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V.

 

Pontresina im Engadin.
Haus Piedermann-Barblan.
Am 13. Juni 1905.

Ihrer Königlichen Hoheit
der Frau Erbgroßherzogin Marie Luise
Schloß Augustenthal.

Königliche Hoheit,
gnädigste, gütigste Frau Erbgroßherzogin!

Heute siedelt der erbgroßherzogliche Hof aus der heißen Residenz nach dem kühlen, lieblichen Augustenthal über.

Das nämliche begab sich bereits vor hundert Jahren am 13. Juni: keinen Tag später, keinen Tag früher. Würde am 13. Juni die Welt untergehen, so würde der erbgroßherzogliche Hof beim Weltuntergang aus der in Trümmer stürzenden Residenz nach dem in Schutt sinkenden Schloß Augustenthal verlegt werden; und Kammerlakai Eichelmann meldete mittags Schlag eins, eine halbe Stunde nach dem im gelben Saale eingenommenen Dejeuner, mit unbeweglicher Miene, daß die Wagen zur Abfahrt bereit wären.

Und nach abermals hundert Jahren am 13. Juni wird ein anderer Kammerlakai Eichelmann mittags Schlag eins, eine halbe Stunde nach dem im gelben Saale eingenommenen Dejeuner, Ihrer Königlichen Hoheit, der Frau Erbgroßherzogin, die Abfahrt der Wagen nach Schloß Augustenthal melden – mit dem nämlichen unbeweglichen Gesicht.

Als ich vor vier Jahren in der bedeutungsvollsten Stunde meines bis dahin inhaltlosen Lebens an den Hof kam – wie wunderlich erschien mir damals die unumstößliche Ordnung der Dinge, die das Hofleben mit ehernen Banden umfaßt und zusammenhält. Nichts daran ist zu lockern und zu lösen! Unmöglich könnte einer der scharmanten Herren Kavaliere meiner ehrfurchtsvoll geliebten hohen Frau eine schwarze Krawatte anlegen, wenn der Herr Hofmarschall eine weiße befiehlt. Meine siebzehnjährige Unschuld vom Lande schaute aus großen Augen staunend in jene neue Welt, die ich damals nicht begriff, und die mir heute so natürlich erscheint, als ob es meine Welt wäre.

Es war keine leichte Arbeit, die neue Hofdame auf dem historisch glatten Hofparkett festen Fuß fassen zu lassen. Wenigstens die Frau Oberhofmeisterin mochte dieser Ansicht sein. Es schlüpfte sich so leichtfüßig über den schimmernden Boden, als ob das gar kein besonderes Kunststück sei. Und wieviele straucheln, fallen, brechen ein Bein, brechen den Hals. Ich fürchte, Ihrer Exzellenz wäre es gar nicht so sehr unangenehm gewesen, wenn meine kleine unbekümmerte Person auf der spiegelglatten Bahn ausgeglitten wäre und ich mir den Fuß verstaucht hätte. Allerdings nur verstaucht, nicht gebrochen. Und nur als warnendes Beispiel. Ihre Exzellenz würde ihre Hand nicht ausgestreckt haben, um den Neuling zu halten. Das tat eine andere Hand.

Gleich bei meinem ersten Schritt in die mir unbekannte Welt streckte sich diese gütige Hand nach mir aus, rührte mich leise und lind an, leitete mich … Oft habe ich die Hand meiner Fürstin an meine Lippen gedrückt – ich küsse sie heute wieder in einer Dankbarkeit ohne Ende: Dankbarkeit auch dafür, daß ich zu meiner hohen Frau so sprechen darf: so hüllenlos, als spräche ich zu mir selbst.

Ob ich mich geliebt fühle, ob ich glücklich sei?

Es waren diese beiden kleinen und doch so großen Worte, die Königliche Hoheit beim Abschiede voller Schwesterliebe mir zuflüsterten – wenn ich es so nennen darf. Meine Fürstin lehrte es mich. Die erste Zeit buchstabierte ich es mühsam; jetzt jauchze und juble ich: »Schwesterliebe«.

Geliebt, glücklich …

Ich war es noch vor einem Jahr. Denn heute vor einem Jahr, am 13. Juni 1904, war ich dabei, als Kammerdiener Eichelmann Schlag eins meldete, daß die Wagen zur Abfahrt nach Schloß Augustenthal vorgefahren wären.

