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Ich überlegte den Roman meines guten Jünglings eifrigst, verschwieg dem Helden das Ergebnis meiner Weisheit, übersandte Madame durch den Oberkellner meine Visitenkarte und ließ höflichst anfragen: wann ich empfangen werden könnte? Ich wollte mich persönlich nach Madames Befinden erkundigen. Die Dame erschien nämlich nicht im Restaurant, die drei Grazien speisten um eine Stunde früher, und als ich Daisy einmal unter den Blumen des Hotelgartens erwischte und mich bei ihr erkundigte: weshalb die ganze reizende Familie unsichtbar bliebe – erhielt ich zur Antwort:
»Mama fühlt sich nicht recht wohl. Die Luft von Pontresina ist für sie zu hoch.«
»Aha!«
»Ich fürchte, wir werden bald abreisen.«
»Oho!«
Wie das Kind das sagte! Als bedeutete die Abreise von Pontresina ein Scheiden von allem Lebensglück; und es handelte sich doch nur darum, das hübsche Gesicht des lieben Jungen nicht mehr zu sehen. Hätte er Daisys Stimme, Daisys Antlitz gesehen, so hätte der Bengel schon jetzt einen Augenblick im Paradiese gelebt, der mit der Stunde im Rosegtal wahrhaftig nicht zu teuer bezahlt worden war. Wäre mir in meinen jungen Jahren solche holde Gestalt als erste Liebe begegnet, so wäre aus mir ein Anderer, ein Besserer geworden: ein Mann, Deiner würdiger, Edda!
Also lieh ich mich bei Madame melden, machte mich auf eine Ablehnung gefaßt und traf danach meine Maßregeln. Sie erwiesen sich als unnötig; denn ich wurde sofort angenommen. Sollte die Dame den Zweck meiner Visite ahnen? … Ich wollte es ihr möglichst leicht machen.
Ihres üblen Befindens wegen war der Salon verdunkelt, was ihr vorzüglich stand. Sie erschien bei der matten Beleuchtung fast jugendlich, auffallend sehr als Madame Kundry, die ich mir als eine in den Jahren etwas vorgerückte primadonna assoluta des Gesanges und der Liebe vorstelle, entschieden ziemlich potelé. Madame hatte ihre Lippen weniger rot gefärbt und ihre schönen, blauen Augen schärfer umdunkelt, was ich ihr durchaus nicht verdachte. Sie hatte die Trauer abgelegt und sich in eine Dame in Weiß verwandelt; sie hatte in dem Morgenmantel aus Krepp und Spitzen wirklich etwas Berückendes, so daß mir der Junge noch nachträglich allen Respekt einflößte.
Ich verneigte mich außerordentlich ehrerbietig, setzte mich auf den mir mit einer matten Handbewegung angewiesenen Platz, entschuldigte höflichst die verursachte Störung, erkundigte mich besorgt nach dem Befinden, da die hohe Luft im Engadin in der Tat gefährlich sein konnte, besonders für Herzleidende:
»Sie verursacht die Bergkrankheit. Das ist ein entsetzliches Uebel! Wer von der Bergkrankheit befallen wird, leidet an Schwindel, Alpdruck, Einbildungen, Phantasien. Das Blut wird bis zu wilden Wallungen erregt, der ganze Mensch gerät außer sich.«
Madame fürchtete, diese Symptome paßten auf ihren Zustand: sie müßte abreisen! Nachdem ich meinem tiefen Bedauern Ausdruck gegeben, fragte ich leichthin:
»Darf ich eine andere Ursache meines Kommens erwähnen?«
»Ich bitte.«
»Sie betrifft meinen jungen Freund … Ich pflege ihn Parcival zu nennen.«
Sie wußte sogleich, wen ich meinte, verstellte sich meisterlich, bemerkte nachlässig:
»Ein ungewöhnlich netter junger Mensch! So reizvoll unmodern. Ich wußte nicht, daß Sie ihn so genau kennen.«
»Erst seit ganz kurzem.«
»Wirklich?«
»Ich traf ihn in einer sonderbaren Verfassung. Es geschah ganz zufällig.«
»Oh!«
»In derartigen Lagen werden einander völlig fremde Menschen sehr schnell vertraut … Madame verstehen?«
»Ganz und gar nicht.«
»Ich werde also erklären … Mein junger Freund vertraute sich mir an.«
Sie streckte ihren Arm nach einem kleinen Tisch neben dem Diwan aus – es war übrigens ein sehr weißer, noch recht jugendlicher Arm – nahm einen Fächer und bewegte ihn anmutig vor ihrem stark gepuderten Gesicht. Im Zimmer war es auch wirklich recht schwül! …
Da ich keine Antwort erhielt, so sprach ich weiter, mit womöglich noch mehr Ehrerbietung in Haltung und Stimme:
»Mein junger Freund vertraute sich mir also an. Es war von ihm sehr kindlich, sehr rührend. Madame charakterisierten den jungen Mann ausgezeichnet: er ist in der Tat sträflich unmodern.«
»Inwiefern sträflich?«
Ich genoß den Ton, in dem die schöne Frau die harmlose Frage tat.
