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III.

 

Aus meinem Kämmerlein, am 26. Juli.

Sie ist nicht abgereist, wohnt nicht in St. Moritz, wohnt hier in Pontresina, über dem Kirchlein Santa Maria, in einem châlet, der ihr gehört.

Sie kommt seit Jahren nach Pontresina, davon ich ihr erzählte: ich sei dort als Knabe glücklich gewesen. Deshalb kommt sie jedes Jahr her! Weil sie weiß, ich würde diesen Ort einmal wiedersehen wollen. Nun sah ich sie selbst wieder: auf meiner Hochzeitsreise mit meiner jungen Frau, welcher der Himmel gnädig sein möge.

So nahe wohnt sie dem Hause Piedermann-Barblan, daß ich in zwanzig Minuten bei ihr sein könnte. In weniger als zwanzig! Seitdem ich das weiß, ist Pontresina für mich nur noch der Ort, an dem Edda Dafis lebt; das ganze Engadin nur noch das Land, dessen Himmel über Edda Dafis sich wölbt. Sie atmet die nämliche Luft wie ich; blickt auf zu den nämlichen Gipfeln wie ich; sieht die Sonnenuntergangsgluten auf den Firnen in dem nämlichen Augenblick wie ich …

In weniger als zwanzig Minuten könnte ich wieder bei ihr sein, könnte ich ihre Stimme wieder hören, in ihrer Gegenwart wieder weilen, den Duft wieder atmen, der von ihrem Haar ausgeht wie von einer Blume des Südens.

In weniger als zwanzig Minuten –

Das ist heller Wahnsinn! Ich liebe sie längst nicht mehr – wenn ich sie überhaupt jemals geliebt habe. Man liebt nicht, was man quält, martert, kreuzigt. Vom Kreuz herab lächelt sie mich an; mit Dornen gekrönt, grüßt sie mich; den Speerstich im Herzen, spricht sie:

»Meine von Dir gekreuzigte Liebe steht vom Tode wieder auf; denn Liebe kann nicht sterben. Erkenne, daß sie unsterblich ist!«

So spricht sie; aber ich darf die Botschaft nicht hören. Die kurze Strecke Weges, die mich von ihr scheidet, dehnt sich für mich zu Unendlichkeiten; zwischen ihr und mir öffnet sich ein Abgrund, darüber keine Schwingen tragen.

Es müßte denn sein –

— — — — —

Ich begegne ihr kein zweites Mal, fühle mich außerstande, an etwas anderes zu denken, als an eine zweite Begegnung mit ihr. Stundenlang sitze ich in meiner Hauskajüte an meinem »neugierigen Fenster« und starre auf die weiße Landstraße. Sie ist die Landstraße aller Nationen. Man befindet sich darauf wie Unter den Linden und am Ring; wie auf einem Boulevard und einem Square. Himmlische Sonne, die du über Gerechte und Ungerechte scheinst, welche Menschheit mußt du auf dieser blendend Hellen, glühend heißen, staubigen Landstraße zwischen Julier und Bernina bestrahlen! Und nur selten, daß du dein göttliches Angesicht hinter einer barmherzigen Wolke verbirgst, von Nebeln umziehen lassest oder gar von einem höchst gemeinen, höchst herrlichen Landregen verschleiern.

Ich starre hinaus und warte vergeblich …

Wiederum werde ich ruhelos, unstät. Um Achime unter meiner neu erwachten Unrast nicht von neuem schmerzlich leiden zu lassen, benehme ich mich gegen sie ritterlicher als je. Und auch einer anderen Ursache willen.

Sie dankt mir mein Rittertum, ist dadurch gerührt, lächelt mich dafür holdselig an. Es ist ein ganz anderes Lächeln, als sie früher für mich hatte; ist nicht mehr das Lächeln des Weltkindes, der Hofdame, des verwöhnten Lieblings Ihrer Königlichen Hoheit, des oberflächlichen, inhaltlosen, reizenden Geschöpfes – das Lächeln ist's eines angstvoll wartenden, heiß ersehnenden, zärtlich liebenden Weibes.

Also kam sie doch! Die Liebe kam, berührte die noch ungeschaffene Frauenseele und –

Und ich? Und Edda? Und die Zukunft?

— — — — —

Wegen meiner exquisiten Höflichkeit, die ich mittags beim Lunch und abends beim Diner gegen meine holde Hoheit entwickele, erhalte ich für die übrige Zeit gnädigen Urlaub. Der Dispens ist für mich eine wahre Wohltat; denn ich kann mich in diesen freien Stunden darauf vorbereiten, Edda ein zweites Mal zu begegnen.