Ich fuhr mit. An der Seite der Frau Erbgroßherzogin saß – nicht etwa Ihre Exzellenz, die Frau Oberhofmeisterin; auch nicht die wunderschöne Gräfin Reinfelden, sondern meine winzige Person, eigens befohlen, um, geliebt und glücklich, neben meiner hohen Frau durch Wälder und Auen dem lieben, lieblichen Augustenthal zuzufahren.

Auf dieser Fahrt – ich atme noch den Wohlgeruch der reifenden Saaten, höre noch den Lerchengesang in den Lüften, fühle noch den Glanz in meiner Seele – an jenem Tage wurde mir gesagt:

»Meine kleine Achime, Du wirst von uns allen geliebt; Du bist bei uns glücklich. Es ist jedoch nicht die rechte Liebe und nicht das wahre Glück. Da Du keine Fürstin bist und keine Krone zu tragen brauchst, kannst Du im Leben die rechte Liebe und das wahre Glück finden. Finden mußt Du es, kleine, liebe Achime!

Gerade für Dich sind die rechte Liebe und das wahre Glück notwendig.

Ich will Dir auch sagen, warum gerade für Dich. Du bist ein süßes Geschöpf; aber es taugte Dir nicht, zu uns zu kommen. Sieh mich nur ungläubig an. Es war ein Unglück für Dich, daß Du zu uns kamst.

Hofluft!

Du hast sie eingeatmet. Zuerst etwas mühsam, mit gepreßter Brust; alsdann leichter, immer leichter. Zuletzt ward sie Dir unbewußt zur Lebenslust.

Das ist gefährlich.

Als ich mich nach Dir erkundigte, sagte man mir: »Sie kennt von der Welt nur die Wälder, die um ihr heimatliches Haus rauschen; von dem Leben nur, was ein Idyll ist.«

Gleich damals hättest Du mir leid tun sollen; gleich damals hätte ich auf Dich verzichten müssen.

Sie stellten Dich mir vor, und ich verzichtete nicht. Es war unrecht von mir.

Das fühlte ich gleich damals. Aber ich entschuldigte mich vor mir selbst: »Sie ist so blütenfrisch, so voller Glanz und Jugend, Reinheit und Kraft. Mit ihr darfst Du's wagen. Sie wird Dir gut tun in Deiner Einsamkeit.«

So kamst Du denn zu mir. Achime, arme, kleine Achime – wir taten Dir ein Leids an. Du bist bei uns eine andere geworden: wir haben Dich auf dem Gewissen. Wer konnte auch denken, daß das Landpommeränzchen ein solches Weltkind wäre, ein wahres Weltdamengenie, Hoffräulein par excellence, welches mit lächelndem Kindermund die Hofluft trank und trank, bis es davon trunken ward.

Zuerst beobachtete ich die Wandlung mit Verwunderung, mit Schrecken. Zuletzt voller Angst.

Achime, kleine Achime, sind denn Galatafel und Galavorstellungen wirklich solche hochherrlichen Dinge? Sieh, ich habe Dich lieb, kleine Achime. Ich möchte Dich glücklich wissen, glücklich durch etwas Anderes, Höheres.

Durch die Liebe eines edlen Mannes …

Die Männerherzen flogen Dir zu; denn wer Dich sah, mußte Dich lieben. Dein Herz schwieg. Ungeduldig wartete ich darauf, daß es sprechen würde: in rechter Stunde, beim rechten Mann.«

So sprach meine geliebte hohe Frau zu mir am 13. Juni des Jahres 1904, und wir fuhren durch Felder und Wälder. Ich atmete den Heimatsduft der reifenden Saaten, lauschte auf den Lerchenjubel in den Lüften und sann darüber nach: ob ich überhaupt ein Herz hätte, welches sprechen könnte?

Ich wußte es nicht. Aber ich wußte, daß die hohe Frau, die mit Schwesterliebe solche ernsten Worte zu mir sprach, recht hatte; ich wußte, daß ich in der Welt des Hofes ein anderes Geschöpf geworden war: ein Geschöpf, welches mit Wonne in dem Leben des Hofes aufging, ohne jedes Gefühl von Enge und Zwang, schmetterlingsleicht hingaukelnd über Abgründe.

