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Aus meiner Zelle, am 1. August.
Heissa, Juchheissa!
Hofluft im Engadin!
Was ist dagegen die Luft, die von Maloja her über die Kette flutender Türkise und Smaragden hinweht; über Julier und Albula hinbraust und über den wilden, weißen Berninagipfel. Was der Duft der Blumenwiesen und Arvenwälder, die in der Sonne ihren Weihrauch ausströmen lassen? Sind doch alle Wohlgerüche Arabiens miserable Parfüms gegen das Aroma eines Fürstenhofes!
So empfindet es meine Gräfin, für welche Hofluft etwas Berauschendes, die Sinne Umnebelndes, die Seele in Verzückung Versetzendes besitzt. Es war eben ihre eigenste Natur, die sich in dieser Atmosphäre entwickelt hat und so herrlich erblüht ist. Meine Selbstsucht entriß sie dieser Welt, die ihre Welt ist. Da ich sie nicht in ein Klima zu versetzen vermochte, welches ihrer Natur entspricht, so begann sofort ihr Verkümmern.
Freilich erfüllt die Hofluft nur die Räume der Villa Beausite. Immerhin wird auch in Beausite Hof gehalten; denn Ihre Königliche Hoheit kamen nicht inkognito, sondern werden offiziell von der Frau Oberhofmeisterin, einer Hofdame und einem Kavalier begleitet.
Während ich zu höhnen scheine, segne ich; denn kaum hat Achime die Hofluft wieder eingeatmet, so geschehen Wunder und Zeichen, und sie erblüht unter den Augen ihrer hohen Frau von neuem zu einer Zierde des Hofes. Das zu fein und zu bleiben ist meiner Gräfin eigenster Beruf auf Erden; es verkannt zu haben, ist ihr gegenüber meine schwerste Schuld. Wie sie büßen? Ich kann sie doch ihrer früheren Welt nicht so ohne weiteres wiedergeben? Der Skandal wäre zu groß. Könnte ich mich nur mit irgend wem, aus irgend einer Ursache schlagen oder schießen und mich bei dieser Gelegenheit auf anständige Weise empfehlen, mit Hinterlassung meiner Visitenkarte und einem höflichen p. p. c.
Mich schlagen oder schießen … Zum Beispiel mit dem Herrn Hofmarschall, der meine holde Hoheit liebt, der sie beglücken könnte, wie kein anderer Mann vermag, und der sie in ihre Welt zurückführen würde – drei armen Menschen könnte geholfen werden. Leider ist es für diese Hilfe zu spät; und seitdem Achime bei meinem Gutenachtkuß erschauert, ist die Sache hoffnungslos; hoffnungslos für sie sowohl wie für mich.
Wir sind täglich in Beausite. Achime wird bereits vormittags befohlen; also bin ich im Restaurant Roseg Strohwitwer. Mich wundert, daß die Tigerin meine Junggeselleneinsamkeit nicht benützt und mich umschleicht. Der Kaufmann aus Zürich ist allerdings millionenreicher, und die schöne Bestie hat gute Witterung. Ueberdies mag es für ihren Heißhunger nach Gold und Herzblut einen besonderen Reiz gewähren, ihre Beute einer Braut zu entreißen, gerade dieser Braut!
Es gibt das der Speise einen haut goût, den sie bei mir nicht finden würde: weiß doch gewiß das ganze Hotel, wie es um mich und meine Gräfin steht. Denn die Wandlung, die mit dieser vorging, ist erst neueren Datums: erst – so bilde ich mir wenigstens ein – seit der Begegnung mit der guten Frau von Santa Maria zum mitleidigen Herzen.
Schon am frühen Morgen eilen von Villa Beausite Boten zum Hause Piedermann-Barblan, und Boten eilen von hier nach dort. Ein Lakai und mein Herr Kammerdiener sind beständig unterwegs. Unser biederes Alt-Engadiner Bürgerhaus kommt nachgerade in den Ruf einer Hofdependance.
