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Ein Lied summend, ging der Spinner durch das Labyrinth der Kammern zurück, durch Höfe, Prachtsäle und Korridore. Vor dem Saal der Botschaften blieb er erstaunt stehen. Kostbarkeiten waren über den Marmorestrich gestreut. Die Tür stand offen. Niemand hinderte ihn, einzutreten. Niemand bewachte die Geschenke eines südlichen Königs. Da lagen kreisrunde Goldscheiben, Frösche aus Gold, Affen aus Gold, doppelseitige Kolibrifederdecken (die sich in eine Faust ballen ließen und leicht waren wie ein Spinngewebe), Halsbänder aus Wasser-, Milch- und Feueropal ... Inmitten dieser Herrlichkeiten befand sich ein Mumienbündel: eine in schneeweißen Baumwollstoff gehüllte hockende Gestalt, mit geweißten Stricken über Kreuz netzartig umschnürt, mit weißen Daunenhüllen und einer weißen Papierfahne geschmückt. Um den Einschnitt oberhalb der Schultern war ein karminrotes Band – gleichsam als Halskragen – geschlungen, daran walnußgroße Schellen aus Goldblech hingen. Seltsamerweise aber war vom Hals aufwärts die Umhüllung abgestreift: aus dem Mumienbündel ragte ein Mädchenkopf von berückender Schönheit hervor. Die Augenlider des Mädchens waren geschlossen, ihr Gesicht farblos, die Lippen grau.

Gebannt starrte der Spinner das tote Mädchen an. Diesen herrlich gemeißelten schwermutsvollen Mund hatte er schon einmal gesehen ... Doch wo? ... Allmählich dämmerte in ihm die Erinnerung auf an die Nacht des Sklavenauszuges. Er war der Sänfte der Königin Silber-Reiher gefolgt, nachdem Silber-Reiher und Coxtemexi beim Annalenschreiber Schutz vor dem Pöbel gesucht hatten. Vor dem Hause der Giftmischerin, der Blaubemalten, hatte er ein wunderschönes Mädchen aus den Händen dreier alter Weiber befreit, er war ihrethalb gefesselt, mit dem Tode bedroht worden, und seine alte Mutter lebte im Huei-Tecpan als Geisel ihrethalb ... Ja, die Tote im Mumienbündel war jene verfolgte junge Sklavin, war Blutfeuerstein, das Giftmädchen!

Scheu und zögernd näherte er sich ihr, zugleich abgestoßen und angezogen, bezaubert und entsetzt. Seine Gedanken flatterten wirr wie aufgeschreckte Vögel umher. War sie eines natürlichen Todes gestorben? Hatte sie, ihres Daseins überdrüssig, selbst Hand an sich gelegt? Oder war sie ermordet worden? ... Was bezweckten die Giftmischerin und ihre Auftraggeber damit, daß die Leiche mit unverhülltem Kopf zwischen den Geschenken prangte, die keinem anderen als dem Tlatohuani Mexicos, dem Herabstoßenden Adler, bestimmt waren? ...

Durch den dunklen Nebel seiner Ratlosigkeit schimmerte blitzartig vor seinen Augen die Fährte eines furchtbaren Verbrechens auf. Er suchte angstbeklommen der Spur nachzugehen, die fliegenden Gedanken auf dies Ziel zu richten ... Aber wenn seine Ahnung begründet war, so konnte die Tote nicht tot sein ...

Er redete sie an, rief ihren Namen. Sie blieb regungslos, als wäre sie Stein. Er faßte sie an die Wange. Glatt und kalt war ihre Wange, doch seltsam weich. Hoffnung schlich sich in sein Herz, jubelte in ihm: so weich ist keine Tote!

»Blutfeuerstein, Blutfeuerstein!« rief er ihr in die Ohren. Unermüdlich weckte er sie und ließ sich durch ihre Taubheit nicht entmutigen.

Da zuckte es an ihren Wimpern. Langsam hoben sich die Lider empor, und die schwarzbraunen, wässerig mit goldenen Glanzlichtern überblickten Augensterne blickten fragend und ergrauend den Raum, die Geschenke und die eigene Totengewandung an.

Sie solle vor ihm nicht erschrecken, bat der Spinner – er sei ein Freund, habe schon einmal sie von Feinden zu befreien versucht.

Ein mattes Lächeln glitt über ihre Lippen – sie erkannte ihn wieder.

Wer sie hergebracht habe? fragte er. Doch sie wußte es nicht, man habe ihr einen Betäubungstrank gegeben.

