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Nicht lange blieb den Sklaven die Gefangennahme ihres Führers verborgen. Sie stürmten den Tempel und befreiten den Roten Jaguar. An ihrer Spitze zog er zum Kopalmarkt, wo viel niederes Volk sich neugierig hinzugesellte. Und der Rote Jaguar erstieg inmitten des Platzes eine umgeworfene Marktbude und hielt eine Hetzrede an das Volk.

»Warum laßt ihr euch von den Azteken knechten, ihr Chichimeken und Otomis? Etwa, weil sie aus Aztlan, dem Lande der Reiher, kämen – während ihr hier ureingesessen seid auf den Inseln und Ufern des Schilfsees? Und stammt nicht auch ihr aus den sieben Höhlen? Aber früher als jene nahmt ihr vom Lande hier und vom See Besitz, wart Herren hier, bis sie euch Land und Wasser wegnahmen, euch zu Knechten, sich aber zu Adligen machten. Jetzt sind die Adligen reich und ihr seid arm, Jetzt, wo ihr alle hungert, haben die Adligen noch immer Speise und Trank. Durch Kriege wurden die Azteken reich – darum wollen sie immer wieder den Krieg. Wir aber wollen den Krieg nicht – und wenn wir zu den Waffen greifen, so tun wir es notgedrungen, um den Krieg zu vernichten. Unser Feind sind nicht die Fremden, unser Feind sind die Aussauger des Volkes. Laßt uns die Azteken totschlagen und sofort Frieden schließen mit den Fremden!«

Ein tausendfaches Echo fand die Rede. Die Sklaven, denen sich vergrämte, zerlumpte, gieräugige, von Hunger ausgemergelte Gestalten anschlössen, drangen in die Häuser der Reichen, der Handelsherren, der Würdenträger und Staatsbeamten, ja selbst der Könige ein. Da die Adler und Jaguare Mexicos auf den Dammwegen vor den Toren Angriffe der Christen abwehrten, war die innere Stadt beinahe wehrlos der Rache und Raubgier des Pöbels preisgegeben.

Die Erbitterung des Volkes richtete sich besonders gegen die Kriegshetzer. Als solche waren die Herrin von Tula und der reiche Kaufherr Tlotli bekannt. Die Sklaven holten die Herrin von Tula aus ihrem Palast hervor, mißhandelten sie, banden sie kreuzweise an einen Yuccabaum und schossen so lange mit Pfeilen nach ihr, bis sie den Geist aufgab.

Einem gleichen oder ähnlichen Schicksal entging der Sperber dadurch, daß er beim Herannahen der wütenden Menge auf das Dach seines Tecpans stieg und Gold, Schmucksachen und Edelfedern hinabwarf. Da ließen die Sklaven davon ab, den verrammelten Haupteingang zu erbrechen, und prügelten sich mit dem Volke wegen der Kostbarkeiten. Der Sperber aber entschlüpfte mit Königin Silber-Reiher und Coxtemexi durch eine hintere Tür aus dem Tecpan. Sie sprangen in einen Kanal, schwammen, bis sie den Schilfsee erreichten, und versteckten sich im Schilf. Zwei Tage und Nächte standen sie bis an den Hals im Wasser. Schließlich fanden sie ein leeres Boot und steuerten, halb wahnsinnig vor Hunger, auf die Festung Acachinanco zu. Dort, von Tlascalteken in Gewahrsam genommen, gaben sie sich als vornehme Überläufer zu erkennen und baten, man möge sie zu Cortes geleiten, dem sie Wichtiges mitzuteilen hätten.


Die Schwarze Blume und Marina waren zugegen, als Cortes die Königin von Tezcuco mit ihren beiden Getreuen empfing. Nicht ohne Schadenfreude sah die Schwarze Blume die Demütigung seiner Schwägerin, die ihm von jeher zuwider gewesen war. Als sie aber gleich nach der Begrüßung ihm schluchzend vom martervollen Tod seiner Mutter erzählte, schluchzte er mit ihr, hemmungslos wie ein Kind. Marina und Cortes sprachen Trostworte, doch er schüttelte den Kopf und jammerte:

»Sie hat mich verflucht, weil ich ein Christ wurde ... Und doch hat sie nichts auf Erden so geliebt wie mich! Das hat sie mit den Jahren hart gemacht gegen alle, daß sie mich verlor ... Früher war sie weich, eine Dichterin, früher dachte sie wie mein Vater von den blutrünstigen Göttern und vom blutrünstigen Mexico ... Weil sie mich liebte, haßte sie den Erlöser. Ach, warum hat Gott ihr nicht vergönnt, den Segen zu erleben, den das Christentum Mexico bringen wird! ... Nun ist sie als Heidin gestorben und hat den Fluch nicht zurückgenommen!«

Die Blicke von Cortes und Marina waren sich scheu, fragend, über sich selbst erschrocken, begegnet. Schuldbewußte Blicke, die sich wie ertappt vorkamen ... Das kindliche Gemüt dieses wilden Häuptlings glaubte also wirklich noch an den Segen, den das Christentum Mexico bringen werde ...

Seinen ausgehungerten Gästen ließ Cortes ein solennes Mittagsmahl vorsetzen, – Juan Varela, der Oberkoch und Tafelmeister, durfte mit seinen Künsten Staat machen. Auch Wein wurde nicht gespart. Das lockerte die Zungen.