»Mir ist niemals eine naivere – und entzückendere – erste Liebe einer guten, jungen Menschenseele vorgekommen. Trotz des Knabenhaften seiner Empfindung möchte ich Sie ersuchen –«
Ich stockte absichtlich. Es war schändlich von mir; aber ich tat es. Möglichst zögernd kam es von meinen Lippen:
»Trotzdem möchte ich Sie, meine Gnädigste, bitten, meines Freundes Knabenliebe zu Ihrem holdseligen Töchterlein – ich meine natürlich Miß Daisy – mit gütigen Augen anzusehen.«
Die Hand, die den Fächer hielt, zitterte leicht, was ich mit Genugtuung bemerkte. Doch war ich so höflich, das tiefe Aufatmen der Dame – es klang wie ein Seufzer der Erleichterung – vollkommen zu ignorieren. Ebenso die etwas erregte Art, mit der sie die Frage stellte:
»Das vertraute Ihnen der wirklich ungewöhnlich nette junge Mann an?«
Ich erwiderte im Tone größter Hochachtung:
»Das.«
»War es notwendig, Ihnen das anzuvertrauen? Eine derartige Kinderei!«
»Durchaus nicht notwendig, aber sehr hübsch, sehr rührend. So kindlich die Sache auch sein mag, so werden beide sehr bald keine Kinder mehr sein; und wenn sich die jungen Leute mit Ihrer gütigen Erlaubnis näher kennen lernen – Es scheint mir nämlich für beide Teile durchaus keine schlechte Partie zu sein. Der Vater des Jünglings – das ist ein herrlicher Mann, gnädigste Frau! – ist ein berühmter Gelehrter und lebt in den besten Verhältnissen; nach zwei, drei Jahren wird sein Sohn Privatdozent sein. Also – Immer Ihr mütterliches Wohlwollen vorausgesetzt … Wie ich mit Bedauern vernahm, denken Sie jedoch an baldige Abreise?«
Madame wußte es noch nicht genau. Es kam darauf an, wie sie sich in den nächsten Tagen befand. Und wenn der wirklich ungewöhnlich nette junge Mensch ernstlich – Gar zu kindisch war die Kinderei wohl doch nicht. Immerhin konnte es überlegt werden. Uebrigens:
»Es ist von Ihnen sehr liebenswürdig, sich des jungen Mannes so freundlich anzunehmen.«
»Nur selbstsüchtig. Man möchte doch nicht so ganz unnütz auf der Welt sein.«
»Wenn man glücklicher Gatte ist … Ihre Gemahlin ist ein Gedicht!«
»Gnädigste Frau verstehen sich auf Poesien. Mein Parcival sprach von Ihnen mit solcher Verehrung, solcher Bewunderung! … Was darf ich ihm bestellen?«
»Sagen Sie dem jungen Mann: seinetwillen freute ich mich, seinen Vertrauten so gut gewählt zu haben. Obgleich ich noch immer nicht recht verstehe, wieso er dazu kam.«
»Durch meine Zudringlichkeit. Ich merkte ihm seit langem seine Verliebtheit an; sie interessierte mich; wir begegneten uns zufällig, und da er gerade sehr erregt war, so –. Es ist ein reizvolles und zugleich reizendes Schauspiel, solche Jünglingsseele zum erstenmal in Flammen auflodern zu sehen. Bei dieser ist es ein wahrer Himmelsbrand: feu sacré. Gnädige Frau verstehen.«
Gnädige Frau verstanden, seufzten ein weniges, lächelten ein weniges, lehnten sich müde zurück, entließen mich huldvollst.
Ich entfernte mich seelenvergnügt.