Und sie flehte, er möge die Stricke, mit denen ihr Körper umschnürt war, lösen, kaum erträglich schmerzten sie alle Glieder.

Sofort war er bereit. Wie er aber begann, die mit Kreide geweißten Stricke zu lockern, entdeckte er am Mumienbündel eine kleine Holztafel, auf welcher geschrieben stand: »Ich schlafe und werde erwachen. Mich schenkt Pichina-Vedella, König von Xoconochco, dem Herabstoßenden Adler.«

Der Spinner las die Worte laut. Sie war also unantastbar als Geschenk für den König Mexicos.

Mit Tränen gefüllt starrten ihre Augen in seine, nach Rettung suchend, an Rettung verzweifelnd. Ohne zu reden, verstanden sie einander. Beide wußten, in welcher Gefahr Guatemoc binnen kurzem schweben werde.

»Die Tafel lügt!« murmelte Blutfeuerstein. »Mich schenkt nicht der Fürst von Xoconochco, mich schenkt die verschleierte Frau, die mich der Blaubemalten abgekauft hat ... Wüßte ich, wer sie ist ...«

»Eine Mörderin!« knirschte der Spinner.

»Nopiltzine – o mein Herr –, du kennst ihren Namen und darfst ihn nicht nennen. Ich stand dabei, als sie deine Fesseln lösen ließ und drohte, deine Mutter zu töten, wenn du dies verrätst ... Wie aber können wir den König warnen? Niemand wird mir glauben, wenn ich die Wahrheit sage.«

Der Spinner schwieg, hin und her gezerrt von Wunsch und Angst. Nach einer Weile sagte er zaghaft:

»Und doch müssen wir den König warnen!«

Blutfeuerstein schüttelte den Kopf:

»Nopiltzine, willst du deine Mutter opfern? Einst trankst du ihre Milch – willst du jetzt ihr Blut trinken?«

Der Spinner senkte den Blick zu Boden und gab keine Antwort.

»Nein, das sollst du nicht!« fuhr sie fort. »Bloß ich kann den König vor meinen Küssen bewahren ... Der Speichel meines Mundes ist ein Todesgift, meine Lippen morden ... Längst sehne ich mich hinab ins Land, wo die Blumen stehen, längst locken mich die gelben Schmetterlinge Mictlan Tecutlis ... Hast du ein Messer?«

»O Blutfeuerstein, ich kann dich nicht töten!«

»Lockere meinen rechten Arm und gib mir ein Messer! ... Ich will es!« befahl sie in herrischem Ton.

»Du willst dich selbst töten?«

»Ich will den König beschützen vor mir!«

Der Spinner fügte sich ihrer stählernen Entschlossenheit. An ihrer Schulter knotete er den weißen Strick auf, so daß ihre rechte Hand frei wurde.

»Wo ist das Messer?« drängte sie.

»Ich habe keins ...«

»Geh schnell und hole es!«

Er gehorchte ihr. Seine Mutter oder Blutfeuerstein oder Guatemoc mußte sterben. Wenn das Giftmädchen umkam, so war es für alle und für sie selbst ein Glück: ihr Tod würde ihr das Verbrechen und die grauenvolle Rache der Mexikaner ersparen ...

Der Spinner eilte hastig aus dem Saal.


Allein blieb Blutfeuerstein nur wenige Augenblicke. Kaum hatte sich der Dichter entfernt, als durch eine andere Tür der junge König von Tlacopan in den Saal der Botschaften trat. Wie sämtliche Türkisgebürtigen hatte auch er sich der Büßerprozession angeschlossen und war nun als einer der ersten in den Huei-Tecpan zurückgekehrt, noch heiß durchzittert von der Raserei der Selbstpeiniger.

Aus grübelndem Sinnen riß ihn das absonderliche Bild des aus Juwelen aufragenden lebendigen Mumienbündels. Er trat heran, als sähe er eine Traumerscheinung. Unwirklich, unirdisch, blumenhaft war der aus Leichentüchern emporblühende Mädchenkopf.

»Cihuapille, bist du vom Tode erwacht?«

»Nopiltzine, ich werde bald tiefer schlafen!«

»Cihuapille, wer enthüllte dein Antlitz?«

»Nopiltzine, während ich schlief, geschah es.«

»Cihuapille, schmerzen dich deine Glieder?«

»Ja, meine Glieder schmerzen mich.«

Sogleich knotete er die Stricke auf und schälte sie aus den Tüchern.