Silber-Reiher wurde gesprächig, Coxtemexi wurde geschwätzig. Und auch der schwerfälligere Tlotli gab seine steinerne Stummheit auf. Er hatte in den zwei Tagen – seitdem er seine Kostbarkeiten fortgeworfen, um sein nacktes Leben zu retten – vollständig die Gesinnung gewechselt. War er der eifrigste Patriot gewesen, so haßte er jetzt das vom Pöbel beherrschte Mexico. Er hatte gegen alle Friedensangebote gewettert, und jetzt erhoffte er alles Heil von einem baldigen Kriegsende – sei es, daß Mexico freiwillig Frieden schließe, sei es, daß es zum Friedensschluß gezwungen werde. Er hatte über alle Maßen die Fremden verabscheut, und jetzt entwürdigte er sich vor ihnen, lobhudelte, schmeichelte, in der Erwartung, daß sie die Pöbelherrschaft in Tenuchtitlan beseitigten, die Adelskaste und die Händlerkaste in ihre Rechte wieder einsetzen, die ihm und anderen Wohlhabenden geraubten Besitztümer zurückerstatten könnten. Um dieses Ziel zu erreichen, war ihm jedes Mittel recht.

Nachdem die Königin und Coxtemexi eine Schilderung der Hungersnot gemacht hatten (welche das Volk zwinge, sich von Ratten und Baumrinden zu ernähren ...) und nachdem sie den inneren Zwiespalt, die ungeheuren Kriegsverluste, die durch Krankheiten verursachte Sterblichkeit aufgezählt hatten, um darzutun, daß die Tage Tenuchtitlans gezählt seien, führte der Sperber in längerer Rede aus: Am Zusammenbruch sei der Herabstoßende Adler schuld. Seiner Widersacher im Priesteradel wegen habe er sich auf das Volk stützen wollen, und darum habe er die Sklaven in die Stadt gerufen. Der Tod der Herrin von Tula und der Angriff auf seinen (des Sperbers) Tecpan offenbare ja, wer der Anstifter war. Wenn erst allen Wohlhabenden das Gold abgenommen sei, werde der König auch den Armen das Gold abnehmen, es gegen Lebensmittel eintauschend, an denen er allein keinen Mangel leide. Verdoppeln werde er auf diese Weise den aus dem See gefischten Goldschatz Montezumas und werde vor der Übergabe der Stadt mit dem Goldschatz zu entfliehen suchen. Das müsse unter allen Umständen verhindert werden. Die Christen müßten alle Kanäle der Stadt verstopfen, damit er nirgendhin entweichen könne. Die Ausfüllung der Kanäle werde auch am sichersten und schnellsten den Mut der Verteidiger brechen und das Ende herbeiführen.

Auf spanisch bemerkte Cortes zu Marina:

»Was kein Feind auszudenken wagt, ersinnt so ein Verräter leichten Herzens! ...«

»Laß dies Scheusal hängen, Hernando – und ich werde dir die Hände küssen!«

»Nein, Marina! Ich werde ihn zum König von Tlatelolco machen. Denn noch niemand gab mir einen so teuflisch guten Rat wie er!«

»Du nanntest Tenuchtitlan das schönste Ding der Welt ...«

»Darum muß ich es haben, Marina!«

»Du wirst es haben und wirst mich verlieren!«

»Vielleicht verlor ich dich schon, Marina?«

Im Scherzton warf er diese Worte hin, wie ein Ballspieler den Ball zurückwirft – federnd leicht, flink, ohne Besinnung, treffend, um zu trumpfen, ohne ins Herz treffen zu wollen. Verständnislos grinste die Schwarze Blume über das Wortgeplänkel ... Und doch hatte Cortes ins Herz getroffen. Marinas Augen schimmerten feucht. Da sagte er bereuend:

»Auch mir ist weh um das schönste Ding der Welt! Und damit du mir keine Vorwürfe machen kannst (und auch ich mir selbst nicht), werde ich ein letztes Mal Guatemoc den Frieden anbieten lassen. Er mag es entscheiden, ob die glitzernden Kanäle weiterleben oder begraben werden, ob die Wasserstadt eine Wasserstadt bleibt! Wenn er diesmal wieder ablehnt, so ist er es, der die Erde ruft, daß sie das Wasser verschlinge, so ist er der Gleichmacher, der alles dem Erdboden gleichmacht – nicht ich Ich!«

Leise und bleich murmelte Marina:

»Weder er noch du! Aber ich bin die Zerstörerin! Ohne mich wäre es niemals dazu gekommen ...«


Rodrigo Rangel hielt an Cortes diese Ansprache: »Euer Liebden haben von der Königin-Witwe von Tezcuco (einer senfscharfen Dame) vernommen, daß die Mexikaner sechs unserer Rosse auf den Blutaltären geopfert haben (geradezu als ob es Menschen wären!), Motilla aber, des edlen Sandoval Streitroß, haben sie zum Gott gemacht, ihn göttlicher Ehren teilhaftig werden lassen (was doch auch nur mit Menschen zu geschehen pflegt) und haben ihm Gold zu fressen gegeben, nichts als pures Gold. Mit welchem Erfolg? Der arme Motilla ist trotz des Goldes an Hunger gestorben! – Man denke! Aber ist es überhaupt denkbar? Ist es zu begreifen? Man steckt bis an die Ohren in Gold, und man verhungert! Als ob Gras und Getreide wichtiger für das Leben seien als Gold! Eine so nüchterne Lebensauffassung hätte ich einem Rosse nicht zugetraut! Vielleicht ist es die ausgleichende Gerechtigkeit, ich möchte sagen, die poetische Gerechtigkeit: nicht jedermann kann Gold vertragen, auch nicht jedes Land ... Ein Goldland (o Sehnsuchtstraum aller Ritter und Glücksritter!) hat Nachteile – gewiß –, aber auch einen zukunftsträchtigen Vorteil: man gewöhnt sich das Essen ab, indem man wie König Midas jedes Stück Brot in Gold verwandelt. Ist das nicht der Stein der Weisen? Die Abschaffung der Armut – durch Reichtum? ... Seltsam, daß niemand früher darauf verfallen ist! ...«

So sprach Rodrigo Rangel.