— — — — —
Ueber der Parcivalaffäre vergaß ich ganz, mit meiner dekadenten Schrift auf diesem blütenweißen, unschuldigen Papier eine große Neuigkeit zu verzeichnen: seit einigen Tagen befindet sich Achimes Korbträger in Beausite! Der Herr ist weniger als je von seiner Achimenleidenschaft geheilt, also weniger als je anderweitig engagiert oder gar verlobt; steht mehr als je unter dem Zauber meiner holden Hoheit, die Qualen eines Tantalus erduldend. Letzteres tut er auf beste Manier, mit vollendetem Anstand, Zoll für Zoll Kavalier.
Ich will nicht spotten, denn ich habe dazu nicht den mindesten Grund. Im Gegenteil. Ich habe alle Ursache, den Herrn sehr achtungswert zu finden: wirklich adeliges, wirklich edles Blut, was bei uns durchaus nicht immer zutrifft. Sogar nicht immer bei einem Herrn mit sechzehn Ahnen. Der gesamte Hofstaat in Villa Beausite – einschließlich Ihrer Königlichen Hoheit, einschließlich meiner Gebieterin – zerbricht sich den Kopf: weshalb der dreimal Abgelehnte wieder erschienen ist? Schwerlich, um Zeuge des Eheglücks seiner immer noch heimlich Angebeteten zu sein.
Ich allein weiß, warum der Mann kam. Aus keinem anderen Grunde, als – weil der Mann kommen mußte. Es ist stärker als er! Stärker seine Leidenschaft, stärker seine Liebe. Denn es ist diese Empfindung in ihrer höchsten Höhe, die den Mann beherrscht. In Beausite ahnt man davon nichts. Was wissen solche Seelchen von einer Liebe, stärker als der Tod – wie die Redensart lautet. Ihre Exzellenz, die Frau Oberhofmeisterin, hat davon wirklich nicht den leisesten Begriff, was ich bei Ihrer Exzellenz durchaus begreiflich finde. Nur die höchste Person: nur Ihre Königliche Hoheit scheint mir –
Natürlich kam der Mann ohne jede Hoffnung; aber – kommen mußte er! Er leidet ein Martyrium; aber – kommen mußte er! Er schreitet einen seelischen Todesweg auf einem Piz Palü leidenschaftlicher Liebe dahin; aber schreiten mußte er ihn! Ich kann um ihn ruhig sein. Er wird den Pfad auf dem schmalen Streifen Glanzes zwischen Himmel und Erde wandeln, ohne von Schwindel erfaßt zu werden, ohne in bodenlose Tiefe zu stürzen: sein Auge ist zu klar, sein Fuß zu sicher, sein Geist zu gesund: hat er doch sogar seinen zuckenden, fiebernden Herzschlag in Gewalt! Auch diesen Liebenden könnte ich beneiden, trotzdem er unglücklich liebt. Bei ihm gibt es nichts Herabsinkendes, Untergehendes, Degeneriertes …
Seltsamerweise bin ich diesem prächtigen Manne nicht in tiefster Seele verhaßt. Die Sympathie, die er für mich zu fühlen scheint, könnte mich auf Augenblicke der Selbsttäuschung glauben machen: ich sei doch nicht ganz ein miserables Geschöpf, noch nicht verderbt bis in den Grund meiner Lebenskünstlerseele hinein.
Ein Jammer, nicht auszudenken, ist für mich, daß Achime nicht diesen wahren Edelmann wählte, sondern mich. Er hätte sie glücklich gemacht; sie hätte ihn nur zu erkennen brauchen. Das ist es: die Erkenntnis! Sie hatte vom Baum der Erkenntnis die Frucht noch nicht genossen. Wie sollte sie auch? Jetzt ist es anders geworden; jetzt zählt auch meine arme, kleine Gräfin zu den Wissenden: durch – Leiden wissend.
Ich hielt inne. Was ich in meinem Wahn hinschrieb, erscheint mir als Selbstlästerung. Wie darf ich mich so ganz als unwert und verächtlich hinstellen, wo ich der Mann doch bin, der einzige Mann, der von Edda Dafis geliebt wird. Etwas muß also doch an mir sein. Ich kenne es nicht, werde vielleicht erst in meiner Todesstunde erkennen, weshalb Edda mich geliebt hat und bis zu ihrem letzten Augenblick lieben wird, obgleich ich ihre Seele gekreuzigt.
Daß die Erkenntnis bald käme! Ich habe solche Sehnsucht nach dem letzten Wissen, dem Ende.