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Piedermann-Barblan, Juli.
… Ich hörte von ihr!
Allein dieses Von-ihr-hören erregte mich im tiefsten Innern. Ich kenne mich selbst nicht mehr. Bin ich denn noch der nämliche, der ich noch vor kurzem war? Noch vor Wochen, vor Tagen! Jeder Tag verwandelt mich mehr und mehr zu einem Menschen, der mir in keinem Zuge gleicht.
Auf dem Wege zum Piz Languard ging ich an dem Kirchlein unserer lieben Frau vorüber. Das uralte Heiligtum steckt in Blüten, als kämen die Blumen sämtlicher Gärten des Engadins zu der holden Himmlischen gewallfahrtet und hielten vor der Pforte Madonnendienst. Ich setzte mich auf die Steinbank, schloß die Augen, ließ mich von dem Blütenduft umwehen, von der Morgensonne umleuchten und empfand mein unnütz hingebrachtes Dasein als unerträgliche Last und Qual. Weshalb es also nicht abwerfen? Meine Gräfin würde sich bald trösten, obgleich sie kaum erst ihr Herzlein entdeckt hat, das – eben nur ein Herzlein ist.
Da kam ein altes, bresthaftes Frauchen den steilen, steinigen Pfad mühsam hinaufgekeucht, wollte im Sonnenschein vor der Kapelle Rast halten, sah auf der Steinbank den fremden Herrn, seufzte erbärmlich, wollte sich weiter schleppen. Ich stand auf und lieh sie auf meinem Platz ausruhen. Aus dem Munde des mühseligen Weibleins hörte ich von ihr; und niemals empfing winzige Nächstenliebe so großen Lohn.
Sie kennt Edda. Viele kennen sie hier. Denn sie ist die Frau aus der Fremde, die jedes Jahr kommt und Gaben austeilt, Gutes vollbringt; besonders an – unglücklich Liebenden.
Die Jungfrauen des Tales, die ein beladenes Herz haben, tragen es zu ihr und kommen getröstet von ihr zurück – wenigstens getröstet, wenn sie nicht zu helfen vermag. Aber oft hilft sie. Aus traurigen Verliebten macht sie frohe Bräute, glückliche Gattinnen. Ihre liebsten Pfleglinge sind jedoch die Verlassenen.
Weil die Pontresinaleute sich schwer ihren Namen merken, und weil sie nahe bei dem Kirchlein von Santa Maria wohnt, so nennt sie das Volk »die gute Frau von Santa Maria zum mitleidigen Herzen«.
Das hörte ich heute über sie erzählen …
Das mühselige Mütterchen, aus dessen Mund ich es vernahm, soll fortan gute Tage haben. Es wird mir auch die Namen der Mädchen und Frauen sagen, die durch die gute Frau vom mitleidigen Herzen Mariä frohe Bräute und glückliche Gattinnen wurden. In meinem langen, unnütz hingebrachten Leben habe ich noch niemals einen Traurigen getröstet, einem Unglücklichen beigestanden, einem Verzweifelten Hilfe gebracht.
Besonders sind es die Verlassenen, die sie tröstet, denen sie beisteht und Hilfe bringt …
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Obgleich die Sache mich nichts angeht, sprach ich doch heute mit dem Vater meines reinen Toren, der bald kein reiner Tor mehr sein wird. Der Vater ist es noch in seinen alten Tagen. Es ist doch etwas Ehrwürdiges und Ehrfurchtgebietendes um die Wissenschaft, die bis ins hohe Alter hinein einen Menschen weltfremd und kindergläubig erhalten kann. Kein anderer Beruf vermag das. Dieser greise Verkünder eines hohen Menschentums lebt wie auf einem Eiland im Ozean, mit Kinderglauben im Herzen und Kinderreinheit im Gemüt, und ich lerne durch den Vater den Sohn verstehen. Nur, daß dem Sohne sein Glaube genommen werden wird, und daß er sich ihn nehmen läßt. Der Alte hält den seinen fest, würde an gebrochenem Herzen sterben, müßte er den Glauben an seinen Sohn verlieren.
Ich machte also des Vaters Bekanntschaft. Noch vor einer Woche hätte ich es nicht getan – da die Sache mich nicht das mindeste kümmerte. Von seinem Sohn sprach ich zu ihm, und – Ehrfurcht vor seinem grauen, gelehrten Haupt und alten Kinderherzen!