Ausflüge zu Wagen und zu Fuß; Picknicks am Morteratschgletscher, afternoon-teas auf Maloja und im Fextal. Wilde Wirbel erfassen uns. Sie haben für mich das Gute, daß solche Strömungen nicht gerade der Ort sind, rettungslos in Gedanken zu versinken …
Wir dinieren jetzt jeden Abend in Beausite. Heute entschuldigte ich mich jedoch, was durchaus nicht ungnädig aufgenommen ward. Also kann ich die Gräfin Wilding-Wild fortan auf Gummirädern, mit meinem Perfekten auf dem Bock, ohne Gatten zu Hofe fahren lassen, werde also in meiner Zelle meine Stunden wieder haben, um zu lesen, zu schreiben, zu denken.
»In weniger als zwanzig Minuten könntest Du bei ihr sein!«
Habe ich mich wegen meines Ausbleibens in Beausite untertänigst entschuldigt, und ist nur Achime dort, so weiß ich die Minute, wann die Gummiräder und der Perfekte meine Gräfin nach Hause bringen. Denn in der Minute, wo es zehn schlägt, zieht sich die Frau Erbgroßherzogin zurück und entläßt ihre Umgebung, zu welcher der verwöhnte Liebling des Hofes wieder gehört; nur, daß er inzwischen den Namen geändert: durch meine Schuld! Kein Gott kann sie mir je verzeihen.
Schlag halb elf langt die Gräfin Wilding-Wild von St. Moritz in Pontresina an; und ich bin bereit, sie zu begrüßen: auch auf die Minute. In dem Salotto mit den blanken Dielen aus rötlichem Lärchenholz, den hellgetünchten Mauern und der weiß angestrichenen Balkendecke findet dann noch bei meiner Hoheit später Empfang statt. Die Fenstervorhänge sind geschlossen, ein halbes Dutzend Kerzen angezündet, und es gibt Tee: auf silberner Privatteemaschine, von meiner Herrin eigenhändig für mich bereitet. Sie ist reizend in ihrer Gesellschaftsrobe und ihrem Juwelenschmuck, noch durchglüht von der Erregung des bei ihrer vergötterten Frau Erbgroßherzogin verbrachten glücklichen Abends, förmlich verklärt von den Strahlen der königlichen Gnadensonne, die ihre Lieblichkeit beschienen. Sie plaudert – plaudert – plaudert. Nichts auf Erden bietet für sie solchen überwältigend interessanten Gesprächsstoff als ein Hofdiner. Ich bekomme es von diesen hold lächelnden, süß plaudernden Lippen erzählt. Jedes Wort Ihrer Königlichen Hoheit wird mir gewissenhaft berichtet und eingehend kommentiert, als wäre es ein Wort von Dante, Goethe, Friedrich Nietzsche. Ich höre andächtig zu und muß wiederum denken: »Sollte dem Grafen Wilding-Wild etwas Menschliches geschehen, so wird es der Gräfin Wilding-Wild darum nicht schlecht gehen auf der Welt – da es dann für sie auf der Welt wieder ein Hofleben geben wird. Der Herr Graf könnte also seinen letzten Atemzug beruhigt tun und sich mit friedlichem Antlitz in der Familiengruft der Grafen von Wilding-Wild zur Ruhe begeben.«
Heute abend fragte mich Achime:
»Erinnerst Du Dich noch des Hofmarschalls Ihrer Königlichen Hoheiten?«
»Wie sollte ich nicht? Ich denke sogar sehr oft an ihn. Es ist ja doch der gewisse scharmante Herr, der zwei- oder gar dreimal um die Hand einer gewissen scharmanten Hofdame anhielt und von dieser Reizenden zwei- oder gar dreimal Körbe erhielt – leider.«
»Leider?«
»Da der gewisse Scharmante die gewisse Scharmante hundertfach mehr verdient hätte als ein gewisser völlig Unscharmanter, der die entzückende Dame ganz und gar nicht verdient.«
»O, Harro! Wie kannst Du nur?«
»Aber Du wolltest mir von Deinem Herrn Hofmarschall erzählen. Verzeih', daß ich ihn trotz der drei Körbe Dir zuspreche.«
»Er soll sich verlobt haben.«
»Verlobt? Dein Hofmarschall?«
»Verlobt!«
»Der Treulose!«
»Ich bin froh.«
»Ich bin empört. Wie konnte der Mann Dich so schnell vergessen? Dich! Da glaubte ich nun zum letztenmal, es gäbe noch Treue auf der Welt, und –. Es ist empörend! Drei Heiratsanträge, und dann – gleich zu vergessen! … Du scheinst wirklich nicht im mindesten außer Dir zu sein?«
»Glücklich bin ich. Es war mir ein geradezu entsetzlicher Gedanke, er könnte –«
Sie stockte, verstummte. Eine zarte Rosenröte bedeckte ihr Gesichtchen. Ich half ihr, den Satz zu vollenden.