Der Regen klatschte an die zinnengekrönten Außenmauern des Palastes, verglaste die skulptierten scheußlichen Mißgestalten der Basreliefs, verwandelte die roten Torbalken in rinnendes Blut. Wie graue Laken hingen die schweifenden Wolkenfetzen am Himmel, aschgrau senkte sich das Morgenlicht durch die mit dünnen Alabasterscheiben gedeckten Lichtöffnungen in die Säle und Kammern des Palastes herab. Auf einem mit flatternden Azurfaltern bestickten gelbroten Kissen saß Königin Maisblüte. Zur Rechten und zur Linken von ihr standen zwei ihrer Frauen und kämmten mit goldenen Kämmen je eine Hälfte ihres reichen, schweren Haares. Lange Kienfackeln brannten in Doppelleuchtern – zu matt war das Morgenlicht –, und die flackernden Flämmchen spiegelten sich im schwarzen Glanzhaar und spiegelten die feierlich steifen Schattengestalten der Bilderteppiche in den rieselnden Strähnen wider.

Schritte wurden im Nebensaal vernehmlich, Geklirr goldener Sandalenglöckchen. Der König nahte. Maisblüte entließ ihre Frauen. Während sie sich entfernten, trat er ein – mit Schild und Sägeschwert und Speerbündel, die dunkelrote Chamolinfederkrone auf der Stirn. Er kam sich von ihr verabschieden, wie er es jeden Morgen tat, bevor er in die Schlacht zog. Von Mictlan Tecutli, dem Totengott, ausgeliehen war auch er: – jeder Morgen konnte der letzte Morgen sein.

Die Gefahr des Sklavenaufstandes war beseitigt: Ohrring-Schlange und der Behandschuhte hatten die Plünderer überwältigt und niedergemacht, mit einem kleinen Rest des Sklavenheeres war der Rote Jaguar aus der Stadt entkommen. Aber eine andere Sorge bedrückte den König. Das neueste Friedensangebot hatte er noch nicht beantwortet. Sein Gewissen sträubte sich, es abzulehnen, – doch es nicht abzulehnen, sträubte sich sein Gewissen ebensosehr ...

Sie erriet, was ihm das Herz zerriß. Sie fragte. Und er sprach vom Kronrat, der die ganze Nacht getagt hatte. Die den Frieden befürworteten, waren überstimmt worden. Doch noch war die Antwort an den Grünen Stein nicht abgeschickt.

Und plötzlich warf sich Maisblüte vor ihm zu Boden, lag platt ausgestreckt ihm zu Füßen da und schlug mit der Stirn auf die Marmorfliesen. Ihr ärmelloses, mit einem karminenen Meermuschelmuster besticktes, weißes Entenfederhemd war beim Fall emporgeglitten und ließ den linken, kindlich magern, gelblichen Schenkel unbedeckt. Wie abgezehrt vom Hunger war auch sie, die Königin!

Ihre Finger krampften sich um seine Türkissandalen. Sie schrie:

»Opfere mich! Opfere mich!«

Er kniete bei ihr nieder, richtete sie auf, so daß sie neben ihm kniete. Und er strich ihr über das Haar, umfaßte sie, drückte sie an sich. Leise, gütig sagte er:

»Die Göttin Xochiquetzal trägt uns beide auf ihrem Rücken. Du kannst nicht sterben ohne mich!«

»Doch ich bin dein Verderben! Ich bin Mexikos Untergang!« schluchzte sie. »Der Himmel grollt, weil du mich schontest!«

»Retten läßt sich Mexico nicht mehr, auch nicht durch deinen Tod«, sagte er, »auch nicht durch meinen und aller Edlen Tod! Retten läßt sich nur Mexicos Bild und unser Bild! Das ist es, was wir verteidigen, bekränzt mit Schildblumen und Pfeilblumen im Tanz der Schlacht! Wenn wir sterben, erwachen wir aus einem Traum. Schein sind wir und diese Blumenwelt, nur unser Bild ist Wirklichkeit. Unser Bild ist nicht sterblich wie wir, es lebt fort in der Türkispyramide der Lobpreisung oder in dem Schlammpfuhl der Schmach!«

»Weh um mein Bild!« weinte Maisblüte. »Von Hand zu Hand ging mein Leib wie ein welkender Rosenstrauß! Mictlan Tecutli sollte mein fünfter Gemahl sein – nicht du!«

Da küßte er ihr die Tränen von den Augen und lächelte:

»Ich bin ja Mictlan Tecutli, der Herr der Totenwelt! Ich herrsche ja bereits über Tote, selbst ein Toter! Und auch du, mein Weib, bist eine Tote! Den Nachkommen gehört unser Bild – nicht uns. Sollen sie einst sagen: Mexico und sein König waren zu klein für ihr großes Schicksal? – Sie werden es nicht sagen, preisen werden sie uns und auch dich! Rein ist dein Bild, denn dein Herz ging nicht von Hand zu Hand. Dein Herz ist stark wie meines!«

Und er verließ sie, um dem Grünen Stein die Antwort zu geben. Seine Friedensboten waren Mexicos Heerscharen –, die suchten die Dammstraßen und die Dammlücken zu erobern, wütender denn je, aber auch diesmal – wie jedesmal – vergebens.


