wie mein Gast plötzlich wortkarg, plötzlich zerstreut wird. Er sieht steif auf einen bestimmten Fleck, beständig auf den einen! Mein Blick folgt dem seinen; und ich traue meinen Augen nicht. Denn es ist der Anblick der Tigerin, der Achimes leidenschaftlichen Verehrer derart beschäftigt. Mehr als das: derartig fasziniert! »Oho!« denke ich. – »Bist Du so? Auch Du, mein Sohn Brutus? Sogar Du!« Und fast wäre ein ganz unchristlicher Hochmut über mich gekommen: »Gott, ich danke Dir, daß ich nicht bin usw.«

Plötzlich fragte er mich mit unterdrückter Stimme:

»Sehen Sie dort die Dame?«

»Meinen Sie dieselbe, die seit vollen zehn Minuten Ihre Aufmerksamkeit erregt? Sie verzeihen meine Indiskretion. Da Sie mich jedoch fragen –«

»Kennen Sie die Dame?«

»Sehr genau.«

»Oh!«

»Nur von Ansehen.«

»Ach so!«

»Und Sie?«

»Auch sehr genau.«

»Oh!«

»Auch nur von Ansehen.«

»Ach so!«

Mein Gast bemerkte:

»Ich sah die Dame erst vor kurzem.«

»Wo?«

»In Ostende.«

»Wirklich?«

»Sie war dort die berühmteste Schönheit. Vielmehr die berüchtigtste. Mußte jedoch plötzlich verschwinden.«

»Sie mußte?«

»Ein Herr nahm sich ihretwillen das Leben.«

»Ruinierte sich ihretwillen im Spiel?«

»Total.«

»Das wäre für die Dame doch wohl kein Grund gewesen, die Partie aufzugeben. Nicht für diese Dame!«

»Sie wurde zugleich als Hochstaplerin entlarvt.«

Ich rief aus:

»Also darum beehrt sie mit ihrer Gegenwart die freie Schweiz!«

»Sie glaubt sich hier sicher.«

»Immerhin unvorsichtig, gerade das Engadin als Luftkurort zu wählen; wenn auch freilich das ländliche Pontresina und dieses solideste aller Schweizer Familienhotels.«

»Selbst solche Damen machen bisweilen eine Dummheit.«

Und wir sprachen von etwas Anderem …

Dieser Hofmarschall gefällt mir doch gar zu gut! Und wie der Mann meine arme, kleine Gräfin liebt! Wie er versucht, seine Liebe vor dem unwürdigen Gatten dieser entzückenden Dame zu verbergen! Mit welchen schimmernden Schleiern er seine Neigung zu umweben weiß! Wie er die heimlich Geliebte sich verklärt, auf einen Altar stellt, zu einem Gipfel erhebt! Wie er sich bemüht, das Liebenswerte: dasjenige, was mich für Achime liebenswert macht, in mir zu suchen! Mit welcher Freude er sich einredet, es gefunden zu haben –

Dieser noch jugendliche Hofmarschall eines jungen Hofes macht mich meines Unwertes mehr und mehr bewußt, treibt mir die Röte ins Gesicht, die darauf seit meinen Kinderjahren nicht mehr aufgeflammt ist.

Nach dem Lunch spielte ich in der Liebestragödie: »Liebende Braut – Millionenmann – Tigerin« meine große Szene.

Ort der Handlung: der Garten zwischen Hotel Roseg und der Dependence. Requisiten: behagliche Lehnsessel, ausgezeichneter schwarzer Kaffee, Kognak, Zigaretten. Personen: der Hofmarschall Ihrer Königlichen Hoheit, der Frau Erbgroßherzogin, ein Prachtmensch; Graf Wilding-Wild, moderner Aesthet, Dekadent, ein völlig unnützes, also überflüssiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft. In einem Boskett dicht daneben, auf einem Rohrdiwan langausgestreckt, schwarzen Kaffee schlürfend, Kurse studierend, Zigaretten rauchend, Herr X. Y., Kuponabschneider, Millionär, Lüstling, unwürdiger Bräutigam eines liebreizenden Geschöpfes.

Der Dialog beginnt!

Dekadent (leichthin): Sie waren also diesen Sommer in Ostende?

Prachtmensch: Vor meiner Nordlandreise.

Dekadent (mit erhobener Stimme): Und dort sahen Sie die interessante Dame, die Sie heute im Restaurant wiedererkannten?

Prachtmensch (voll sittlicher Entrüstung): Ein fürchterliches Weib!

Kuponabschneider (wird aufmerksam, horcht angestrengt).

Dekadent: Sie täuschen sich nicht?

Prachtmensch: Unmöglich! Solche Augen und Lippen gibt es nicht wieder.

Dekadent: Ich taufte die Schöne ihrer Augen und Lippen wegen »Tigerin«.

Prachtmensch: Der Name sagt alles!

Dekadent: Sie geht auch hier auf Raub aus.