»Du fürchtetest, er könnte unglücklich geworden sein, weil Du die Gräfin Wilding-Wild wurdest? Ich hatte es auch geglaubt, hatte es gehofft, und bin unsäglich enttäuscht. Ein Mann, der Dich einmal liebt, kann Dich unmöglich jemals vergessen.«
Aber das war ein gefährliches Thema …
Inzwischen konterfeit der »töricht Reine« die Mutter des Menschenblümleins; und jeden Vormittag findet in dem Salon der Dame in Schwarz »Sitzung« statt. Das große Kind von Vater preist die Güte und Geduld des interessanten Modells; denn der junge Herr ist nichts weniger als ein Raffael. Ich muß den Alten auch jetzt bei seinem Glauben lassen, äußere nur ganz bescheidentlich mein Erstaunen, daß sein Junge sich nicht lieber an dem süßen Gesicht der Tochter vergreift, da das der Frau Mutter genug gemalt ist.
»Wieso gemalt?«
»Zum Beispiel: Lippen und Augen mit prima Kirschrot und schwärzester japanischer Tusche.«
»Sie meinen doch nicht etwa –«
»Ich meine ganz gewiß, Herr Professor.«
»Das kann doch nicht möglich sein!«
Und des jungen Malers ehrwürdiger Herr Papa war allen Ernstes empört über mich.
Ich kam mir denn auch höchst brutal vor.
— — — — —
Welch ein Tag! In tiefer Nacht sei es berichtet.
Die Frau Erbgroßherzogin lud uns zu einer Partie auf den Schafberg ein. Achime war selig, und ich konnte diesmal nicht ablehnen. Vor unserem Hause war Meeting. Da die Damen ritten, gab es eine förmliche Kavalkade, die viel Publikum versammelte: gab es doch eine vermutlich bald Regierende zu sehen!
Wir nahmen den Piz Languard-Weg über Spiert und Giarsun zur Alp Languard, kamen an Santa Maria vorbei. Auf dem Kirchhof wucherten die Blumen, daß von den Gräbern kaum etwas zu sehen war; und in der Morgensonne funkelte in den Kelchen der Tau wie Tränen unserer lieben Frau, der das Kirchlein in alten Zeiten geweiht worden. Es war ein Glänzen und Glühen, wie ich Aehnliches niemals in Gärten gesehen. In dieser bunten Blütenpracht vom grauen Dasein auszuruhen, wäre um vieles angenehmer, als in die monumentale Ahnengruft der Grafen von Wilding-Wild versenkt zu werden. Freilich hätten die Blumendickichte zerstört werden müssen. Es gab nur noch Platz für ein einziges Grab: ganz hinten im Winkel, an der bröckelnden Mauer …
Ich kenne den Platz genau; denn so oft ich hinaufkomme, betrachte ich ihn mir und wundere mich, daß gerade nur noch für einen Toten Raum ist. Wer es wohl sein mag?
