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Die Gräfin Wilding-Wild an Ihre Königl. Hoheit,
die Frau Erbgroßherzogin Marie Luise,
zurzeit in St. Moritz Bad, Villa Beausite.
Pontresina, Haus Piedermann-Barblan,
am 1. August 1905.
Meiner gnädigsten, gütigsten Fürstin diesen Gutenmorgengruß!
Heute beim Erwachen wähnte ich mich in Augustenthal und hatte die Empfindung: ich befände mich zu Hause bei den Meinen, wo ich geliebt werde, wo ich glücklich sei: Ich lag mit geschlossenen Augen und sann über die Worte nach: »Zu Hause bei den Meinen – geliebt – glücklich.« Welcher Lebensreichtum wird mit diesen wenigen Worten ausgesprochen! Gewiß erhalte auch ich davon meinen kleinen Teil. Nur muß ich mich noch eine Weile gedulden.
Dieses Gedulden auf das Glück, welches einmal kommen wird, habe ich mir redlich verdient. Ich glaubte, das Glück sei eine Frucht, die ich vom Baume des Lebens nur zu pflücken brauchte; die mir wohl gar reif in den Schoß fiele. Ich war doch eben ein gar zu gedankenloses Geschöpf! Dafür mußte ich meine Strafe erhalten. Buße mußte ich darum tun. Und jetzt –
Jetzt weiß ich, daß ich nur noch eine kleine Weile zu warten brauche, und ich darf meine Hand nach dem Zweige ausstrecken, daran die goldene Frucht hängt. Es wird sein, als erhebe ich meine Hand zum Gebet.
Ich schreibe das alles meiner Fürstin gleich heute, weil ich gleich gestern, bei der Ankunft Eurer Königlichen Hoheit, den ängstlich fragenden Blick sah, mit dem meine beste Freundin auf Erden dem Weltkinde von damals in die Augen – in die Seele schaute. Was könnte ich tun, um mich für die zärtliche Sorge dieses Blickes dankbar zu erweisen? … Daß ich meine Seele offen darlege: »So steht es um mich!« Es wird bald besser, wird bald gut um mich stehen; und dann –
Also: ich glaubte heute früh im Schloß Augustenthal zu sein; und als die Kammerfrau eintrat, erwartete ich, sie sagen zu hören: »Ihre Königliche Hoheit lassen um zehn Uhr befehlen.
Das Frühstück wird im runden Saal eingenommen; und zum Diner kleines Décolleté.«
Da öffnete sie die Fensterläden, und die Sonne des Engadins flutete, die Musik des Engadins rauschte zu mir herein: das dumpfe Brausen des Rosegbaches und das schrille Zwitschern der Schwalben. Dann aber war gleich mein erster Gedanke: »Deine geliebte, hohe Frau ist da!«
Schon als ich gestern mit Harro auf dem Bahnhof den Zug erwartete, der Frau Erbgroßherzogin brachte, fühlte ich mich aller Nöte enthoben und so wundersam beruhigt, als sei ich fortan gesichert und geborgen. Zugleich erschrak ich über meine Empfindung, schalt mich undankbar und beichtete meinem Gatten. Nie zuvor war er so zartfühlend, so verständnisvoll. In solchen Momenten ist er gewiß der beste, gütigste, edelste aller Sterblichen. Seine feine Empfindung verschönt ihn in meinen Augen – als ob es dessen erst bedürfte? Eigentlich ist er viel zu schön für einen Mann! (Wenigstens mir erscheint er so.) Zum Glück ist er eben so vornehm wie schön. Und er ist –
Nur ein »Guten Morgen« sollte es werden, und ich bin ins Plaudern geraten. Zu diesem geschwätzigen Morgengruß meinen und meines Gatten Dank für die gnädige Einladung heute abend zum Diner. Wir kommen, wir kommen!
Muß ich erst »kommen«? Weilt doch mit dem ganzen Herzen bei Eurer Königlichen Hoheit
Höchstderselben
ehrfurchtsvoll die Hand küssend
Joachime, Gräfin Wilding-Wild.
Nachschrift: Nicht mit »dem ganzen Herzen«, Nicht mehr!