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»Leer war die Seele der Antike ...«

Leer war die Seele der Antike,
unfühlsam, sah im Schmerz allein
harte Schickung der harten Dike
und nur die körperliche Pein.

Dieses zweifache Schmerzerschüttern
zeigt uns, ihr hellster Spiegel, sie,
die Kunst in jenen zweien Müttern,
denen sie höchstes Leid verlieh.

Die greise Königin der Troer:
hundert Söhne vom Schwert zerfleischt –
aber am Meer nur irrt ihr roher
tierischer Schmerz und heult und kreischt.

Am Ufer läuft sie, Geifer speiend
wider die Flut, vom Giftschaum schwer,
wahnwitzig tollend, tobend, schreiend,
die reine Hündin und nichts mehr.

Dann Niobe, die mit Entsetzen
auf die köstlichen Fliesen starrt,
wie Schatz auf Schatz von ihren Schätzen,
Kind auf Kind ihr entrissen ward.

Der Atem stockt auf ihrem Munde,
sie stirbt in grausem Katalept –
nur eine Statue ists im Grunde,
furchtbar, – wer weiß woher? – geschleppt.

Christlicher Schmerz doch ist unendlich,
er wie selbst das menschliche Herz;
er leidet still, und unabwendlich
zieht er des Weges – gotteswärts.

Schweigend steht er, nur voller Tränen
auf Golgatha, der Stadt des Hohns,
und eine Mutter ists gleich jenen,
nur welche Mutter, welches Sohns!

Sie nimmt teil an dem Todesleiden,
das alle Welt erlösen soll;
ihr Mitleiden macht das Verscheiden
milder, weniger schreckensvoll.

Und wie alle Trüben und Armen
auf Erden ihre Söhne sind,
ist es nun, daß alles Erbarmen
aus ihren sieben Wunden rinnt.

Und kommt der Tag, da weit und offen
der Himmel steht zu seinem Preis,
wird in Glaube, Liebe und Hoffen –
bis auf den, der von Gott nichts weiß –

die ganze Schar zu Zions Hügeln,
zu der ewigen Freudenflur
sich erheben auf selgen Flügeln,
wie sie einst selbst gen Himmel fuhr.

Otto Hauser


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