»Bist du der Herr der Herren?« fragte sie ihn, da sie sah, daß ihn die blaue Stirnbinde schmückte.

»Nein, Cihuapille. Doch ich bin sein Freund. Darum darf ich tun, was keiner tun darf.«

Und er versuchte sie zu küssen. Wild stieß sie ihn von sich, so daß er zurücktaumelte. Und jählings fühlte er, daß Xochiquetzal, die Göttin der Liebe, ihn mit ihrer Blume berührt hatte. Für immer war er ihr verfallen ...


Mit einem Knochendolch in der Hand kehrte der Spinner in den Saal zurück. Er schwankte ein wenig – Mut geholt hatte er sich bei den Erwürgern, den vierhundert Pulquegöttern. Seine gläsernen Augen mühten sich, zu enträtseln, was in seiner Abwesenheit geschehen sein mochte. Aufrecht stand da Blutfeuerstein im reich gestickten Hemd, mit zwei handbreiten violetten Streifen in der Hüftengegend und am unteren silberbefransten Saum, violett leuchteten unterhalb der Silberfransen, an den schlanken Waden hinabreichend bis zu den Fußknöcheln, ganz eng anliegende strumpfähnliche Beinkleider, das mit Indigo gefärbte Haar umrahmte schmal die länglichen, gelb gepuderten Wangen ein. Und ihr gegenüber stand funkelnd von Königsinsignien und metallisch lohenden Edelfedern der Durch-Zauber-Verführende, ihrer Schönheit verknechtet und sie stumm anflehend mit den wunden Blicken eines Liebenden.

Nicht so trunken war der Spinner, daß er nicht begriff: hier sei ein neues Opfer, das er retten mußte und doch nicht retten konnte. Zu spät war er gekommen. Angstvoll verbarg er den Knochendolch.

Goldsandalen, mit Schellen verziert, erklirrten auf dem steinernen Estrich. Der Herabstoßende Adler trat ein mit einem kleinen Gefolge. Vor seinen erstaunten Augen blinkten Wasseropale, Milchopale und Feueropale, spiegelten sich im glashaft polierten Marmorboden, und ein Mädchen überstrahlte all die Pracht ...

Der Durch-Zauber-Verführende klärte ihn auf und entschuldigte sich, daß er von Mitleid gerührt das Mumienbündel aufgeschnürt hatte.

Der Herabstoßende Adler ließ den Vorsteher des Hauses der Teppiche rufen und befahl ihm, die Gesandten aus Xoconochco hereinzuführen.

Dann ging Guatemoc auf Blutfeuerstein zu. Aber geschwind trat der Spinner vor und stellte sich zwischen den König und das Giftmädchen.

»O großer König, o Herabstoßender Adler«, begann der Spinner. Ich, dein niederer Knecht, flehe dich an: schenke mir dies Mädchen!«

»O mein Freund, du bist trunken, du bist berauscht!« sagte Guatemoc, milde lächelnd, – er wollte den Gefährten des Alten Wickelbärs durch einen strengeren Verweis nicht strafen für die grobe Ungebühr.

»O großer König, vergib meine Berauschtheit! Aus Kummer trank ich, aus Sorge um dich ... Ein böses Vorzeichen sah ich und hörte ich ...«

»Erzähle!« forderte ihn Guatemoc auf.

»O großer König, in meinem Hause geschah es heute früh beim Morgenrot. Mein kleines Hündchen fing an zu sprechen wie ein Mensch. Noch nie hatte mein Hündchen gesprochen. ›Was redest du!‹ fuhr ich es an, ›schweig still!‹ Das Hündchen aber schwieg nicht, sondern sagte: ›Schade ist es um den König! Achte auf die Vorzeichen, o Mensch!‹ Ich schrie darauf: ›Und du? Bist du etwa kein böses Vorzeichen? Was bist du denn?‹ Und ich schlug nach dem Hündchen, da fiel es tot hin. Und kaum war dies geschehen, begannen zwei Wasservögel zu reden, die in einer Pfanne über dem Herdfeuer schmorten und brutzelten. ›Das schönste der Geschenke wird den König töten!‹ sagte der eine Wasservogel. Der andere aber sprach: ›Unauffindlich werden die schenkenden Mörder sein!‹ Erschauernd warf ich die Vögel ins Herdfeuer. Und während sie verbrannten, sprach meine Tanzmaske, die an der Wand hing: Der Gefahr entgehen kann der König, wenn er das Geschenk weiterverschenkt!«

»O Narr, meinst du mit solcher Traumlüge das schönste Mädchen dir zu erringen?« fragte der Durch-Zauber-Verführende. Das königliche Gefolge lachte, verlachte den Spinner.