Königliche Hoheit werden erstaunt sein, daß ich zu solchen Ergüssen die Zeit finde. Ich habe jetzt immer Zeit. Heute zum Beispiel bin ich für volle vierundzwanzig Stunden mutterseelenallein: in einem Alt-Engadiner Bürgerhause, mit dem Ausblick auf eine Landschaft, die ich erhaben finden soll und die mir Furcht einflößt; denn sie hat für mich etwas Bedrohendes, Feindseliges, Verderbenbringendes. In diesem Zimmer sitze ich an meinem Schreibtisch vor dem Bilde meiner gütigsten Fürstin, zu der ich spreche – da ich zu meinem Gatten nicht sprechen kann; nicht zu ihm, der heute einen dieser himmelhohen, erbarmungslosen Alpengipfel besteigt. Ich schickte Kammerfrau und Diener fort, um in voller Einsamkeit mit meiner hohen Frau nach Herzenslust plaudern zu können: von allem, was mir durch den Kopf fährt. Es ist freilich ein Kopf, darin viel Tand und Torheit ihr Wesen treiben; denn anderes wird in dem Kopf eines Weltkindes wohl nicht Raum haben. Seltsam, daß meine sonst so strenge Gebieterin mit solchem Geschöpflein so große Nachsicht haben konnte: »Weil Du mir leid tatest, kleine Achime« – höre ich die leise, gütige Stimme sagen, die für mich zu der Stimme meiner besten Freundin auf Erden ward.

Ob ich Königliche Hoheit wohl immer noch leid tue? Leid auch jetzt, wo mein Herz, von dem ich glaubte, es wäre stumm, doch gesprochen hat? Gesprochen für diesen Mann, dessen kalter Glanz mir bisweilen die nämliche Bangigkeit einflößt wie der funkelnde Eisberg, den er heute besteigt.

— — — — —

Also heute vor einem Jahre langten wir auf Schloß Augustenthal an. Königliche Hoheit verabschiedeten mich nicht nur gnädigst, sondern liebevollst, und dann war ich wieder in meinem wunderhübschen blaßblauen Salon. Jedes Möbel, jeder Gegenstand stand auf seinem alten Fleck, und in den Vasen auf dem Kaminsims, in den Schalen auf den Mahagonitischen blühten genau dieselben Blumen wie jedes Jahr: Rosen, Fuchsien und Nelken, in genau derselben altväterlichen Art steif zusammengebunden. Sträuße von Rosen, Fuchsien und Nelken schmückten mein Toilettenzimmer, dessen bunte englische Kretonnetapeten, Kretonnevorhänge und Möbelbezüge mich heimisch-heiter anlächelten. Ich eilte freudig erregt in mein Schlafgemach, wo auf hohem Podest, zu dem teppichbelegte Stufen hinaufführten, unter einem Himmel von goldgelbem Damast die gewaltige Bettstatt sich erhebt, feierlich wie ein Thron.

Die Kammerfrau hatte ausgepackt, die Dinertoilette bereits zurechtgelegt und mahnte jetzt, es sei höchste Zeit. Ich mußte jedoch noch einmal von Fenster zu Fenster laufen.

Wie schön es war! Die Rasenflächen wie smaragdgrüne Seen, von alten Platanen und Eichen umschattet; die Blumenbeete gleich kleinen bunten Zaubereilanden darauf ruhend, und inmitten der Blütenpracht die weißen Marmorbilder, die Großherzog Emil Eugen für sein geliebtes Augustenthal in Rom anfertigen ließ: Kopien nach Antiken aus Villa Albani! An jenem unvergeßlichen Sommertage schaute ich jedoch die Schönheit der Welt mit nachdenklichen, mit ernsthaften Blicken. Das kam von der Fahrt durch die reifenden Saaten, bei dem Jubelgesange der Lerchen …

Wie an jedem 13. Juni, so versammelten wir uns auch heute Schlag sieben in dem Kuppelsaale, in welchen präzise fünf Minuten nach sieben die höchsten Herrschaften eintraten: der Herr Erbgroßherzog und meine Frau Erbgroßherzogin!

Dann erschien in der offenen Tür des Speisesaales der Hoffurier, und der Herr Hofmarschall machte vor den Königlichen Hoheiten seine Verneigung.