Haus für Haus wurde von den Belagerern niedergerissen. Und die Haustrümmer – Ziegel, Tezontlalli-Steine, Zederbalken, Hausgerät sowie unbeerdigte Aztekenleichen – dienten zur Ausfüllung der Kanäle. Stetig, wenn auch langsam, schritt das Zerstörungswerk voran. Jeden Morgen drangen von Acachinanco und von Tlacopan aus die Kastilier in das Innere der Stadt ein und verwickelten den Feind in Kämpfe, lenkten ihn ab, damit er die in ihrem Rücken tätigen Zertrümmerer der Wasserstadt bei ihrer Arbeit nicht störe – die hundertfünfzigtausend Bundesfreunde der Schwarzen Blume nämlich, die von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang im Schweiße ihres Angesichts niederrissen, zerstampften und einstampften, was vom Schilfsee erst und dann von Menschenhänden in langen Zeitläuften wundersam und einmalig schön hervorgebracht worden war. Doch selbst Vernichtung bedarf der Zeit. Und obgleich die Tlascalteken, Otomis, Chalken, Acolhuaken und Totonaken mit wilder Begeisterung keine Mühe scheuten, die verhaßte Zwingburg Tenuchtitlan zu schleifen, vergingen vier Wochen, bevor die südlichen Stadtteile, Moyotla und Teopan, und der nordwestliche, Cuepopan, in Trümmerfelder verwandelt waren, aus welchen sich trotzig nur einige schwer verwüstbare Tempelriesen und brandgeschwärzte Palastmauern emporreckten.

Bloß der nördlichste Teil der Stadt hatte noch seine gespenstischen Kanäle, seine gespenstischen aus Fluten ragenden, von Geschossen durchsiebten Häuser und beherbergte außer geflüchteten Götterbildern auch ein Volk von Schatten, das, Schritt für Schritt dem Verhängnis weichend, aus dem toten Tenuchtitlan in das sterbende Tlatelolco gedrängt worden war.

Die Geschichte Mexicos beginnt mit Tlatelolco, welches den Smaragd besaß ... Die Geschichte Mexicos endet mit Tlatelolco und dem wahnwitzigen Dulderstarrsinn seiner Verteidiger.


Einst eine Nachbarinsel, später eine Schwesterstadt und erst seit König Wassergesicht Tenuchtitlan einverleibt, war dieses Stadtviertel durch seine Lage eine kaum zugängliche Wasserfestung. Kein Damm verband Tlatelolco mit dem Lagunenufer: der Dammweg von Tlacopan mündete im Stadtteil Cuepopan, wo sich das Nordtor befand. Der zwischen Tenuchtitlan und Tlatelolco flutende Kanal war breit wie ein Seearm, und das über ihn sich wölbende Tenolli – (so wurden die steinernen Pfeilerbrücken genannt) – war jüngst von den Azteken zerstört worden.

Als eines Morgens Cortes sein Heer aus Acachinanco in die täglich mehr versinkende Stadt führte, hüllten ein feiner Sprühregen und ein wolkiger Seenebel die Fernsicht. Von den siebzig Teocalli Tenuchtitlans standen manche noch aufrecht (geschmückt mit wehenden seidenen Kreuzesfahnen auf den Sanktuar-Türmen), und die Silhouetten der himmelwärts strebenden, sich verjüngenden Tempelterrassen hoben sich matt und bläulichgrau vom weißen Nebel ab. Dem Riesenschatten des Schlangenberges an Umfang und Höhe gleich – nur schemenhafter noch durch die Entfernung, klomm der Schattenriß der Großen Stufenpyramide von Tlatelolco zum Zenit empor. Und plötzlich sah Cortes auf ihrer Spitze ein Feuer erglimmen. Und bald darauf leckte eine Stichflamme bis an die Himmelsdecke: Tezcatlipocas Heiligtum brannte. Da wußte Cortes, daß Alvarado in Tlatelolco eingedrungen war, daß es ihm geglückt war, eine Brücke über den Seearm zu schlagen.

Zwei Stunden später erfolgte die Vereinigung der beiden Christenheere auf der zum Marktplatz von Tlatelolco führenden Straße. Die beiden Feldherren umarmten und küßten sich, während die Soldaten jauchzten. Dann sprengte Cortes, nur von harnischblanken Reitern begleitet, auf den Großen Markt und ritt die porphyrnen Säulengänge entlang. Die Turniersättel ächzten. Rings auf allen Dächern standen und hockten die vorhin erst von Alvarado geschlagenen Adler und Jaguare, und sie schossen keinen Pfeil auf die klirrend und rasselnd trabenden Eindringlinge ab. Mit gramwunden Blicken starrten sie auf das sinnbildliche Schauspiel dieses feierlichen Umrittes hin: Mexicos Erde wurde zermalmt und zerstampft ...

Und dann erstieg Cortes mehrere Terrassen der Großen Stufenpyramide, in deren mit Zederngetäfel verkleidete Kapelle Alvarado die Zündfackel geschleudert hatte. Das Sanktuar war ausgebrannt, und die verglimmende Glut, aufgehalten durch die Marmorfliesen des Menschenwürgeplatzes, hatte sich nicht tiefer eingefressen, hatte die unteren Stockwerke unversehrt gelassen. Auf der zweiten Terrasse – allen Straßengängern deutlich sichtbar – waren Lanzen eingepfählt, und daran hingen die abgeschnittenen Köpfe von zwanzig Kastiliern und drei Pferdeköpfe. Tränen rollten Cortes und seinen Begleitern über die Wangen. Sie erkannten viele ihrer Kameraden – manche freilich, von Aasgeiern benagt, waren nicht mehr kenntlich. Seltsamerweise schienen die meisten Köpfe bärtiger zu sein, als sie im Leben gewesen. Wuchs das Haar der Toten? Oder ließ sich aus dem nachträglichen Bartwuchs schließen, wieviel Tage die Ärmsten im Holzkäfig hatten warten müssen auf das gräßliche befreiende Ende ...?


Und weiter stieg Cortes zu höheren Terrassen hinauf. Der Sprühregen hatte aufgehört, der Seenebel war fortgezogen, lazurblau und golden glitzerte die Welt. In der harten klaren Luft konnte er das Werk der Zerstörung gut überschauen. Dreiviertel der Arbeit war getan. Nur noch in Tlatelolco blinkten Wassergräben.