Um sie wiederzusehen, gehe ich den Fußweg nach St. Moritz und ins Rosegtal. Weder hier noch dort treffe ich sie. Auch nicht auf der Tais- oder der Rusella-Promenade. Ich muß sie auf einsameren Wegen, höheren Pfaden suchen. Also steige ich hinauf zur Alp Ota und zur Alp Muraigl, zu den Muottas da Pontresina und zum Morteratschgletscher. Von der Natur sehe ich auf diesen Suchgängen nichts, da ich nur sie sehen will und mich darauf vorbereiten muß …

Was werde ich tun? Was ihr sagen? Und sie? Wird sie mich anhören, wird sie mir antworten? Was mir antworten? Mit welcher Stimme, welchem Blick? Wie wird sie's ertragen, mich vor sich stehen zu sehen und mich zu sich sprechen zu hören? Wie werde ich es ertragen? Aber auf mich kommt es nicht an.

Meine Vorbereitungen helfen mir jedoch nichts; denn ich begegne ihr auch nicht in den Einsamkeiten der Alpenwildnisse und Eismeere – was im Engadin Einsamkeiten sind.

Nun wüßte ich ja, wo sie zu finden wäre. Ich brauchte mich nur in der Nähe ihres Hauses aufzuhalten und dort längere Zeit zu warten … Ein Auflauern wär's! Aber Andere erspähe ich von meinem Fenster aus; Anderen begegne ich auf meinen vergeblichen Suchwegen: den Personen des Dramas, das im Hotel Roseg sich abspielt.

Mein reiner Tor eilt jeden Vormittag in die Schluchtpromenade, wo er sich der Dame mit den untermalten Augen beigesellt, die jeden Vormittag, von einer der drei Grazien begleitet, desselbigen Weges geht. Es will mich bedünken, als ob die Aelteste seit kurzem merklich verändert sei. Sie scheint gewachsen, hat ein stilles Wesen, einen verträumten Blick. Sieht sie meinen Jüngling an, so leuchtet ihr Gesichtchen auf, wie von einer inneren Sonne durchglüht. Und der Bengel merkt es nicht! Nachmittags spielt er mit Mutter und Töchtern Tennis. In seinem weißen » flanel« sieht er prachtvoll aus; ihn spielen zu sehen, würde einen Michelangelo begeistern. Madame Kundry hat er als solche noch immer nicht erkannt, sonst wäre er wohl ein ganz anderer: ein aus dem Paradiese der Unschuld Vertriebener! Der Mensch glaubt nicht ungestraft an derartige Gottheiten.

Der Millionenmann, der von seiner Verlobten nicht des schnöden Mammons willen zärtlich geliebt wird, ist abwesend, wird jedoch bald erwartet, und – bald wird das schöne Raubtier seine Beute haben.

Meinetwegen! Was geht mich das alles an? Die Leidenschaften und Leiden, die Verhängnisse und Schicksale der Menschen dienen mir als eine Art von Morphiuminjektion, die mich das Schicksal, das über Achime und mir seinen dunklen Fittich breitet, für Augenblicke vergessen macht.

Nicht »edel, hilfreich und gut« sei der Mensch, sondern selbstsüchtig, selbstsüchtig, selbstsüchtig – Du mußt es dreimal sagen; denn es ist dreifach heilige Wahrheit.

— — — — —

Ich fange an, Achime mit diesem Tal ewigen Scheinens und Schimmerns recht zu geben: es hat etwas von einer Geisterwelt! Seine Bewohner gehen unter in der Fremdenflut; die Täler, Gletscher, Gipfel überschwemmt eine menschliche Sintflut. Nur die Führer und etliche andere Gestalten scheinen von den Urbewohnern übrig geblieben zu sein und sich in einer Arche gerettet zu haben. Ihrer sind jedoch so wenige, daß sie nicht einmal ihre Felder bestellen können – viel weniger ihre Wiesen: Italiener müssen es für sie tun.

Selbst die Blumen haben hier etwas von einem anderen Planeten. Es sind unirdische Fluren, von einer Blütenfülle und Farbenpracht, wie die Erde sie wo anders nicht trägt. Und aus diesem Eden steigen die Wälder des Engadins auf, die Heerscharen der zum Tode Verurteilten, der Sterbenden und Gestorbenen. Ihre Mörder, die Moose und Flechten, umklammern sie noch im Tode, Sterbende und Gestorbene mit Leichenfarbe bedeckend. Die bunten Blütengefilde breitet um sie das Engadin als die Kränze der Heimat.