»Er ist ein Dichter und ein Trunkenbold«, sagte stirnrunzelnd der Herabstoßende Adler, »darum sei ihm verziehen! Doch nun geh, o Spinner, und schlafe deinen Rausch aus!«

Dem Befehl des Königs durfte der Spinner nicht trotzen. Traurig entfernte er sich.

Bald darauf kam der Vorsteher des Hauses der Teppiche und meldete, daß die Gesandten aus Xoconochco unauffindbar seien.

Die eben noch über des Dichters Anmaßung und wunderlichen Traum gelächelt und gelacht hatten, blickten sich verstört an. Unauffindlich würden die schenkenden Mörder sein, hatte der eine Wasservogel gesagt ...

Durch die Liebe zu Maisblüte gewappnet gegen Blutfeuersteins bezwingende Schönheit, gab der Herabstoßende Adler Befehl, dem Mädchen (das eine der Ixcuinanmé, der weiblichen Dämonen, sein konnte) im Tempel des Smaragdenen Frosches die Brust aufzuschneiden.

Der Durch-Zauber-Verführende widerriet, sie zu opfern. Der Traum fordere, daß sie verschenkt werde. Er wolle sie in seinen Tecpan nehmen, sie beobachten, das Rätsel aufklären ...

Und Guatemoc überließ ihm das Mädchen.


Guatemoc überließ ihm das Mädchen, weil seine Gedanken abgelenkt wurden durch die unerwartete Ankunft des Königs von Cuitlahuac.

Die Pfahlstadt Cuitlahuac lag in der Mitte des die Süßwasserseen von Chalco und Xochitnilco trennenden Dammes. Ihre Bewohner, meist Krebs- und Entenfänger, waren Chichimeken – nicht Azteken –: den Kriegsgott nannten sie Amimitl (wie die Michuaken) und verehrten den vom Himmel gefallenen zweiköpfigen Hirsch. Aber obgleich einst von Mexico grausam unterjocht, hatten sie kein Verlangen nach Selbständigkeit und keinen Groll zurückbehalten, waren Mexikaner geworden und fühlten sich stolz als solche. Während letzthin Chalco, Ayotla und andere Städte der östlichen Chinampanecâ (der Bepflanzer schwimmender Gärten ...) das Joch abwerfend für den gemeinsamen Aufruhr an den Süßwasserufern warben, weigerten sich die Wasserwildjäger von Cuitlahuac beharrlich, dem Bund der Schwarzen Blume beizutreten. Und statt eingeschüchtert zu werden durch den Feuerschein der in Brand gesteckten Nachbarstädte Itztapalapan und Xochimilco, wurden sie erst recht in ihrem Fremdenhaß bestärkt und fester als zuvor an Mexico gefesselt.

Nun war Cuitlahuacs Stadtkönig Mayehuatl, »der Behandschuhte«, in Tenuchtitlan eingetroffen, bereit, sein Leben für Mexico hinzugeben. Er warf, vor den Herabstoßenden Adler tretend, weiße Copallikugeln in einen silbernen Räucherlöffel, kniete nieder, küßte dem König der Welt die Hände und die Füße und stellte sich und sein kleines, doch krieggewohntes Heer zur Verfügung. Er erfüllte damit bloß seine Lehnspflicht, wie andere Fürsten vor und nach ihm. Daß er aber bald nach der Bußprozession, in einem Augenblick peinvoller Niedergeschlagenheit, sich anbot, vergrößerte den Wert seiner Hilfe. Und auch sonst hatte Guatemoc Ursache, den Rat und Beistand des erfahrenen Mannes hoch einzuschätzen.

Als einer der besten Helden Anahuacs galt der Behandschuhte. Allberühmt wie sein Mut war seine listreiche Kriegsklugheit. Montezuma hatte ihm mehrmals die Führung der Heerscharen anvertraut und hatte ihm manchen Sieg zu verdanken gehabt. Nicht mehr jung war der Behandschuhte jetzt, ein Fünfziger, wenn auch noch geschmeidig wie ein jugendlicher Adlerritter. Er war groß, langarmig, hielt sich ein wenig vorgebeugt und hatte einen häßlichen Rundkopf: die vorstehenden Backenknochen strafften die Wangen, plump und breit quollen die Nüstem hervor, silberne Barthaare rieselten über den breiten Mund und das fliehende Kinn.