Bei Tafel sah ich neben dem Hofmarschall, dem ich durch mein stummbleibendes Herz weh tun mußte. Er ist gewiß einer der vorzüglichsten Männer des Großherzogtums, durch und durch Edelmann und zugleich Ehrenmann. Aber – weh tun mußte ich ihm doch.

Ich weiß, meine Fürstin hatte gehofft, mein törichtes Herz würde zu diesem wahrhaft vornehmen und guten Menschen sprechen können. Für ihn war es jedoch besser, ich tat ihm nur dieses eine Mal weh, als daß ich ihm viele Male bittere Schmerzen bereitet hätte. Er muß ein Mädchen zur Frau bekommen, dessen Herz nicht nur spricht, sondern jubelt: »Ich habe Dich von Herzen lieb, Du guter Mensch!« Nein – viel besser, es ist, wie es ist.

Ich saß also neben ihm, sah sein ernsthaftes Gesicht, hörte auf seine klugen Worte, dachte, daß es so besser sei, hörte den Herrn Erbgroßherzog zu Ihrer Königlichen Hoheit sagen:

»Morgen kommt ein Gast: Graf Wilding-Wild. Ich lernte ihn letzten Winter in Rom kennen und lud ihn für drei Tage nach Augustenthal ein. Er wird Dir gefallen.«

»Ist er liebenswürdig?«

»Er ist besonders. Und Du liebst das Besondere ja wohl?«

»Nur, wenn es zugleich besonders tüchtig ist.«

»Graf Wilding-Wild ist überdies eine geradezu leuchtende Männererscheinung.«

»Dann –«

»Dann ist der Herr nichts für mich« – wollten Königliche Hoheit sagen, schwiegen jedoch, blickten zu mir herüber, gewiß unwillkürlich und ganz zufällig. Mir kam es jedoch vor, als hätte der Blick meiner Herrin etwas eigentümlich Gedankenvolles, Sorgenvolles.

Nächsten Tags, gegen Abend, hielt die »geradezu leuchtende Männererscheinung« in dem Idyll von Augustenthal ihren Einzug.

Ich stand an dem Fenster meines Salons, als der Wagen, der den Gast von der Bahn abholte, vorfuhr, und sah zum Empfange des Fremden den Hoffurier, den feierlichen Stab in der Hand, aus dem Schloß treten. Als der Lakai den Schlag öffnete, zog ich mich vom Fenster zurück.

»Eine geradezu leuchtende Männererscheinung.«

Der Ausspruch des mit großen Ausdrücken sehr sparsamen Erbgroßherzogs hatte Eindruck auf mich gemacht. Ich bekam ihn nicht aus dem Sinn, versuchte mir vorzustellen, wie eine derartige Persönlichkeit sein könnte? Wahrscheinlich eben »leuchtend«. Vermutlich eine Art Salon-Lohengrin. Ich mußte über meine Phantasie lächeln, wurde jedoch gleich darauf ernsthaft: meiner Fürstin gedankenvoller Blick zu mir herüber fiel mir ein.

Aber ich bin eben doch eine rechte Evatochter! Als die Kammerfrau fragte: was ich zum Diner anziehen würde, wählte ich das Kleid aus hyazinthblauem Crêpe de Chine und den Aquamarinschmuck; also jene Toilette, darin ich sogar Seiner Königlichen Hoheit, dem Herrn Erbgroßherzog, gefiel: »Sie sehen aus, als ob Sie das Seeleneinfangen gewerbsmäßig betrieben.« Und ich hatte doch nicht einmal meine eigene Seele entdeckt!

Ich trat volle zwei Minuten zu spät in den Kuppelsaal, wo bereits alle versammelt waren, und wo der leuchtende Herr mir nicht mehr vorgestellt werden konnte, weil gleich darauf die höchsten Herrschaften gemeldet wurden. Ich hatte keine Zeit, mir den Fremden zu betrachten, sah nur, daß er sich mit unserer grandiosen Frau Oberhofmeisterin in einer Weise unterhielt, als sei das die einfachste Sache von der Welt. Im übrigen machte er einen stark brünetten Eindruck: dunkler Teint; dunkles Haar; dunkler, »spanisch« geschnittener Vollbart. Weder an seinem Frack, noch an der weißen Krawatte war etwas Außergewöhnliches zu bemerken. Und trotzdem – alles an diesem Grafen Wilding-Wild war anders, als an irgendeinem anderen eleganten Herrn. Er sah aus, als wären Frack und weiße Krawatte eigens für ihn erfunden worden, als verstünde nur er sie zu tragen.