Selbst die Natur sehe ich jetzt – wenn ich sie überhaupt sehe – beständig in fiebernder Erregung, seitdem Edda Dafis' abgeschiedener Geist wieder unter den Lebenden wandelt, und auch mein längst begrabenes ehemaliges Ich in meiner Seele wieder auferstand von den Toten. Das Ostern meines seelischen Menschen begann mit meiner zweiten Palü-Besteigung, und jetzt kann ich über die aufgeborstene Gruft den Stein nicht mehr zurückwälzen. Das muß für mich eine andere Hand vollbringen.

— — — — —

Ich habe den Mut, es hinzuschreiben: ich umschleiche ihr Haus, lauere ihr auf! Nicht bei Tage; dafür bin ich zu feig. Spät abends, bei Nacht komme ich geschlichen, sobald ich mich von meiner Hoheit verabschiedet habe, und ich verabschiede mich jetzt immer sehr bald. Aber ich schaue ihr dabei liebevoll in die Augen, küsse sie zärtlich auf die Stirn und – gehe. Sie läßt mich gehen. Ich weiß: wenn ich gegangen bin, so wartet sie auf meine Rückkehr, so hofft sie darauf. Mein Blick und Kuß lassen sie warten und hoffen; und allein mein Blick und Kuß sind Untreue, Verrat, Schandtat, begangen an ihrer soeben erst geschaffenen jungen Seele, darin die Gottheit Einzug hielt.

Aus meiner Kammer schleiche ich fort, schicke meinen Diener zu Bett, wobei ich dem Manne nicht ins Gesicht sehe. Sein unbewegliches, untertäniges, infames Lakaiengesicht spricht solche deutliche Sprache: »Als ob Du etwa ausgingst, um bei Stoppani noch ein Glas Bier zu trinken!« … Die Treppe schleiche ich hinab. Sie knarrt. Ich erschrecke, obgleich die alte Treppe nach Belieben knarren darf – schleiche ich doch nicht zu Lieschens Tür! Nicht einmal zu der meiner mir angetrauten Gemahlin … Ich bin glücklich hinab und hinaus, den Schlüssel des ehrenwerten Hauses Piedermann-Barblan in der Tasche … Jetzt durch Pontresinas einzige Straße, wo die Nationen immer noch gelangweilt lustwandeln … Am Hotel Saratz vorüber, beständig in Angst, ein Bekannter könnte mir begegnen, mich ansprechen, mich aufhalten … Beim Brunnen durch Pontresina-Spiert! Dann hinan nach Giarsun. Hinan zum Waldkirchlein, welches den Namen einer holdseligen, heiligen Frau führt – Deinen gesegneten Namen, Maria, Himmelskönigin, Fürbitterin armer, schuldbeladener Seelen!

Es ist dunkel, der Weg schwierig. Aber die Sterne des Engadins leuchten mir, und ich stürme den steilen, steinigen Pfad empor … Ein Wald uralter Lärchenbäume umfängt mich mit seinem Schatten wie ein heiliger Hain. Ein einsames Licht glänzt auf. Es kommt aus Eddas Haus, und sein Schein fällt auf ihr Antlitz.

Was tut sie? Sie wacht. Ob auch sie wartet? Das ist heller Wahnsinn! Worauf sollte sie warten? Daß die tote Vergangenheit aufersteht, um Mitternacht gewandelt kommt, an die Pforte pocht: »Tu' mir auf! Ich bin's! Alles zwischen uns soll wieder sein, wie es gewesen ist! Ich lebe wieder, schließe Dich wieder in meine Arme, reiße Dich wieder an mein Herz, küsse Dir wieder die Lippen wund und die Seele blutig. Du weißt ja, wie Frauenseelen bluten können. Tu' mir auf; tu' mir auf!«

Woran denkt sie bei dem einsamen Lichtschein, wenn sie nicht aufsitzt, um zu warten? … Denkt sie daran, daß dort unten ihr Mörder weilt; daß sie in kürzester Zeit vor ihm stehen und ihm zurufen könnte: »Herzschlag um Herzschlag, Seele um Seele, Leben um Leben! Denn – Du sollst nicht töten, stehet geschrieben.«

Ich umschleiche ihr Haus und starre auf den Lichtschein; ich starre darauf, bis er erlischt. Bisweilen spielt sie Harmonium. Nur sie kann so spielen! Es ist, als lebte unter ihren Händen der Geist Glucks in seinen Melodien. Ich stehe und lausche, bis der letzte Ton verhallt …

Ob sie wohl gute Nächte hat? Gute Träume? Und wenn sie erwacht, ob dann wohl ihr erster dämmernder Gedanke ist:

»In weniger als zwanzig Minuten könnte er bei Dir sein!«


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