Als Herr der Herren, umringt von prunkendem Hofstaat, hatte der Herabstoßende Adler sich von Vasallen Hände und Füße küssen lassen, wie das Zeremoniell es erheischte. Als sie aber später im Zwiegespräch beieinandersaßen, unterordnete sich der junge König der Einsicht und Erfahrung des alten Häuptlings und beugte sich seinem Willen. Sie erwogen die Aussichten des beginnenden Krieges. Mit unerbittlicher Klarheit legte der Behandschuhte dar, daß Mexicos Streitkräfte nicht ausreichten, die Christen und alle Aufständischen zu besiegen, und daß von Anbeginn der Kampf hoffnungslos sein werde – falls es nicht gelänge, jenseits der Grenzen Anahuacs Freunde zu gewinnen. Für den Zusammenschluß aller indianischen Völker war der Alte Wickelbär in den Tod gegangen: an der Halsstarrigkeit der Kinder Tlascalas war sein Plan gescheitert. Nicht entmutigen lassen sollte sich der Herabstoßende Adler, weil der erste Versuch mißglückte, und auch nicht, weil einst der Drei-Städte-Bund, die Grenzen Anahuacs zu erweitern bestrebt, die Heerscharen über die Gebirgswälle des Südens und Westens nach Guatemala und Michuacan geführt hatte. Gemeinsame Not wische verjährten Streit aus dem Gedächtnis. War das sieghafte Mexico verhaßt, so werde das gefährdete Mexico beliebt sein. Der Einsicht könnten die Mayavölker und die Tarasker sich nicht verschließen, daß der Untergang Mexicos auch ihren Untergang nach sich ziehen müßte ...

Die Aussprache hatte zur Folge, daß der Herabstoßende Adler Gesandtschaften an die Könige der Maya in Yucatan und Guatemala entsandte. Auch seinen Vetter, den König des westlichen Landes Matlatzinco, ließ er durch Boten auffordern, dem Bund aller Indianer beizutreten – obgleich dieser eitle Sohn des Königs Kreideweiß und Gatte der Montezumatochter Prinzessin Nephrit kurze Zeit nach Montezumas Gefangensetzung die im Seeschloß Tezcotzinco bei Tezcuco zusammenkommenden Verschwörer an den Vom-Himmel-Gestiegenen und damit an die Kastilier verraten hatte und Schuld trug, daß die Könige von Tezcuco, Tlacopan, Itztapalapan, Coyoacan und Prinz Ohrring-Schlange an eine Eisenkette geschmiedet, daß der Edle Traurige und der König von Coyoacan im Kerker erdrosselt wurden ...

Da die Tarasker – die Bewohner des Landes Michuacan – aus derselben Höhle stammten wie die Bewohner Cuitlahuacs und, gleich diesen, dem blaugesichtigen kolibrifüßigen Kriegs- und Stammgott den Namen Amimitl gaben, ernannte der Herabstoßende Adler den Behandschuhten zum Führer der in das nordwestliche Otoncalpolco-Gebirge an die Ufer des großen Sees von Pazcuaro aufbrechenden Gesandtschaft.


Michuacan war das Land der Fischer. Handel und Wandel drängten sich um den Pazcuaro-See zusammen, an welchem auch die Hauptstadt Tzintzuntzan lag. Früheren Königen von Tzintzuntzan waren, weil sie sich der Trunkenheit ergeben hatten, von der Göttin Xaratanga Schlangen als Speise vorgesetzt worden, nach deren Genuß sie, sich in Fische verwandelnd, in den See sprangen – von ihnen nährten sich die nachfolgenden Geschlechter. Die Michuaken (oder Tarasker) nannten sich »die Inselleute«. Von den Mexikanern wurden sie auch Quaochpanmê, »Die-das-Haupt-Abfegenden«, genannt, weil die Männer sowohl wie die Frauen sich auf den Scheiteln ihrer künstlich abgeplatteten Köpfe Glatzen scherten.