Die höchsten Herrschaften! …

Unwillkürlich – es geschah wirklich ganz unwillkürlich – schaute ich während meines Knixes zu dem Leuchtenden hinüber: wie er sich wohl verneigte?

Wie ein Gentleman sich eben verneigt.

Der Herr Erbgroßherzog schritt sogleich auf ihn zu, bewillkommnete ihn in seiner herzlichen Weise, stellte ihn der Frau Erbgroßherzogin vor.

Meine hohe Frau war – Zoll für Zoll hohe Frau. Ihre souveräne Haltung und kühle Miene dem Gast gegenüber wurden sogleich von allen bemerkt. Auch von ihm, dem die eisige Hoheit galt. Es schien ihm jedoch durchaus nichts anzuhaben; dagegen war ich meiner Fürstin böse. Sie höre mein Bekenntnis!

Da die Frau Oberhofmeisterin rechts und die schöne Gräfin links von dem Herrn Erbgroßherzog saßen, so hatte der Fremde zwischen der Frau Erbgroßherzogin und mir seinen Platz. Auf dem Wege zum Speisesaal ließ er sich mir durch Baron Erb vorstellen. Er bemerkte mich erst, als der Hofmarschall ihm zuflüsterte, wo er sich setzen sollte:

»Rechts von Ihrer Königlichen Hoheit und links von der Baronin!«

Nun war ich begierig, wie er sich neben meiner hoheitsvollen Gebieterin benehmen würde. Würde die Frau Erbgroßherzogin ihn bald anreden? Oder würde er auf ihre Anrede gar nicht warten?

Frau Erbgroßherzogin sprachen ihn nicht an, und er wartete gar nicht darauf. Trotzdem war er die gute Form in Person, die vollendete Form! Selbst an unserem formvollendeten Hof hatte ich bis dahin solche sichere und zugleich feinste Lebensart nicht gesehen. Sehr bald empfand das auch die Frau Erbgroßherzogin. Alle empfanden es. Ich freute mich über den guten Eindruck, den der Fremde machte, ohne mir recht klar zu werden, weshalb. Es konnte mir gleichgültig sein.

Er besaß eine große Kunst der Konversation. Mit dieser beherrschte er die Unterhaltung. Dabei schien es, als sprächen die anderen und er hörte zu: mit einer wahren Kunst des Zuhörens!

Wovon sprach er eigentlich an jenem ersten Abend? Vielmehr – wovon machte er die anderen sprechen?

Von Kunst und Literatur: moderner Kunst und Literatur; von Formen und Farben; von Schönheit: von verfeinerter, höchster Schönheit.

Davon hätten wir gesprochen? Wir! Oder war es doch nur er, der sprach, und wir anderen hörten ihm zu? Jedenfalls lauschte ich seinen Worten, dem Klang seiner Stimme. Ich konnte nur dasitzen und lauschen. Denn, was wußte ich von diesen Dingen, die nach ihm den Lebensinhalt des modernen Menschen ausmachten? Und dieses neue Evangelium verkündete der Fremdling an der Tafel eines Hofes, an welchem noch immer »spanische Etikette« herrschte – wie Böswillige es nannten.

Ich hörte zu, wie unter einem Zauberbann – trotz des Blicks, den meine Fürstin über mich hingleiten ließ, wiederum ganz unwillkürlich und wiederum mit einem Ausdruck wie von Schreck, wie von Sorge.

Auch sie erlag seinem leuchtenden Wesen. Sie wehrte sich gegen ihn; aber er besiegte sie. Ich merkte es und triumphierte für den Fremden, der mich nichts anging.

Seine Unterhaltung bei Tafel war der erste starke Eindruck, den er auf mich machte – verursachte das erste schwache Erzittern meines Herzens.

Ich weiß nicht, was mich veranlaßt, dies alles auszusprechen: auf meiner Hochzeitsreise, in meiner großen Einsamkeit. Aber ich spreche es aus. Dem Manne, der mich allein ließ, kann ich es nicht sagen. Ihm gegenüber muß ich schweigen: würde er diesen leisen Ton meiner Herzensstimme doch nicht einmal hören, geschweige denn verstehen.