Ein kleiner buckliger Mann zupfte Cortes am Ärmel.

»Erschreckt nicht, Señor! Ich bin's ja nur, der Narr Madrid. Wir kennen uns doch ... Ja,was ich fragen wollte ...: Riecht Ihr den Pestgeruch?«

»Ja«, sagte Cortes.

»Ihr seid kurz angebunden, Señor. Aber es freut mich, daß Ihr es nicht ableugnet. Dort unten ist schlecht wohnen. Doch so ist nun einmal der Krieg. Davon später noch ein Wort ... Erst wollte ich mich erkundigen, ob Ihr zufrieden seid.«

»Womit?«

»Ei, mit dem Fortschritt. Mit der Arbeit Eurer Verbündeten. Sie ist bewunderungswürdig. Das bringen nur Indianer fertig: – so alles niederzureißen, alles gleich und eben zu machen ... nicht etwa das Niedrige zu erhöhen, sondern das Hohe zu erniedrigen ... Prachtkerle sind es, Altmeister der Verwüstungskunst! Man sollte ihnen die Erde anvertrauen – sie könnten den Weltprozeß um einige Jahrtausende verkürzen ... Habt Ihr übrigens gehört, was die Azteken ihnen zurufen? Ma xitlapopolacan ... Doch verzeiht, ich vergaß, daß Euch das Mexikanische noch immer nicht geläufig ist – darum will ich es Euch übersetzen: ›Zerstört nur unsere Stadt – je mehr ihr zerstört, um so mehr werdet ihr wieder aufbauen müssen! Als unsere Lohnknechte werdet ihr wieder aufbauen, wenn wir siegen!‹ Was wetten, Señor – so wird es geschehen! Plectuntur Achivi ...: den Achäern geht es schlecht – immer, immer –, ob die Fürsten delirieren oder nicht. Und ich fürchte, die Aztekenhäuptlinge delirieren!«

»Warum? ...«

»Weil sie nur noch für ihren Ruhm kämpfen. Und was ist Ruhm? Der Fortklang eines Namens. Wie aber sollen Namen fortklingen, die unaussprechbar sind? Einer ihrer besten Helden, der neulich den Reiter Dominguez erschlagen und sein Pferd erbeutet hat, heißt: Mixcoatlaylotlacauelitoctzin. Versucht nicht, das nachzusprechen, es würde Euch nie gelingen! Der wundervolle Kerl im grünen Federpanzer, der so stolz zum Einzelkampf herausforderte und, als – mit Eurer Gnaden Einwilligung – Maria de Estrada ihm gegenübertrat, ihr den rechten Arm absägte, heißt Teuhctlacoçauhcatzin – auch ein hübscher Name, den unsere Homeriden in kein Versmaß zwingen werden ... Tut ein Kastilier sich hervor, um sich einen Namen zu machen, so hat er es leichter ... Wunder der Tapferkeit vollführen die Azteken, und Vergessenheit wird ihr Lohn sein. Bewundert Ihr sie nicht auch, Señor?«

»Gewiß, ich bewundere sie aufrichtig!« sagte Cortes.

»Recht so! Man ehrt sich, wenn man den Feind ehrt! ... Und doch – was wißt Ihr von der Leidenswelt und vom Martyrium dieser Heimatliebe! Blickt dort hinab, wo der Pesthauch aufsteigt! (Für einen Äugenblick will ich Euch meine Gespensteraugen leihen.) Keine Gasse, wo nicht Leichen liegen, unbestattete, verwesende Leichen, einzeln oder zu Haufen geschichtet. Aus dem versinkenden Tenuchtitlan schafften die Mexikaner ihre Götter und ihre Toten nach Tlatelolco, sie vor Entweihung zu schirmen. Wo aber die Toten bergen, da die Lebenden zusammengepfercht sind wie in einem Massengrab! Zu den Begräbnisinseln hinausrudern? Die Brigantinen fangen ja jedes Boot ab! Die Toten in die Kanäle stoßen? Dort schwimmen bereits so viele ... Und die noch Lebenden – ob arm, ob reich – haben kein anderes Trinkwasser als diese salzige, faulige, verpestete Jauche der Kanäle ... Seht Ihr den kahlen Yuccabaum vor der Tempelmauer? Kein Fetzen Rinde blieb an seinem Stamm: Baumrinde war letzthin ein Leckerbissen in Tlatelolco – war ... aber als heute früh eine Mutter ihre schöne Tochter verkaufen wollte für ein Stück Baumrinde, fand sich in der Stadt kein Stück Baumrinde mehr vor ... Auch von Ratten ist Tlatelolco jetzt befreit ... Ich will Euch nicht von den scheußlichen Krankheiten erzählen, von den sterbenden Kindern, von den irr gewordenen hungertollen Frauen, die mit glänzenden Wolfsaugen durch die Gassen schleichen. Dort unten ist es wie in Proserpinas Garten, nichts als Welken, Modern und Verwallen ... Und da ich selbst ein melancholischer Schemen bin, nehme ich Partei (was man nie tun sollte!), ich nehme Partei für die Schemen. Wir sind die besiegten Sieger, Señor Capitan – womit ich Euren Sieg nicht verkleinern will. Ihr könnt zufrieden sein: Ihr habt keine halbe Arbeit getan. Vielleicht denkt Ihr: ›So ist nun einmal der Krieg, und man muß es hinnehmen, nicht die Tabula rasa ist unser Ziel, sondern die grünen Pflaumen ...‹ Gewiß, Señor Capitan, es gibt keine Medizin gegen das Achselzucken! Mich fuchst es nicht mehr. Ich ward ein abgeklärtes Gespenst. Ich weiß, daß die Welt sich nicht ändern läßt und daß der Krieg der Vater aller Dinge ist. Ich mache ja auch den Azteken gar keinen Vorwurf! Ein Volk, das ausgerottet werden soll, muß sich gründlich ausrotten lassen, damit man Respekt vor ihm habe! ...«