Also wir kamen zum Kirchlein und zum Kirchhof. Die Damen waren entzückt, nannten die heilige Blumenstätte eine »Kirchhofsballade«. Ihre Königliche Hoheit wollten von Kapelle und Friedhof ein Aquarell machen, und die Frau Oberhofmeisterin berichtete: hier läge der große Engadiner Bären-, Adler- und Gemsjäger Colani begraben, der Held von C. Heers reizendem Engadin-Roman »Der König der Bernina«. Im Bädeker hätte der Ort einen Stern …
Drüben, in dem Wäldlein uralter Lärchen, die Zedern gleichen, steht das Haus der guten Frau von Santa Maria zum mitleidigen Herzen, dahin traurige Liebende, unglückliche Bräute, arme Verlassene pilgern, und von wo sie getröstet zurückkehren. Wir zogen ganz nahe daran vorüber, eine ebenso distinguierte wie fröhliche Reisegesellschaft.
Der Aufstieg begann. Bald schritt ich Ihrer Königlichen, bald meiner holdseligen Hoheit zur Seite. Ich war sehr aufgeräumt.
Auf dem Zickzackpfade vor uns sah ich sie plötzlich …
Sie ging desselben Weges: bei dem Glanz des Sommermorgens im schwarzen Kleide! Wie kraftvoll sie ausschritt, gar nicht einzuholen. Sie blieb vor uns, befand sich bei dem beständigen Zickzack häufig gerade über uns, die schwarze Gestalt von Morgensonnenstrahlen umglüht, wie emporgehoben! Ich dagegen befand mich beständig in der Tiefe, blickte zu ihr auf, konnte nicht zu ihr gelangen. Ich strebte zu ihr hin. Sie ließ mich jedoch weit zurück, blieb unerreichbar für mich, blieb hoch über mir.
Wie ich es hier schildere, sah ich es in meiner fieberhaft erregten Einbildung. Nur, daß sie es wirklich war, und daß sie, die düstere Gestalt, umwebt von dem Strahlenschleier der Morgensonne, beständig über uns hinschritt, einem leuchtenden Aether entgegen …
Ich mußte bei Ihrer Königlichen Hoheit, der majestätischen Frau Oberhofmeisterin, der jungen, hübschen Hofdame und meiner Gattin bleiben; mußte die Anderen reden hören; mußte selbst reden. Ob Achime die dunkle Erscheinung über uns bemerkte? Ob Edda uns sah und mich erkannte? Nein! … Ja! … Nein!
Plötzlich kam mir ein toller Gedanke:
Wenn der Piz Languard, zu dem wir aufsteigen, der Piz Palü wäre – was würde ich dann tun?
Die Gräfin Wilding-Wild bei Ihrer Königlichen Hoheit zurücklassen und Edda Dafis folgen!
Sie schreitet vor mir her, ich schreite ihr nach. Keiner von uns schaut zurück nach der Welt, die wir weit und weiter hinter uns lassen, die tiefer und tiefer unter uns bleibt. Was kümmert uns beide die Welt? Sie ist die Erde; und wir streben von der Erde hinweg, dem Himmel entgegen, dem Unendlichen zu.
Jetzt erreicht sie – so erlebe ich's in meiner Phantasie – den ersten der drei Palügipfel. Aber sie schreitet weiter: über den schmalen Grat; schreitet den in Lüften, über Abgründen schwebenden Silberstreif; schreitet den Todesweg.
An der schmälsten Stelle bleibt sie stehen, wendet sich nach mir um, erblickt mich, steht mitten auf dem Todeswege, mir unbeweglich entgegenschauend, mich erwartend.