— — — — —

Die Frau Erbgroßherzogin wünschte den glänzenden Mann fort aus Augustenthal: meinetwillen! Sie erkannte sofort den gefährlichen Bann, den verderblichen Zauber; und – sie verstand beides. Gerade, weil sie verstand, wünschte sie, daß die leuchtende Männererscheinung niemals durch mein Leben geschritten wäre. Eigentlich hätte an jenen Tagen die schöne Gräfin Dienst gehabt. Aber ganz gegen die Hofordnung wurde ich befohlen:

»Es tut Dir nicht gut, allein zu sein, liebes Kind!«

Es tat mir stets im tiefsten Herzen wohl, dieses Wort aus ihrem Munde zu hören; nie zuvor jedoch hatte es mir so samariterhaft gut getan, als in jenen Tagen.

Er blieb nicht drei Tage, sondern eine volle Woche. Das Wetter war herrlich. In der Gartenhalle wurde das Dejeuner eingenommen. Diesem folgten Ausfahrten und Spazierritte. Zum Diner kamen Gäste. Dann Tee und Musik bei der Frau Erbgroßherzogin. Ich kam wirklich nicht dazu, »allein« zu sein; und – war es doch immer.

Während meines inneren Alleinseins mußte ich ihn beständig mit den anderen vergleichen: mit allen anderen, die ich bisher gesehen. Und von Tag zu Tag erschien er mir besonderer, leuchtender. Jeder Andere erschien neben ihm wie ein Bild ohne Farbe, wie ein Wort ohne Klang. Er kümmerte sich nicht viel um mich, sah mich jedoch bisweilen an: anders als die übrigen Damen; anders als selbst die schöne Gräfin. War er nicht anwesend, so sprach man von ihm. Selbst unsere grandiose Frau Oberhofmeisterin fand ihn ebenso »distinguiert, wie auch sonst bemerkenswert«.

Dieser Ausspruch Ihrer Exzellenz bedeutete an unserem Hofe seinen höchsten Triumph.

Er sprach nie wieder von modernen Menschen, moderner Kunst und Literatur – nie wieder von der neu entdeckten Schönheit: jener verfeinerten, berückenden Schönheit, die ich nicht kannte und die mir Furcht einflößte, als enthielte sie eine Gefahr. Und niemals sprach er von sich selbst. Nur ein einziges Mal hörte ich ihn zum Herrn Erbgroßherzog sagen:

»Als ich jung war, gab es für mich nur einen einzigen Lebensinhalt, und der war meine eigene Person. Das Leben hat mich gelehrt, über diesen Inhalt schweigsam zu werden.«

Schade. Ich hätte gern gewußt –

Er wird viel geliebt worden sein, wird viel geliebt werden. Besonders von Frauen. Er wird treulose Gattinnen machen. Das muß für ihn schrecklich sein.

Ob er selbst jemals geliebt hat? Leidenschaftlich geliebt?

Ich kann es mir nicht vorstellen; überhaupt – Ueberhaupt fehlt mir von Liebe die rechte Vorstellung. Sogar jetzt noch, wo mein Herz zu sprechen begann.

Nicht laut genug, kleine Achime! Dein Herz muß jubeln und jauchzen können, muß weinen können vor Glück, aufschreien vor Jammer.

Wie das gewesen sein muß, wenn er geliebt hat! Gleich glückseligem Tod für die Frau, die von ihm geliebt wurde.

Wie hat sie wohl ausgesehen?

Gewiß ganz anders, als andere Frauen. Wie sah ich aus? Mein Spiegel sagte es mir täglich. Mir sagten es die Menschen. Aber das Bild, welches ich täglich im Spiegel sah, war nicht das Bild der Frau, die er lieben konnte.

— — — — —

»Wir werden uns freuen, Sie im Winter wiederzusehen.«

Ich war anwesend, als er sich von den Herrschaften verabschiedete. Der Herr Erbgroßherzog richtete an ihn gnädige, gütige Worte; die Frau Erbgroßherzogin blieb stumm. Aber sie reichte ihm die Hand. Als ich ihm meine Hand gab, fühlte ich, daß sie zitterte. Arme, kleine Achime!