Er wußte nicht, daß sein Knabe schon ein Jüngling sei, daß einem Jüngling Gefahren drohen, Versuchungen erstehen könnten; ahnte nicht die Existenz von Frauen von der Gattung der interessanten Witwe. Uebrigens hütete ich mich, ihm dieses Saisbildnis zu entschleiern, zeigte es ihm aus der Ferne. Aber als ich nur eine leise, leise Andeutung, eine leise, leise Mahnung zur Vorsicht wagte, unterbrach er mich:
»Das ist doch wohl nicht möglich?«
Und diesen kindlichen Ausspruch begleitete ein Kinderlächeln. In meinem ganzen Leben kam ich mir nicht so schlecht vor, nicht so voll schändlichen Wissens über die Frauen. Ich schämte mich vor diesem Unschuldigen meiner Kenntnisse, verachtete mich wegen meiner Meisterschaft in der Lebenskunst. Es war mir einfach unmöglich, mit dem Vater meines Parcival von dergleichen Dingen auch nur andeutungsweise zu reden.
In der trauernden Witwe erblickte er die schmerzensreiche Hoheit der Frau in Person. Und wie gütig sie zu seinem großen Knaben war; wie dieser sie bewunderte, verehrte; wie des Knaben Vater der edlen Frau dankte.
Nein – mit ihm zu reden war einfach unmöglich! Ich mußte das Unheil geschehen lassen.
Sein Knabe!
Wie dieser Vater seinen Knaben liebte! Die Mutter war bei der Geburt gestorben, und seitdem wußte der Mann von nichts anderem als von feiner Wissenschaft und seinem Knaben. Das war seine Welt! Eine Welt des Forschens und Erkennens, der Reinheit und Schönheit, der Liebe und des Glaubens, die beste aller bestehenden Welten.
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Es ist wirklich so: der argen Witwe reizendes Töchterlein liebt meines guten Gelehrten guten Sohn!
Die erste Liebe eines solchen holden Geschöpfes! Ich, der Mann des Lebens und der Leidenschaften, der Kenner der Dunkelheiten und Abgründe, der Geist des Verneinens und Verleugnens, – ich falte meine Sünderhände, stehe in Andacht versunken vor der himmlischen Erscheinung und spreche leise: »Es kann doch schön sein auf Deiner Welt, gütige Gottheit, die Du Deinen armen Menschenkindern ihre erste, unschuldige Liebe gibst!«
Wie das Kind von Tag zu Tag mehr Jungfrau wird! Ich muß bei ihrem Anblick an eine Knospe denken, die sich im Sonnenschein öffnet. Wie sie errötet, wenn der liebe, hübsche Junge ihr naht; wie sie erbebt, wenn er sie ansieht; aufstrahlt, wenn er ein Wort zu ihr spricht: so recht von oben herab – wie das einem jungen Herrn der Schöpfung solchem kleinen Mädchen gegenüber geziemt, welches für ihn eigentlich noch gar nicht auf der Welt ist. Uebrigens heißt sie Daisy. Für das Blumenwesen könnte es keinen passenderen Namen geben.
Heute abend, nach dem Diner, stand Daisy vom Tisch auf, ging hin, wo der Alte mit seinem Jungen saß, machte dem gelehrten Herrn eine allerliebste Pensionatsverbeugung und richtete, über und über errötend, dem Freunde ihrer Frau Mutter eine Botschaft derselben aus:
»Mama läßt fragen, ob es Ihnen recht wäre, morgen mit uns eine Partie zu machen?«
»Wohin soll es gehen?«
»Ueber den Corvatsch zur Fuorcla Surlej.«
»Wundervoll! Schade, daß Sie nicht mitkommen.«
»Doch.«
»Wie?«
»Ich darf auch mit.«
»Die Partie ist für Sie viel zu anstrengend.«
»Gar nicht. Ich freue mich unsäglich. Es ist fast eine Hochtour. Wie gut von Mama, mich mitzunehmen!«
»Ich werde auf Sie acht geben.«
»Wollen Sie wirklich? … Das Wetter wird doch schön bleiben?«
»Im Engadin!«
»Nicht wahr? Es ist hier himmlisch. Ich wußte nicht, es könnte etwas so Himmlisches geben. Gute Nacht … Das hätte ich fast vergessen. Mama läßt Sie bitten, einen Moment zu ihr zu kommen.«
»Mit tausend Freuden. Wo erwartet mich Ihre Frau Mutter?«
»Im Salon. Die Neapolitaner singen.«
»Wie fad!«
»Finden Sie?«
»Ich finde sie reizend.«
»O, Sie … Werden Sie auch im Salon sein?«
»Ich muß heute früh zu Bett. Wenn ich nur vor Freude schlafen kann.«
Mit dem Jungen sprach sie englisch, dem Alten wünschte sie in einem allerliebst miserablen Deutsch wohlzuruhen. Wiederum verneigte sich das Elflein zierlich vor dem würdigen Herrn, reichte dessen Sohn, wiederum über und über erstrahlend, ein elfenbeinweißes Händlein, huschte davon.