Ich bin ihr gefolgt; kann nicht zurück; muß vorwärts; muß hin, wo sie steht, mir entgegenschaut und sich nicht regt …
Was wird geschehen, wenn ich sie erreicht habe?
Plötzlich wird meine leuchtende Vision zerstört, und ich erwache aus meinem Traum: Achime hat die über uns Schreitende erblickt und sie erkannt. Ihre Augen weiten sich. Mit weit offenen Augen schaut sie empor, mit einem Ausdruck, als wäre die finstere Frauengestalt die Todesgöttin, die eine Seele von der Erde hinwegführt, hinauf in die Unendlichkeit, wohin Du uns nicht folgen kannst, arme, kleine Achime!
Als unser Zug Alp Languard erreichte, sah ich sie nicht mehr.
— — — — —
Achime behielt ihren entsetzten Blick, als hätte sie am hellen Tage ein Gespenst gesehen: das Mittagsgespenst, welches an schwülen Sommertagen umgehen soll. Alle merkten, daß mit meiner Frau etwas vorgegangen war, fragten und forschten, und die gütige Königliche Hoheit zeigte sich sehr besorgt um ihre ehemalige Hofdame. Diese versuchte die Gesellschaft zu beruhigen. Sie lächelte sogar. Aber auch in ihrem Lächeln lag für mich etwas von dem Grausen ihres Blickes. Dieser rührende Versuch, zu lächeln, hätte mir zu Herzen gehen müssen. Ich fühlte jedoch nichts. Etwas Erstarrendes kam über mich.
Nein – nicht ein Wort konnte ich der Frau sagen, die meinen Namen trägt, und an der ich von Tag zu Tag mehr zum Verbrecher werde. Ich habe entschieden Genie, Frauenseelen an ein Kreuz zu schlagen; und ich weiß doch, daß ein derartiger Todschlag zehnmal ruchloser ist, als einer mit Gift oder Dolch. Also muß er zehnfach gerächt werden.
Die Frau Erbgroßherzogin wünschte umzukehren, Achime aber erklärte: sie befinde sich wieder durchaus wohl! Vorhin habe sie ein leichter Schwindel befallen. Dabei sah sie mich an, beständig mit dem mühsamen Versuch eines Lächelns; beständig mit dem Grausen im Blick.
Die Frau Oberhofmeisterin rief aus:
»Ein Schwindel? Auf diesem harmlosen Wege? Aber, liebe Gräfin!«
»Nicht der Weg war's. Der Piz Palü hat so gespenstisch bleich herübergestrahlt; und es gibt auf dem Piz Palü einen Grat: einen schmalen, fürchterlichen, nicht viel mehr als ein Streifen, der die drei Gipfel verbindet: rechts ein grausiger Absturz, links ein grausiger Absturz. Ein wahrer Todesweg ist's! Diesen schritt kürzlich mein Mann. Daran mußte ich denken, und wurde noch nachträglich von Furcht und Zittern befallen.«
Die Frau Erbgroßherzogin lachten über das schreckhafte, feine Frauenwesen; und da Ihre Königliche Hoheit lachten, so lachten wir alle. Nur Achime behielt ihr Lächeln, darin etwas von dem Grausen ihres Blickes lag. Auch jetzt blieb ich stumm.