Dann war er fort. Und dann war es, als senkte sich auf die leuchtende Sommerwelt ein Schatten herab. Drei Tage darauf hielt der Hofmarschall bei meiner hohen Frau das zweite Mal um mich an.

Meine hohe Frau war betrübt. Sie wußte, daß ich mich inmitten der bunten Sommerpracht nach dem Winter sehnte.

Ob er kommen würde? Und wenn er kam –

Er kam! Bereits im Spätherbst kam er von Rom, wo er den ganzen Winter bleiben wollte, um im Vatikan die »Apartamenti Borgia« zu studieren.

Der erbgroßherzogliche Hof hatte das Lustschloß Mirabelle bezogen. Bis Weihnachten blieben wir dort, wo meine hohe Frau am liebsten weilte: nahe der Residenz, in ländlicher Einsamkeit.

Wir erfuhren sogleich seine Ankunft. Aber er kam nicht heraus, um sich bei den Herrschaften einzuschreiben. Man erzählte mir: er wohne im Hotel und habe sich selbst einige Zimmer eingerichtet. Also wollte er längere Zeit bleiben. Man redete viel über ihn, nannte ihn einen »dekadenten Aestheten«. Meine hohe Frau verteidigte ihn:

»Er ist vor allem ein Edelmann. Was kann er dafür, daß er ein moderner Mensch ist?«

Die regierenden Herrschaften befanden sich noch in Venedig, und der Erbgroßherzog war auf seinem Waldberge, wo er Hirsche abschoß. Wir waren trotzdem selten allein. Die Frau Erbgroßherzogin mußte Audienzen erteilen und kleine Empfänge abhalten, was den Hofdamen zu tun gab. Abends besuchten wir in der Stadt das Theater. In einer Vorstellung von »Carmen«, mit einer gastierenden Pariserin in der Titelrolle, sah ich ihn wieder.

Er saß in der Fremdenloge und – das Klopfen meines Herzens war gewiß meines Herzens Stimme.

Erst nachdem der Erbgroßherzog von den Hirschjagden zurückgekehrt war, schrieb er sich ein und gab für die Umgebungen Karten ab. Alles war durchaus korrekt.

Wie es weiter ward? Er blieb den ganzen Winter. Die regierenden Herrschaften waren entzückt von seiner Haltung, seiner Eleganz, seiner Konversation. Der Großherzog besuchte sogar seine musikalischen Abende, die er in seiner Hotelwohnung gab, und die das gesellschaftliche Ereignis der Saison bildeten. Jeden Tag hörte ich von ihm: von der Einrichtung seines improvisierten » home«; von dem Blumenarrangement und der Beleuchtung seiner Junggesellensoupers; von seinen » afternoon-teas«, bei denen er moderne Dichter vorlas und ästhetisierte. Und ich hörte von den Leidenschaften, die er einflößte. Man nannte Damen vom Theater und aus der Gesellschaft. Sogar aus der Hofgesellschaft.

Und so geschah es …

Am Ende des Karnevals hielt er bei der Frau Erbgroßherzogin um mich an.

Meine hohe Frau wußte, daß ihre arme, kleine Achime schwach sein würde; und meine hohe Frau weinte über die Schwäche ihres »Sonnenscheins«, der seit dem Sommer ein recht blasser und matter Glanz gewesen war, eine rechte Wintersonne. Niemals werde ich ihr diese um mich geweinten Tränen vergessen.

Er sagte mir nicht, daß er mich liebte; er fragte mich nicht, ob er von mir geliebt würde. Weshalb nahm er mich also zur Frau? Weshalb ließ ich mich von ihm nehmen?

Die Sprache meines Herzens war kein Jubel und Jauchzen. Und dennoch! Ich glaube, mein törichtes, schwaches Herz wäre mir in der Brust zerbrochen, wenn er nicht gekommen wäre und mich nicht – ohne mir von seiner Liebe zu sagen, ohne mich nach meiner Liebe zu fragen – zu seinem Weibe begehrt hätte.

Ich bin heute so einsam. Aus meiner tiefen Einsamkeit heraus schreibe ich alle diese unwesentlichen Dinge meiner hohen Frau, die um mich geweint hat.

Niemand auf der Welt wird wieder um die arme, kleine Achime eine Träne vergießen.