Als Cortes auf den Großen Markt zurückgekehrt war, hätte er nicht zu sagen vermocht, ob er ein Selbstgespräch geführt oder ob ein Bewohner jener Welt ihm das Gift des Zweifels ins Herz geträufelt (wie schon einmal nach dem Raub der Türkismaske). An der Spitze des Reitergeschwaders galoppierte Cortes über den Platz, um sein in der Straße harrendes Heer nach Acachinanco zurückzuführen. Da versperrten ihm einige dreihundert Frauen und Kinder den Weg. Lebende Skelette waren es. Sechshundert von brauner, runzliger Haut bedeckte Armknochen reckten sich in die Luft. Niedergeritten sein wollten sie oder gespeist sein. Das Geschwader hielt mitten auf dem Platz.

»Tlaxcalli! Tlaxcalli!« (Brot! Brot!) schrien die Frauen und Kinder.

Da schickte Cortes nach Brot und ließ es an die Kinder verteilen.

Auf den Dachterrassen standen und hockten die Heerscharen Mexicos, blickten die Adler und Jaguare mit gramwunden Blicken hinunter, und sie schossen keinen Pfeil den davonreitenden stahlgekleideten Teufeln nach.


Alvarado und Cortes waren in ihre Quartiere zurückgekehrt. Von Kartaunen und Feldschlangen bewacht, blieb die Floßbrücke nach Tlatelolco im Besitz der Christen.

Vier Tage lang ruhten die Waffen. Wieder hatte Cortes den Frieden angeboten, wieder wartete er vergebens auf eine Antwort. Seinen Boten, einen bei den letzten Kämpfen gefangenen Oheim der Schwarzen Blume und des Königs Ohrring-Schlange, hatte der Herabstoßende Adler opfern lassen, ohne ihn anzuhören.

Am fünften Tage drangen die beiden Christenheere wieder in Tlatelolco ein. Diesmal setzten sich die Krieger auf den Dachterrassen zur Wehr: jedes Dach wurde ein Schlachtfeld. Und so unerwartet war nach den kampflosen Tagen das Eindringen der Feinde, daß die hageren Schatten, die zahlreicher noch als neulich die Gassen, Straßen und den Großen Markt bevölkerten, schreckerstarrt verweilten. Cortes wollte sie schonen und verbot, ihnen ein Leid zu tun. Doch er hatte seine Hilfstruppen nicht in der Gewalt. Die Tlascalteken lechzten nach Rache für jahrhundertealte Knechtung. Sie stürzten sich auf die Wehrlosen, hausten wie die Wölfe in einer Lämmerherde. Zwölftausend Frauen und Kinder fanden an diesem Tage den Tod und die Erlösung.

Mehrere Tage später hörte Cortes, auf einer Dachterrasse fechtend, lautes Wehgeheul. Frauen und Kinder sah man nicht mehr auf den Straßen – das waren Männer, die weinten! ... Er ließ den Kampf unterbrechen und stieg in die Gasse hinab. Ein Zug von vornehmen, unbewaffneten Mexikanern näherte sich ihm – Türkisgebürtige waren darunter, hohe Staatsbeamte, Mitglieder des Rates der Alten. In grauen Hanfmänteln gingen sie, die ungekämmten Haare mit Asche bestreut, die Arme auf der Brust gekreuzt. Sie redeten ihn an:

»Du bist der Sohn der Sonne, die in einem Tag und einer Nacht die Welt umreist. Geschwind ist die Sonne, du aber bist es nicht: langsam tötest du uns! Warum tötest du nicht geschwinder, o Sohn der Sonne? Denn ob der Tod auch furchtbar ist – das Leben wird uns furchtbarer sein als der Tod. Ohne Freiheit leben ist schlimmer als sterben! Darum sei erbarmungsvoll, töte uns, schicke uns Huitzilopochtli zu, der uns trösten wird für unsere Leiden!«

Mit Tränen in den Augen übersetzte der junge Alonso de Ojeda diese Worte. Ergriffen gab Cortes zur Antwort:

»Unsinnige ihr – warum wollt ihr euch wie Tiere abschlachten lassen, statt über den Frieden zu verhandeln? Bot ich euch nicht oft genug den Frieden an? Versprach ich nicht, euch gut und ehrenvoll zu behandeln, als einer, der Wechselglück und Menschenjammer kennt und Seelengröße zu bewundern weiß? Aber euer König lehnte alle Angebote ab, und auch ihr seid schuldig, weil ihr ihn nicht zwangt, eurem Elend ein Ende zu setzen! Ich würde einen von euch an ihn absenden, wenn ich nicht wüßte, daß er alle meine Boten auf den Adlerstein legt!«

Weinend antwortete ein alter Würdenträger:

»O Sohn der Sonne, verweile hier, bis wir zurückkehren! Wir alle wollen deine Boten sein! Uns alle wird er auf den Adlerstein nicht legen! ... Und wir werden ihn bitten, mit dir zu verhandeln!«

»Er wird nicht wollen«, entgegnete Cortes. »Sollte er aber zu einer Begegnung bereit sein, so soll er nicht heute kommen, denn der Abend ist nicht mehr fern. Sagt ihm, daß ich ihn morgen zur Mittagszeit auf dem Großen Markt erwarte!«

Eine halbe Stunde später meldete ein mexikanischer Herold: der König von Mexico werde sich zur verabredeten Zeit einfinden.