Sie waren ein wunschloses, kindliches, friedfertiges Phäakenvolk, dem Kriege abhold, wenn auch wohl imstande, Überfälle abzuwehren. Steile Gebirgszüge und starke Garnisonen schützten ihre Grenzen gegen die Habgier ihrer Nachbarn, der Calimas, Xalisker, Matlatzincas und Mexikaner. Als vorlängst König Wassergesicht an die Lagune von Pazcuaro vorzudringen versuchte, wurde er blutig abgewiesen und mußte am Gebirge kehrtmachen, ohne das Hochtal betreten zu haben. Die Stadt Tzintzuntzan – die Kolibristadt – hatte seit Jahrhunderten keine Kriegsgreuel erlebt, obgleich der Goldreichtum der Michuaken den der Mexikaner bei weitem übertraf.

Freilich war ihr Goldschmuck, wie alle ihre Kunsterzeugnisse, roher Art. Dem reizvollen – oft an Altchina und Mykene gemahnenden – Stil der Maya und Mexikaner hatten die Tarasker kaum etwas an die Seite zu stellen. Sie besaßen keine Literatur wie jene Völker. Sie lebten in Schilfhütten, die Männer gingen ohne Schambinden mit einem kurzen, ärmellosen Hemd bekleidet.

Als der Behandschuhte mit seinen neun Begleitern vor den Cazonci – den König – geführt worden war, empfing ihn dieser auf einem geschweiften hölzernen Schemel sitzend, eine qualmende Tabakspfeife im Munde. Einen grünbärtigen Pfeil – mit der Spitze nach unten – hielt er wie ein Zepter in der Hand. Zu seinen Füßen lag ein gezähmter junger Puma.

Vor dem Haupteingang zum hüttenähnlichen, mit einem Strohdach bedeckten Königspalast, in einem kreisrunden Vorhofe fand der Empfang der Gesandten statt. Unter der sichelförmig aufgereihten Schar der Acaechas oder Trabanten standen zu beiden Seiten des rauchenden Cazonci die Träger der erblichen Würden: der Curu Apindi oder Onkel der Entenjäger, welcher die Entenopfer für die Göttin Xaratanga in Empfang nahm, der Pirovaquen Vandari, der Vorsteher der Mäntel – er sammelte die Mäntelsteuer des Volkes für den Cazonci ein, der Varuri, der Vorsteher der Netzfischer, der Tarama, der Vorsteher der Angler. Ferner ein Ober-Girlandenbinder, ein Ober-Bienenzüchter, ein Ober-Sandalenmacher und ein Ober-Tierzüchter, dessen Aufgabe es war, Adler und Raubtiere für den Cazonci zu zähmen: diese wurden, wenn sie ausgewachsen waren, mit Pfeilschüssen getötet und durch jüngere ersetzt. Außer Pumas, Wildkatzen und Präriewölfen besaß der Cazonci auch einige einem nördlichen Apachenstamm abgekaufte Büffel.

Des Cazonci Name war Tangaxoan. Vor Jahren hatte er bei seiner Thronbesteigung seine beiden Brüder umbringen lassen, weil sie ihm die Erbschaft streitig machten. Hätte er sie nicht ermordet, so wäre er von ihnen ermordet worden. Aus Notwehr also, aus Angst und Schwäche hatte er die Tat begangen oder vielmehr geschehen lassen. Wie ein königlicher Mörder sah er nicht aus: er war ein gutherziger, stets lächelnder, verlegener Mensch, kurzhalsig, fett und schwerfällig in seinen ungelenken Bewegungen wie ein Pinguin.

Von seinen Geschwistern lebte nur noch eine elfjährige, kranke, an den Beinen gelähmte Schwester namens Uacui, »das Eichhörnchen«. Was ihm an Willenskraft fehlte, besaß dieses Kind in überreichem Maße. Sie beherrschte ihn, sie beherrschte Michuacan. Keine Regierungshandlung unternahm Tangaxoan, ohne das Eichhörnchen hinzuzuziehen und auf des Kindes orakelhaften Rat zu hören. Auch jetzt beim Empfang der zehn Mexikaner war das kranke Mädchen auf einen Schemel neben Tangaxoan gesetzt worden. Ihr Rock aus Fledermausfell reichte vom Nabel abwärts, die kindlichen Brüste waren unbedeckt. Überfeinert, schmerzensmüde, seltsam länglich glänzte kupfern ihr Gesicht, groß und fiebrig strahlten ihre Augen wie schwarze Bernsteine.


Von den vier in Michuacan gesprochenen Sprachen war das Chichimekische nur wenig vom Mexikanischen verschieden. Der Behandschuhte bedurfte daher keines Dolmetschers, um sich verständlich zu machen.

»Wer herrscht jetzt in Mexico?« fragte Tangaxoan.

»Quauhtemoc Tecutli«, erwiderte der Behandschuhte.