— — — — —

Und jetzt sind wir auf unserer Hochzeitsreise …

Mein Mann küßt mich des Morgens auf die Stirn, und des Abends küßt er mir die Hand. Er findet mich entzückend und liebt es, wenn ich Toilette mache. Er behandelt mich wie eine Souveränin. Nicht doch: wie ein Spielzeug, ein sehr kostbares und köstliches. Wer behandelt mich so? Graf Wilding-Wild! Daß er der Graf Wilding-Wild ist – weiter weih ich auch heute nichts von ihm.

Nichts aus feinem früheren Leben. Ich weiß nicht einmal, ob er in seinem Leben jemals geliebt hat. Und wenn er jemals geliebt hat, wann, wen? War es ein junges Mädchen oder eine verheiratete Frau?

Das eine erriet ich: die große Liebe seines Lebens war seine verstorbene Mutter. Es war seines Lebens unglückliche große Liebe! Seine Mutter muß sehr hart gegen ihn gewesen sein. Weshalb? Einmal wagte ich, ihn danach zu fragen. Er wurde blaß, sah mich an – er kann etwas so Steinernes, so Erbarmungsloses in seinem Blick haben – und antwortete:

»Meine Mutter liebte mich nicht, weil sie mich zu genau kannte.«

»Deshalb nicht?«

»Sie hielt mich für den Inbegriff aller Eitelkeiten und Eigenliebe.«

Er schwieg, und ich wagte nicht, ihn weiter nach seiner Mutter und seinem vergangenen Leben zu fragen.

Und jetzt befinden wir uns auf unserer Hochzeitsreise in diesem wilden Hochtal, in diesem seltsamen Hause, wo er schon als Knabe mit seiner Mutter gewesen war. Sollte ich sterben, und sollte er wieder heiraten: eine Frau, die nicht sein kostbares und köstliches Spielzeug ist, so kommt er sicher nicht ein drittes Mal nach Pontresina, um in diesem alten Hause Piedermann-Barblan seine zweiten Flitterwochen zu verleben, welche dann seine ersten sein werden.

Mit Schrecken erkenne ich, daß dieses kein Brief, sondern ein Bekenntnis ist. Ich kann dieses Bekenntnis nur meinem Gott und der hohen Frau machen, die an meinem Hochzeitstage um mich geweint hat.

Ich war müde vom Schreiben. Nicht meine Hand, sondern meine Seele war müde. So ließ ich denn meine müde Seele ausruhen und machte einen Spaziergang.

Unserem Hause gegenüber geht es unmittelbar den Berg hinauf. Zunächst über eine sonnige Halde zur Höhe; alsdann führt ein schöner, fast ebener Pfad durch einen Wald uralter Lärchenbäume, durch wüstes Felsgetrümmer und Felder voller Blumen. Es war früh am Vormittag. Das Tal wurde von grellen Lichtfluten durchwogt, daß es ein Wandeln durch blendenden Glanz war. Um mich summten Scharen von Insekten, und aus der Tiefe tönte das Rauschen des Baches herauf, dessen Gesang meine langen schlaflosen Nächte begleitet. Es sind die ersten Nächte meines Lebens, die ich durchwachen muß. Er weiß nichts, darf niemals davon wissen.

Ich ging den schönen Pfad durch den Lärchenwald, bis ich an den Rand einer tiefen Schlucht gelangte. Hier kehrte ich um.

Auf dem Rückweg hatte ich kurz vor mir das Schneegebirge. Alles war weißer, greller Glanz. Ich erkannte den Piz Palü dort droben. Hoch in den leuchtenden Lüften sah ich den feinen Silberstreif, den Harro mir gestern gezeigt hatte: »Dort oben werde ich morgen gehen!«

Gerade jetzt ging er den schmalen Weg; gerade jetzt schwebte er dort oben zwischen Himmel und Erde.

Wenn ihm ein Unglück geschähe, wenn er stürzte!

Ich blieb stehen und blickte hinauf … Wenn ich meine Arme auch ausstreckte, würde ich ihn doch nicht fassen und halten können.

Meinen Blick beständig auf den weißen Glanzstreifen vor mir hoch in den Lüften geheftet, ging ich weiter. Meine Seele war so müde, daß sie nicht einmal ein Stoßgebet stammeln konnte.


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