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»Sechs Wochen schon ...«

Sechs Wochen schon – und vierzehn Tage noch! –
Gewiß, von allem Menschenleid ist doch
das unerträglichste: getrennt zu sein.

Man schreibt sich, sagt, wie man sich liebt. – Allein
beschwört an jedem Tag man Stimm und Blicke
des Wesens, das man eint mit seinem Glücke
und plaudert mit dem fernen stundenlang.
Doch alles Denken, aller Worte Klang,
die man dem andern aus der Ferne schreibt,
in blasser Trauerfarbe stehen bleibt.

O Trennung, zählend zu der Übel größten,
mit Phrasen und mit Worten sich zu trösten,
Gedanken grämlich aus dem Nichts zu fischen,
nur um die matte Hoffnung aufzufrischen,
und doch nichts schöpfen als das Bittre, Schale! –
Dann kommt, das Herz durchdringend gleich dem Stahle,
schneller als Vögel und Geschosse fliegen,
als Südwind, der dem Meere fern entstiegen, –
dann kommt der Pfeil des Mißtrauns, das sich regt
und feines Gift auf scharfer Spitze trägt, –
von bösen Zweifels Mächten abgesandt.

Ists wahr? – Indes, an meinen Tisch gebannt,
ich ihre Zeilen les, im Auge Tränen,
den Brief voll Treue und voll Liebessehnen,
denkt sie nicht schon zerstreut an andre Freuden?

Wer weiß, derweil mir trüb und langsam scheiden
die Tage wie ein Fluß, von müdem Wind umfächelt,
ob nicht die unschuldsvolle Lippe lächelt,
ob fröhlich mich vergißt die Ungetreue? –

Und melancholisch les ich ihren Brief aufs neue.

Max Lehrs


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