»Den kenne ich nicht!« sagte Tangaxoan. »Aber einer seiner Vorfahren wollte an unserem See angeln. Er fing keinen Fisch, denn die Göttin Xaratanga beschirmt ihre Fische"«

Der Behandschuhte ließ sich die Verstimmung über die böse Begrüßung nicht anmerken. Er sagte:

»0 großer Cazonci, o unser geliebter Großsohn! Die rote Flut der Feuerberge erlischt, wird grauer Stein und grauer Staub in vierzig Jahren! Die Sonne nahm jenes Feldzuges tapfere Toten, eure und unsere Toten, in ihr Haus und verwandelte sie in bunte Schwirrvögel, – auch König Wassergesicht wurde längst zum Kolibri und begleitet täglich die Sonne bis zur Himmelsmitte. Du aber lebst, dein ist die Macht und die Tat. Wenn ich mich erdreiste, in den Schatten deiner Herrlichkeit zu treten, dein Tun zu stören, so geschieht es, weil der mächtige Tlatohuani von Mexico, Quauhtemoc Tecutli, mich beauftragt hat. Geh hin, sagte er, und melde meinem Bruder, dem großen Cazonci, daß über das Himmelswasser von Sonnenaufgang her wundersame Menschen gekommen sind, gekleidet in Panzer, Wadenschienen und Helme aus weißem Kupfer, und viele von ihnen sitzen auf dem Rücken von Hirschen, welche an den Hufen Sandalen haben aus weißem Kupfer. Auch lange Trommeln führen sie mit sich, feuerspeiende, wie die Wolken donnernde, und wer von ihrem Feuer berührt wird, muß sterben. Hunderte der Hirschmenschen schenkten wir unseren Göttern – andere tausend kamen, begleitet von den Tlascalteken, und jetzt umzingeln sie Tenuchtitlan. Willst du, o großer Cazonci, abwarten, daß Tenuchtitlan ihnen zur Beute fiel, daß sie weiter westwärts ziehen, Tzintzuntzan belagern, zerstören und aus Königen Sklaven machen? O hindere unser aller Unheil beizeiten, komm mit deinen Heerscharen Tenuchtitlan zu Hilfe! Die Sonne spiegelt sich zugleich in unserem See und in eurem See, die Himmelsgötter blicken zugleich auf uns und auf euch hinab, vor einem Jahrhundert wurden unsere beiden Reiche mächtig und unbesiegbar, – aber auch gleichzeitig wird unser Untergang sein!«

Tangaxoan gab keine Antwort. Er schielte nach seiner kleinen Schwester hin. Einen in ein Tuch gewickelten Stein – den Gott Wasoricuare – trug Eichhörnchen immer bei sich. Jetzt hielt sie den Stein an ihr Ohr, wie sie es stets zu tun pflegte, wenn sie den Cazonci durch einen Orakelspruch ihres Gottes beeinflussen wollte. Tangaxoan befürchtete, sie könne zugunsten des verhaßten Mexico reden. Darum erhob er sich rasch und sagtet

»Laßt uns zum Hohenpriester gehen: mag er es entscheiden!«


Der Cazonci, sein Gefolge und die zehn Gesandten bestiegen Einbäume und wurden über den See in die unweit von Tzintzuntzan am Ufer gelegene, nur von Priestern und Göttern bewohnte heilige Stadt Tzacapu gerudert. Dort erklommen sie die steilen Stufen des dem obersten Gotte, dem schwarzen Curicaveri, geweihten, mit einem Strohdach bedeckten Tempels. Auf der Opferterrasse tanzte der Hohepriester mit wallfahrenden jungen Frauen, indem er als Gürtel eine gezähmte Giftschlange um die Lenden gewickelt trug und einen auf einem Rohrstab befestigten Papierschmetterling auf und ab schwenkte. Rings im Halbkreis hockten als Zuschauer die Hüter des heiligen Feuers, die Opferer und andere Priester, alle mit Fächern in den Händen und alle kahlköpfig, brauenlos und wimperlos, wie ebenfalls die reigenden, enthaarten, nacktbrüstigen Frauen.

Der Cazonci kniete nieder vor dem Hohenpriester, der eine Weile noch weitertanzte, bis die heilige Handlung beendet war. Alle Besucher knieten, mit Ausnahme des Eichhörnchens: sie war auf einen mitgebrachten Schemel niedergesetzt worden.