Ich sah, daß Achime litt, und hätte ihr Leiden, wenn nicht aufheben, so doch mildern können. Nur etwas an ihrer Seite brauchte ich zu bleiben und einigermaßen freundlich zu sein: nur freundlich; nicht einmal liebreich. Mein Dämon hielt mich von dieser Liebestat, die ein Samariterdienst gewesen wäre, zurück. Das Böse in mir, welches das Gute niedergeworfen und überwältigt hatte – allerdings nicht ohne Kampf! – raunte mir zu:
»Denke an Edda Dafis! Ihre große Seele hast Du gemartert. Die Seele dieser Frau, die Dich geliebt hat, wie Märtyrerinnen ihren Gott und Glauben lieben, dafür sie sich lebendigen Leibes von wilden Bestien in der Arena zerfleischen ließen. Und Du willst gegen diese kleine Frauennatur und ihr winziges Lieben gütig sein, während Edda Dafis vor Dir herschreitet, und ihr bloßer Anblick Dich anklagt.«
Auf diese Stimme hörend, ließ ich den Teufel meinen Gott sein; kümmerte mich nicht um das blasse Lächeln und den erloschenen Blick der leidenden Kreatur; mied sie; blieb fortan der jungen, hübschen Hofdame zur Seite, mit der ich scherzte und lachte …
Von Alp Languard aus wendeten wir uns dem Schafberge zu. Es ging fast eben hin, eine Alpenbahn ohnegleichen. Ich sah nicht die Herrlichkeit der Welt. Wäre der Versucher – ich trug ihn in meiner eigenen Brust – zu mir getreten und hätte zu mir gesprochen: »Falle vor mir nieder, bete mich an, und der Welt Herrlichkeit ist Dein!« – so würde ich geantwortet haben: »Ich will vor Dir niederknien und meine Hände zu Dir aufheben. Aber gib mir das Weib wieder, welches ich während eines kurzen Sommernachtstraumes liebte und dann verschmähte, verwarf.«
Als wir nach einiger Zeit von neuem steil anstiegen, sah ich sie wieder. Sie ging unseren Weg zur Höhe hinauf, ohne stehen zu bleiben, ohne zurückzuschauen. Da ertrug ich's nicht länger. Ich eilte der Gesellschaft voraus, blieb nicht stehen, schaute nicht zurück, dachte nicht, wie ich ihr gegenübertreten sollte, was ich ihr sagen würde …
Sie erreichte den Gipfel und ging in die Alphütte. Dort hatte Giovanni Segantini gelebt, dort war er gestorben, nachdem er Unsterbliches schuf.
Die Stätte, die ein großer Mensch betrat, ist geweiht.
An geweihter Stätte sollte ich Edda Dafis noch einmal im Leben begegnen!
In die Hütte tretend, fragte ich nach ihr. Man erwiderte mir:
»Sie geht immer gleich hinauf.«
»In Segantinis Sterbezimmer? Und »immer«? Also ist die Dame hier gut bekannt?«
»Seit vielen Jahren.«
»Wer ist sie?«
»Das wissen wir nicht; das kümmert uns auch nicht. Sie kommt oft und will oben allein sein.«
»Ich möchte hinauf!«
»Warten Sie, bis die Dame herunterkommt.«
»Ich muß hinauf!«
Ich hielt dieses nichtige Gespräch, weil ich Zeit gewinnen wollte, Fassung zu sammeln. Erst nach längerem Parlamentieren ließen mich die Hüttenleute hinauf.
— — — — —
Sie stand an dem armseligen Lager, darauf ein großer Künstler seine Seele ausgehaucht hatte, und wandte sich nicht um, als ich mit bebender Hand die Tür öffnete und eintrat. Ich mußte sie anrufen:
»Edda!«
In diesem Augenblick ward mir zu Mut, als sei ich erst vor einer Stunde von ihr gegangen, als habe ich nie aufgehört, ihren Namen zu nennen. Ich hatte geglaubt, etwas Wundersames, etwas Ungeheures müßte geschehen, wenn wir uns wieder gegenüberstehen würden; und nun ging alles so natürlich zu, als könnte es gar nicht anders sein; nun war alles so einfach.