Prachtmensch: Der Mann ist verloren!

Dekadent: Er wird lebendigen Leibes zerfleischt.

Kuponabschneider (hält den Atem an).

Prachtmensch: Hat der Mann viel Geld?

Dekadent: Millionen.

Prachtmensch: Ihre »Tigerin« saugt ihrem Opfer nämlich nicht nur das Blut aus, sondern auch –

Dekadent (lacht): Die Millionen … Sagten Sie nicht: diesen Sommer habe sich in Ostende ihretwillen irgendein Lump erschossen?

Prachtmensch (voll Ekels): Nachdem das Weib den Kerl ruinierte.

Dekadent (gleichgültig): Das Gewöhnliche. In Monte Carlo laufen diese Art von Damen und Herren zu Dutzenden durch die schöne Gotteswelt.

Prachtmensch: Sie sollten den Hotelier warnen.

Dekadent: Weshalb?

Prachtmensch (eifrig): Aber ich bitte Sie! Das Weib ist Hochstaplerin, wird wegen ihrer Betrügereien polizeilich verfolgt.

Kuponabschneider (läßt die Zeitung sinken, stiert geistesabwesend vor sich hin).

Dekadent: Das geht das Beutestück, dem sie hier auf der Spur ist, mehr an, als meinen ehrenwerten Herrn Wirt … Sie müssen schon aufbrechen? Schade! Ich habe seit langem nicht in so angenehmer Gesellschaft gespeist – Ihre Königliche Hoheit, die Frau Erbgroßherzogin, und meine eigene Hoheit ausgenommen. Bitte, mich meinen Gebieterinnen in Gnaden zu empfehlen.

— — — — —

Nach Anbruch der Nacht befand ich mich in meiner Koje am offenen Fenster, hatte das Licht gelöscht und schaute zu, wie hinter dem Julier die Sterne emporstiegen, als würden sie aus dem starren Felsenhaupte geboren. Der schöne Berg schien Funken zu sprühen.

Unmittelbar unter meinem Fenster führt die Landstraße – Pontresinas Passeggiata – hart an dem Gärtlein unserer würdigen Hausfrau vorüber. Von den Kräutern und Blumen: Salbei, Rosmarin und Nelken, stieg ein Wohlgeruch wie Weihrauch zu mir auf. Ich trank den duftenden Atem der schlummernden Mutter Erde, versuchte an Schönheit zu denken und sann darüber nach, daß auch Güte Schönheit sei. Vielleicht die höchste, sicher die seltenste.

An dem Fenster meines dunklen Kämmerleins stehend, erwartete ich Achimes Rückkehr von Villa Beausite. Es war spät, das Gewühl auf der Straße hatte aufgehört; denn die Nächte im Engadin begannen kalt zu werden. Nur hin und wieder ein vereinzelter Nachtgänger, der dicht unter meinem Fenster über dem duftenden Gärtlein stehen blieb, wo ein berühmter Blick auf das Rosegtal ist: beim Sternenschein erstrahlte der helle Gletscher und der weiße Gipfel in mystischem Schimmer.

Da kam von der Dependance des Hotel Roseg her die Tigerin geschlichen, in einen dunklen Dusemantel gehüllt, einen schwarzen Schleier um das leuchtende Haupt, unter Geleit und Schutz ihrer getreuen Kammerfrau und allwissenden Vertrauten. Die beiden machten ihre gewöhnliche Nachtpromenade durch Pontresinas lange Gasse: bis Hotel Saratz und wieder zurück bis zu der berühmten Aussicht unter meinem »neugierigen Fenster« über der blumigen Duftschale.

Als die Spaziergängerinnen bis zu dieser Stelle zurückkehrten, stand dort jemand, den Blick bewundernd auf das sternenbeschienene Rosegtal gerichtet. Da hörte ich den Herrn bei der Dame sich erkundigen: wie sie sich diesen Sommer in Ostende unterhalten hätte?

Zum Glück vernahm ich gerade in diesem Augenblick von Samaden her das sanfte Rollen von Gummirädern. Ich sage: zum Glück! Denn ich hätte vielleicht sonst den Lauscher gemacht.

— — — — —

Dieses schreibe ich noch in der nämlichen Nacht:

Wieder stand ich vor Joachimes Tür; denn es fand wiederum das wundersame Ereignis statt, daß sie wie in einem holden Fieber laut redete. Ich nenne ihr Delirium »hold«, weil es die lieblichsten Phantasien sind, in denen sich ihr Geist in einem Traumzustande befindet. Und immer nur das eine, einzige Thema: ihr Leid, ihre Liebe, ihre Sehnsucht. Ich stehe draußen, höre, leide und – muß draußen stehen bleiben! Denn – ich darf meine Hand nicht ausstrecken; darf nicht an die Klinke fassen; darf nicht eintreten in das Heiligtum dieses liebenden und nicht wiedergeliebten jungen Weibes, welches mein Weib ist.


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