Also heute abend wird das Kind mit den Geschwistern zu Bett geschickt, und morgen dann die Partie auf den Corvatsch zu dreien – sollte sie in allerletzter Stunde für die Kleine nicht doch zu anstrengend befunden werden.
— — — — —
Madame Kundry und Monsieur Parcival bestiegen den Corvatsch ohne das Blumenkind. Ich hab's ja gewußt!
Die Zurückgelassene sah so traurig aus, ging so still umher, daß ich nachmittag Achime zu ihr schickte. Meine Gräfin fand sie im Hotelgarten, wo sie zwischen den mühsam aufgezogenen Gebüschen unter glühenden Mohnblüten saß, ein Buch aufgeschlagen im Schoß. Sie laß jedoch nicht, sondern träumte vor sich hin. Meiner Hoheit erzählte sie:
»Ich mußte zurückbleiben. Denn weil ich in der Nacht vor Freude kein Auge schließen konnte, war ich heute früh etwas müde. Ich ließ es mir gewiß nicht anmerken; aber Mama sah es mir leider an. Da sie mich zärtlich liebt, immer um mich sich sorgt, so – sie findet mich nämlich für mein Alter viel zu groß, und ich bin doch schon sechzehn Jahre! Aus lauter zärtlicher Sorge ließ sie mich zu Hause. Sie war darüber selbst so betrübt, daß ich sie trösten mußte. Natürlich sagte ich nicht, wie schwer es mir wurde, gehorsam zu sein. Gerade dieses Mal so sehr schwer! Jetzt freu' ich mich darauf, wenn beide wieder zurückkommen … Ich meine, wenn Mama wieder glücklich unten sein wird.«
Das sagte das Kind so rührend lieblich, daß meine rührende Lieblichkeit sie beim Kopf nahm und unter den roten Mohnblüten abküßte. Bei diesem plötzlichen Ausbruch von Zärtlichkeit der fremden Dame begann das Nymphlein bitterlich zu weinen.
»Kannst Du Dir denken, was der Kleinen fehlt?«
»Sie wird verliebt sein.«
»Das Kind?«
»Ach so!«
»Hattest Du keine Kinderliebe – keine erste Liebe?«
»Nein.«
»Armes Kind.«
»Das heißt –«
»Also doch!«
»Meine erste Liebe kam etwas sehr spät, und ich merkte zuerst gar nicht, daß sie gekommen war. Zu töricht, nicht wahr?«
Es war so töricht, daß ich über meine kleine, kindische Hoheit laut lachte. Lachend stand ich auf, lachend küßte ich sie auf die Stirn, lachend ging ich. Mein grausames Lachen über meines Weibes späte »erste Liebe« brachte ihr Tränen in die Augen. Aber um Himmelswillen keine Bekenntnisse! Nur jetzt keine Bekenntnisse! Außer meinen eigenen in meinem Kämmerlein, diesem verschwiegenen Freunde anvertraut.
— — — — —
Ich komme aus dem Rosegtal. Wem begegnete ich bei Acla Colani? Madame Kundry und Monsieur Parcival mit dem biedersten aller Pontresinaführer, meinem »Herrn« Bossi.
Madame sah etwas delaboriert aus, war sehr müde, sehr verstimmt, also sehr enttäuscht. Ueberdies hatte sie weder Rot auf die Lippen, noch Schwarz unter die Wimpern gestrichen.
Mein guter Junge dagegen war ganz Jugend und Kraft, Frische und Freudigkeit. Seinen Hut bekränzte Edelweiß, und ein Gärtlein Engadinflora entquoll seinem Rucksack. Er sah prachtvoll aus!