Der Hohepriester wußte, wie alle Michuaken, schon seit langem von der Not Mexicos. Die Nachrichten von der Gefangennahme und Ermordung Montezumas, der Nacht der Schrecken, der Schlacht von Otompan und der Wiederkehr der weißen Götter nach Anahuac waren jeweils in kurzer Frist an die Lagune von Pazcuaro gelangt und hatten sorgenvolles Staunen, aber auch Schadenfreude ausgelöst. Der Haß des Namens Mexico überwog das neugierige Unbehagen, die räumliche Entfernung beschwichtigte die Furcht vor dem unheimlichen meerentstiegenen Fremdvolk. Mexico hatte Anteilnahme verscherzt: es verdiente seinen Untergang. Wenn das nie Geschehene geschah, daß mexikanische Gesandte ihren Fuß auf taraskisches Gebiet setzten, so war es ja klar, was sie begehrten.

Der Hohepriester ließ sich von Cazonci den Inhalt der Botschaft nicht berichten, er unterbrach ihn gleich nach den ersten Worten und sagte, mit einem blauen Rindenpapier-Fächer sich den kugeligen Kahlkopf fächelnd:

»Unsere Götter Curicaveri, Homocutin und der Herrscher der Nacht Achurihirepe haben in Tenuchtitlan keine Stätte, und bei uns haben Tezcatlipoca, Huitzilopochtli und Tlaloc keinen Tempel. Mögen die Götter Mexicos getötet werden, – um so länger werden unsere Götter leben. Darum, o Gangua-Pagua (Majestät), du von allen erwählter gottgeliebter Sohn Tangaxoan, verweigere den Mexikanern die Hilfe, um die sie winseln!«

Tangaxoan und seine Trabanten nickten befriedigt. Doch unwillig hob das Eichhörnchen die Hand. Mit leiser, kläglicher Kinderstimme sprach sie.

»Nein, mein Bruder, du wirst den Mexikanern helfen. Höre an – hört ihr alle an –, was mir geschehen ist. Die Mutter der Götter kam gestern zu mir und trug mich aus Tzintzuntzan hinaus am Schilfufer entlang. Und als sie endlich stehenblieb, dachte ich, sie wolle mich opfern. Doch sie sagte: ›Ich will dich nicht opfern, auch der Gott nicht, der nach mir dich hinwegholen und dir verborgene Dinge zeigen wird, damit durch dich der Cazonci sie erfahre!‹ Darauf besprengte sie mich mit Wasser aus einem Kruge. Sie verwandelte den Krug in ein Boot, setzte mich hinein und stieß das Boot vom Ufer ab. Da schwamm ein großer, grüner Kaiman heran, schnappte nach mir und zog mich in den See hinab. Lange trug er mich durch das Seewasser, und dann brachte er mich in ein Haus, das auf dem Boden des Sees erbaut war und das mit Wasser nicht gefüllt war. Er trug mich durch viele Gemächer bis in einen Saal, wo die erstgeborenen Götter und die Götter linker Hand – alle mit Ruß beschmiert und mit Kränzen aus Buntzwirn auf den Stirnen – versammelt waren, Honigwein tranken und redeten. Der Kaiman-Gott setzte mich in einer Ecke des Saales nieder und befahl mir: ›Horche und behalte!‹ Da belauschte ich die Klagen der Götter: ›Uns war versprochen worden, daß es immer so bleiben werde. Nun wird es anders!‹ klagten die Götter linker Hand. ›Seitdem die Welt erschaffen ward, war es immer so. Es gab nie eine Änderung. Wir wurden mit Opfern genährt. Und jetzt will man die Welt ändern!‹ Die erstgeborenen Götter aber rieten: ›Laßt uns keinen Honigwein mehr trinken, laßt uns die Trinkschalen zertrümmern, laßt uns mit Köchern und Bogen den Opferern Mexicos Beistand leisten, damit alles bleibt, wie es war, und nicht anders wird!‹ ...«

Das Eichhörnchen schwieg, und alle schwiegen. Der Hohepriester wußte den Götterworten nichts entgegenzuhalten. Bald wirbelte er wieder im Reigen mit den nacktbrüstigen Frauen.

Demütig und stolz blickte Tangaxoan auf seine kleine, kranke, begnadete Schwester. Er entließ den Behandschuhten huldvoll und versprach zweihunderttausend taraskische Bogenschützen, die er selbst nach Anahuac führen werde ...

Als Geschenk für den Herabstoßenden Adler gab er den mexikanischen Gesandten einen gezähmten Büffel mit.


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