Früher als sonst drangen tags darauf die beiden Christenheere in Tlatelolco ein und besetzten den Großen Markt. Noch befand sich an einer Schmalseite das hölzerne Schaugerüst, die Bühne, auf welcher – bald nach dem Raub der Goldmaske – ein Schauspiel zur Belustigung und Erheiterung der eingeladenen Götzen Mexicos gespielt worden war. Der Zimmermann Christobal de Jaén und seine Gehilfen mußten den ganzen Vormittag tischlern, sägen und nageln, bis die Bühne in eine mit scharlachnem Tuch verkleidete, von Fahnen und Fähnchen umwirbelte Estrade verwandelt war – legte doch Cortes Wert darauf, daß seine erste Zusammenkunft mit dem König Mexicos zahlreichen Zuschauern sichtbar sei. Juan Varela, der Oberkoch und Tafelmeister, hatte in einer Seitengasse die Leichen entfernen lassen und errichtete eine Feldküche. Buntscheckige Pagen deckten auf der Estrade eine lange Speisetafel mit weißen Linnen, stellten Weinkrüge darauf, Pokale, Bether, silberne Teller, Obstschalen, streuten Blumen auf das Tischtuch – denn Cortes wollte dem hungernden König und seinen Begleitern ein Mittagsmahl vorsetzen. Neben dem Eßtisch erhob sich ein Stehpult für den königlichen Notar Diego de Godoy, der in Galakleidung sich einfand. Gänsekiel, Tintenfaß und Pergamentrolle tragend, um ein Protokoll über die Friedensverhandlungen aufzusetzen.

Gegen zwölf Uhr ritten Cortes, Olid, Alvarado und alle anderen Feldobristen auf den Marktplatz. Sie stiegen von den Pferden, besichtigten die Estrade, lobten oder rügten die getroffenen Vorbereitungen und setzten sich auf bereitstehende Sessel. Es regnete den Tag nicht, die Augustsonne brannte sengend. Ein aus einem Tecpan geraubtes Velarium wurde über die Estrade gespannt.

Die indianischen Verbündeten waren außerhalb Tlatelolcos gelassen worden: zu scheußlich hatten sie neulich gewütet, ihre Zügellosigkeit konnte das Friedenswerk gefährden ... Die kastilischen Landsknechte – soweit sie nicht die besetzten Straßen bewachten – standen in Reih und Glied auf dem Marktplatz.

Alles war zum Empfang des Königs bereit. Doch der König kam nicht.

Olid vertrieb sich die Zeit damit, ein eisernes Hufeisen, das sein Pferd verloren hatte, zusammenzudrücken (mit Zeigefinger und Daumen machte er das) und es zusammenzuknäulen, als wäre es eine alte Papiertüte. Nachdem zwei Stunden vergangen waren, fluchte er seine absonderlichsten Flüche und sagte zu Cortes:

»Laßt den Soldaten Stühle hinsetzen, sonst laufen sie Euch davon! ... Wozu die Lammsgeduld, Don Hernando? Merkt Ihr noch immer nicht, daß man Euch zum besten hält?«

Aber Cortes ließ sich nicht beirren und wartete noch zwei Stunden.

Seitdem alle Paläste in Tenuchtitlan vernichtet waren, bewohnten die Könige von Mexico, Tezcuco und Tlacopan den Palast der wahnsinnigen Prinzessin Papan. Mit dem alten Musikmeister Löffelreiher-Schlange die Totenwacht ihrem erdrosselten Bruder Montezuma haltend, war Papan in der Nacht der Schrecken umgekommen. Ihr Geist ging um in dem noch immer schönen, von Kanonenkugeln durchlöcherten Tecpan,und manche der neuen Bewohner – greise Höflinge und schattenhafte Dienstfrauen der zu einem Schatten abgemagerten Königin Maisblüte – glaubten in stürmischen Nächten die schleierweiße Gestalt Papans zu sehen, die händeringend durch die Flucht der Säle schritt, glaubten ihre wispernden, bohrenden Reden zu hören: »Wo kannst du hinfliehen, Tochter Mexicos? Wer kann dich retten, wer kann dich in eine Truhe legen und verschließen? Zur Hure wirst du werden wie deine Schwestern alle! ...«

Während die Feldobristen auf dem Großen Markt vier Stunden lang warteten, berieten in Papans Palast die Großen des mexikanischen Reiches – es gab ihrer nicht mehr viele – mit dem Herabstoßenden Adler. Dieser hatte tags zuvor die ihm als Friedensboten nahenden Würdenträger nicht gestraft, er hatte tieftraurig, mit dem Kopf nickend, ihren Vorschlag angehört und nach längerem Zögern sich bereit erklärt, mit Cortes zusammenzutreffen. Nachträglich war es ihm leid geworden. Als die Sonne sich dem Meridian näherte, versammelte er seine Ratgeber um sich. Im silbrigen Halbdunkel eines Prunkraumes kauerten sie gramgebeugt dicht beieinander. An den Wänden die Bilderteppiche erzählten von der Größe Mexicos.

Und der Herabstoßende Adler stellte die Frage an die Hoffnungslosen:

»Der große Stein stürzt, der Himmel knistert, die Erde bewegt sich ... Blieb uns eine Hoffnung noch?«

Das Kinn auf die Knie gedrückt, stumm vor Gram saßen alle. Da sprach der Weibliche Zwilling:

»O ihr tapferen Mexikaner, eine Hoffnung blieb uns noch: die Hoffnung und das Vertrauen auf die Macht unseres Gottes Huitzilopochtli, der diese Stadt Tenuchtitlan gegründet hat.«

Eisiges Schweigen antwortete ihm. Der Weibliche Zwilling fuhr fort:

»In meiner Jugendzeit hörte ich alte Leute sagen, daß nach der Gründung dieser Stadt unsere Vorfahren mehrmals sich für verloren hielten, daß aber immer, wenn der Untergang unabwendbar schien, der Wunderbare Huitzilopochtli die Feinde Mexicos zerschmettern half. Das tat der Gott durch zwei Zauberdinge: durch den goldenen Schlangenstab, den sein Standbild in der Rechten hält, und durch das strahlende Eulengewand (seit König Molch hat es kein Mexikaner mehr getragen!). Lebendig wird der goldene Schlangenstab, wenn man ihn den Feinden entgegenhält, das strahlende Eulengewand macht die Herzen der Feinde erstarren. Viel nahmen uns die Himmelsgötter, aber diese beiden Waffen nahmen sie uns nicht. Laßt uns erst Frieden schließen, wenn der Himmel uns ein untrügliches Zeichen gegeben hat, ob er unsere Ausmerzung will oder nicht. Und dies sei das Zeichen: daß die goldene Schlange lebendig wird und daß das strahlende Eulengewand zum Schreckensvogel wird, der den Feinden das Fleisch von den Knochen reißt!«

Die düsteren Blicke leuchteten auf, ein Beifallsgemurmel summte durch den Saal.

»So sei es!« sagte Guatemoc. »Ich selbst will den Schlangenstab schwingen und das Eulengewand anlegen, das zuletzt mein Vater, König Molch, getragen hat!«

Die Berater widersetzten sich erregt.

»Spare dich auf, mein Bruder!« rief der Durch-Zauber-Verführende. »Mexico wird deiner noch bedürfen! Laß mich es tun an deiner Statt! Denn du bist Mexicos König, und wenn du fällst, ist Mexico tot!«

Guatemoc lächelte ein wehmütiges Lächeln:

»Auch wenn du fällst, mein Bruder, ist Mexico tot!«

»Nein!« rief der Durch-Zauber-Verführende. »Wenn ich falle, ist Tenuchtitlan nicht mehr zu retten. Aber Tenuchtitlan ist nicht Mexico, ist nicht Anahuac! Wenn ich falle, so kämpft hier nicht länger, steigt in die Boote, schlagt euch durch ans nördliche Schilfseeufer. Viele Städte halten noch treu zu Mexico – sie werden dir zujubeln, deine Schar wird wachsen mit jedem Tag, von neuem wird der Krieg beginnen, wird enden wie alle Kriege Mexicos geendet haben! Und wieder aufblühen werden das Wasser und die Berge!«

Ohrring-Schlange sagte:

»So kann der Stamm der Azteken vor Ausrottung bewahrt werden, wenn wir befolgen, was mein Bruder rät! Warum aber soll er zur Eule werden – warum nicht ich? Einst schworen wir in der Götterkammer des Großen Palastes beim Namen der Sonne und beim Namen Unserer Frau der Erde, gemeinsam zu leben und gemeinsam zu sterben, und wir aßen eine Handvoll Erde zur Bekräftigung des Schwurs. Da wir nicht gemeinsam sterben können, mag das Los entscheiden, wer von uns den goldenen Schlangenstab und das Eulengewand dem Feind entgegentragen soll!«

Ein Gefäß, das drei Aloedornen enthielt, wurde den Königen hingehalten. Zum Himmel blickend, griffen sie hinein. Freude durchleuchtete das abgezehrte, hohlwangige Gesicht des Durch-Zauber-Verführenden: er hatte den längsten Dorn gegriffen.

Der Kronrat war zu Ende. Guatemoc erhob sich und mit ihm seine Berater. Sie folgten ihm in einen benachbarten Tempel, wo das aus dem Schlangenberg gerettete Bildnis Huitzilopochtlis aufgestellt war. Wer aber durfte dem Gott die Waffe aus der Hand nehmen? Das greise Mexikaner-Priesterchen war schon vor Wochen an Entkräftung gestorben. Der an Rang ihm nächste Priester, der In-Blut-sich-Kleidende, schreckte vor dem Sakrileg zurück ... Da wagte es König Ohrring-Schlange. Und mit dem Edelsteinwasser von fünf weiß geschminkten Tlascalteken tränkte und versöhnte Guatemoc das staubbedeckte Idol.

Dann schritt er in den Tempelhof und hieß den Durch-Zauber-Verführenden auf eines der Schädelgerüste steigen. Es war in Mexico ein altes Herkommen, daß Jünglinge, bevor sie zum erstenmal in die Schlacht zogen, die Weihung (als Krieger) auf der Schädelstätte erhielten und feierlich mit Speer und Schild beliehen wurden. Der Herr der Welt aber gab dem König von Tlacopan den goldenen Schlangenstab und das Eulengewand Huitzilopochtlis in die Hand und sprach: »Mit roter und mit schwarzer Farbe schreibt der Sonnengott die Taten der Tapferen auf! Trage diese Federrüstung, die mein Vater getragen hat! Trage die Feuerschlange, die Mexicos Feinde frißt!«


Nachdem Cortes vier Stunden gewartet hatte, ließ er durch die Schwarze Blume und Alonso de Ojeda die indianischen Hilfstruppen nach Tlatelolco hereinführen. Und als das Tor der Hölle geöffnet war, bliesen lilienförmige Kupfertrompeten zum Angriff.

Die große Eule aber, die dem mexikanischen Heer, die Flügel spreizend, voranschritt, wurde von ihren mottenzerfressenen Schwungfedern nicht in die Lüfte getragen. Der Goldstab verwandelte sich nicht in die blaue Schlange. Eine Musketenkugel traf die heldenkühne Eule in die Stirn.

Und nun begann das Blutbad und währte bis zum Abend. Herbeigerufen waren die Geister der Hölle, durch Verbote und christliche Ermahnungen ließen sie sich nicht mehr bannen.

Die Sense mähte in dichtes Gras hinein. Steinherzige Konquistadoren wandten sich ergrausend ab – so herzzerreißend schrie das Gras.

Vierzigtausend Frauenleichen ... (wird berichtet).


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