Ich grüßte die enttäuschte Dame mit wahrem Satanslächeln, den Adonis mit heller Cherubsfreude über seine bis dato gerettete Seele. Da sich die beiden Alpinisten auf sicherer Fahrstraße befanden, so durfte ich den bedächtig hinter seinen Schutzbefohlenen herschreitenden Führer zurückhalten und etwas ausfragen. Es geschah mir nämlich das nie Geschehene: neugierig zu sein.
»Wie kommt Ihr denn ins Rosegtal?«
»Vom Corvatsch herab.«
»Wollte die Dame nicht über Fuorcla Surlej nach Silvanaplana herunter?«
»War nichts damit.«
»So?«
»Verlor die Lust.«
»Oh!«
»Dem jungen Herrn tat's recht leid.«
»Wollte plötzlich ganz und gar nicht.«
»Hatte sich wohl zu sehr angestrengt?«
»Plötzlich heftiges Kopfweh.«
»Dann freilich.«
»Hat gestern im Gasthof schlecht geschlafen.«
»Die Arme. Und der junge Herr?«
»Das ist einer! Ein lieber Herr!«
»Steigt er gut?«
»Ausgezeichnet. Heute früh war er wohl etwas marode.«
»Auch schlecht geschlafen?«
»Traf gestern abend im Gasthof einen Schulkameraden, saß die halbe Nacht mit ihm auf, schwatzte und lachte, war immer noch wie ein Schulknabe. Ich glaube, er kam überhaupt nicht ins Bett; denn um drei wurde aufgebrochen.«
»Und die Dame hatte starkes Kopfweh.«
»Konnte nicht einschlafen wegen der beiden jungen, lustigen Herren. Der meine war anfangs ganz zerknirscht.«
»Nur anfangs?«
»Er fand die Welt gar zu schön. Das war ein Staunen und Wundern über die Herrlichkeit. Solch Maler sieht alles mit ganz besonderen Augen an.«
»Den jungen Herrn. Er will die Dame abzeichnen.«
»Will er?«
»Er bat die Dame um Erlaubnis, sie abzeichnen zu dürfen.«
»Gewissermaßen als Buße für die so lustig durchbrachte Nacht?«
»Gewissermaßen.«
»Und die Dame?«
»O, die Dame …«
Und der biederste aller Pontresinaführer machte ein schlaues Gesicht – ein ganz abgefeimtes, wie ich es dem glücklichen Gatten einer jungen, glücklichen Frau und stolzen Vater eines Prachtbuben gar nicht zugetraut hätte. Ueber sein verschmitztes Gesicht ärgerte ich mich derartig, daß ich ihn stehen ließ. Und ich ärgerte mich, weil der dumme Junge die Dame mit den Perlen zeichnen will.
Abends beim Diner erschien Madame in schwarzem Sammet, sah sehr blaß und sehr distinguiert aus. Die Menschenblume an ihrer Seite war plötzlich wundersam aufgeblüht. An ihrem unschuldigen Herzen, darin in Jünglingsgestalt ein Gott eingezogen war, leuchtete ein Strauß Edelweiß. Mit den feinen, weißen Fingerlein strich sie bisweilen leise darüber hin, wie zärtlich liebkosend.
Wie kann mein reiner Tor nur solch Esel sein, die Mutter zu zeichnen, wenn diese ein solches Töchterlein hat!
Die Zeichnerei erscheint mir gefährlicher als die Corvatschbesteigung; denn schwerlich darf das Töchterlein bei den Sitzungen zugegen sein. Sie finden sicher in Madames Salon statt, wo kein Schulkamerad des großen Knaben eindringen kann, und wo er auch nicht die wunderschöne Welt als Helferin und Retterin zur Seite hat, wenn die Versuchung kommt. Und sie wird kommen!
Ich schreibe das alles hin in einer Verfassung, in der Kinder sich befinden mögen, wenn sie im Dunkeln eingesperrt sind und sich fürchten. Kinder schreien vor Grausen. Ich bin in tiefer Dunkelheit, tiefer Einsamkeit und schreibe vor Angst, um nicht denken zu müssen; nicht immerfort denken an das eine, das für mich zum einzigen ward.
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In der Casa Piedermann-Barblan herrscht heller Jubel meiner holden Hoheit:
Ihre Königliche Hoheit, die Frau Erbgroßherzogin, kommt nach St. Moritz!