»Edda!«
Langsam wandte sie sich zu mir. Aber sie sprach nicht. Mit einer feierlich beschwörenden Gebärde, als läge Giovanni Segantini vor uns aufgebahrt, gebot sie mir Schweigen. Sie wollte die Kammer verlassen, wollte hart an mir vorüber zur Tür, wollte wortlos von mir gehen – diesmal für immer und ewig. Da stürzte ich auf sie zu, fiel vor ihr nieder, wagte nicht, sie anzurühren, schluchzte auf, stammelte:
»Nur Dich habe ich geliebt! Nur Dich! Wo bliebst Du so lange, die Du meine einzige Liebe gewesen?«
Dann hörte ich ihre Stimme wieder zu mir sprechen:
»Ich mußte auf diesen Augenblick warten.«
»Wußtest Du denn, daß er kommen würde?«
»Und nun?«
»Nun ist alles gut.«
»Was soll jetzt geschehen?«
»Geschehen?«
»Mit Dir und mir! Denn ich lasse Dich nicht wieder.«
Sie wiederholte jedoch nur:
»Nun ist alles gut.«
— — — — —
Ich fragte sie: wann ich zu ihr kommen, wann ich ihr alles sagen dürfte? Sie erwiderte: alles sei bereits gesagt worden. Ich schrie auf:
»Ich soll Dich nicht wiedersehen?«
»Nein.«
»Du willst Pontresina verlassen?«
»Schon morgen.«
»Versprich mir eines!«
Sie sagte ein zweites Mal:
»Ich werde Pontresina morgen verlassen – da nun alles gut ist. Auch für Dich.«
»Wenn Du fortgehst, begehe ich etwas Wahnsinniges. Dagegen verspreche ich Dir, vernünftig zu sein, wenn Du bleibst. Feierlich verspreche ich Dir: nicht zu Dir zu kommen: nicht eher, als bis –«
Ich verstummte; denn ich mußte sie ansehen … Wie hatte ich nur so lange leben können – ohne in dieses Gesicht, in diese Augen zu schauen?!
Sie fragte mich:
»Bis wann soll ich bleiben?«
»Bis ich zu Dir komme, um Abschied von Dir zu nehmen. Es wird ein Abschied für Zeit und Ewigkeit sein. Wirst Du so lange bleiben?«
»Ja.«
Sie ging.
— — — — —
Als die Kavalkade auf dem Gipfel des Schafberges anlangte, empfing ich sie vor der Tür der Alphütte. Ich befand mich in einer anderen Welt; denn ich dachte nur an das eine: daß der Abschied von Edda zugleich ein Abschied von dieser Welt sein würde. Ich konnte mich bei Ihrer Königlichen Hoheit wegen meines unhöflichen Voraussteigens höflichst entschuldigen; konnte der Frau Oberhofmeisterin ein Kompliment über ihre vortreffliche Haltung zu Maultier machen; konnte mit der Hofdame scherzen und lachen, und ich konnte Achime voll in die Augen sehen; konnte sie heiter anlächeln.
»Wo ist sie hin?«
»Wer?«
»Sahst Du sie nicht? Sie ging beständig vor uns her. Wieder im schwarzen Kleide!«
»Ich weiß wirklich nicht –«
»Es war ja doch die nämliche Dame, der wir damals auf dem Wege zur Meierei begegnet sind, und die Dich so sonderbar ansah.«
»O, wirklich? Die nämliche? Schade, daß ich sie nicht wiedererkannte. Wißt Ihr, wo die Dame im schwarzen Kleide geblieben ist?«
Der Wirt der Alphütte antwortete:
»Sie stieg zur Fuorcla Muraigl herab.«
Ich wiederholte:
»Schade.«
Als Ihre Königliche Hoheit mit ihrer Gesellschaft Segantinis Sterbezimmer besichtigte, blieb ich unten und ging auf die Klippe, wo der große Künstler noch am Morgen vor seinem Tode gearbeitet hatte. In dem wilden Felsentale unter mir sah ich eine dunkle Frauengestalt hochaufgerichtet und stark zwischen dem fahlen Getrümmer zur Tiefe niedersteigen, und ich hätte ihr mit einem Jubelschrei nachrufen mögen:
»Noch ein allerletztes Mal in dieser Welt!«