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Vierzehntes Buch

Als die Götter alle Blumen auf der blauen Erdscheibe erschaffen hatten, wollten sie für die Gärten des Himmels die schönste der Blumen, die silberne Lilie, zauberlich bilden. Darum befahlen sie dem ohne Mutter erzeugten Kinde Quetzalcoatls, der Fledermaus, eine Träne der Göttin Xochiquetzal zu rauben.

Die Fledermaus flatterte bei nächtlicher Weile an das Lager der Xochiquetzal, stahl eine der Tränen – welche die Schlummernde aus Sehnsucht nach dem jungen Sonnengott vergoß – und trug den Raub hinauf in den Himmel.

Nun wurde die Träne – aller zarten Dinge zartestes – von den Himmlischen in eine Lilie verwandelt, und ihr wurde verliehen, daß sie niemals welken solle.

Doch aschgrau war die Lilie, war ohne Farbe, ohne Duft. Und die Stimme Mictlan Tecutlis lachte aus der Totenwelt zum Himmel empor:

»Ohne mich könnt ihr das Schönste nicht formen!«

Da trug die Fledermaus die unscheinbare graue Lilie in die Steinmesser-Höhle hinab, wo Mictlan Tecutli sie mit dem Wasser des Totenflusses wusch, bis sie weißleuchtend und wundersüß duftend wurde.

Und der skelettköpfige Affe, der Diener des Todes, entließ die Silberlilie auf das Erdenrund, weil sie dem Himmel verloren war, seit sie ihre Unsterblichkeit hingegeben hatte für ihre Schönheit. Duftgewoben und düftereich schlug die Lilie Wurzel inmitten eines Schilfsees, während einer kurzen Blütezeit zauberhaft zu erstrahlen und zu verstrahlen, ein Kind anderer Welten, vergängliches, verwelkbares Eigentum Mictlan Tecutlis.

Denn alles Herrlichste gehört der Totenwelt an, ist ausgeliehen von ihr für eine kurze Spanne Zeit, muß hinabsinken zu ihr, unaufhaltbar ihr verfallen und, wie jegliche Träne der Liebesgöttin, dem Ewigen Vergessen geweiht.


Stundenlang hatte der Herabstoßende Adler im Haus der Trauer vor dem kristallenen Totenschädel auf den Knien gelegen, ringend mit seinem Gewissen, hadernd mit seinen Göttern. Warum hatten sie es zugelassen, warum hatten sie es nicht verhindert, daß der Aquädukt zerstört wurde? Womit verdienten er und sein Volk diese Züchtigung? Was hatten die Azteken verbrochen, daß sie preisgegeben wurden, noch ehe der Kampf begann? Die Stadt inmitten des Salzsees war verloren ohne den Zufluß süßen Wassers ... Durfte er sich taub und blind stellen gegen die grauenvolle Wahrheit? Durfte er die eigene Hoffnungslosigkeit verheimlichen? Durfte er sein Volk in den Kampf führen, auf daß es hingeschlachtet werde ohne jegliche Aussicht auf Befreiung? ... Aber durfte er denn andererseits die Waffen niederlegen, nachdem er sie kaum erst erhoben hatte? Durfte er sich und seinem Volke die Schmach eines schimpflichen, ausrottenden Friedens aufbürden? Durfte er widerstandslos und würdelos Tenuchtitlan der Knechtschaft ausliefern, die schlimmer war als Untergang und Tod?

Er ermannte sich. Sein Gewissen hatte über seinen Kleinmut gesiegt, aber auch über die eigene Zaghaftigkeit. Sein Gewissen triumphierte über seine Gewissensnot. Eine finstere Heiterkeit erfüllte ihn, als er sich erhob und den kristallenen Totenschädel auf den fleischlosen Mund küßte – wie einer, der sich der Schattenwelt verpfändet. Für den Kampf bis zur Vernichtung, für glorreichen Untergang hatte er sich entschieden.


Königin Perlmuschel und ihre blinde Begleiterin trafen im Haus der Trauer die drei Könige nicht mehr an. Zu einer nächtlichen Sitzung war der Rat der Alten zusammengerufen worden und tagte bei flackernder Fackelbeleuchtung im Drachensaal des Großen Palastes.

Mit grauen Hanfmänteln angetan, die ungekämmten Haare ohne Schmuckfedern und dick mit Asche bestreut, hockten die Großen des Reiches auf niedrigen Schemeln. Obgleich der Hohepriester noch nicht erschienen war, hatte Guatemocdie Sitzung eröffnen lassen. Hinter seinem mit Jaguarfellen bedeckten Silberthron ragten gleich steinernen Säulen zwei hünenhafte Beilträger empor. Vor ihm aber stand der Annalenschreiber Feuer-Juwel und wiederholte laut, was der Herr der Welt mit leiser Stimme (wie das Herkommen vorschrieb), kaum den Zunächstsitzenden vernehmlich, fast flüsternd vorbrachte. Den im Haus der Trauer gefaßten Entschluß verhehlte der Herabstoßende Adler, um ihn erst bekanntzugeben, wenn die Ratgeber der Krone sich geäußert hatten. Von der furchtbaren Wirklichkeit aber, die zu einer raschen Entscheidung drängte, verhehlte er und beschönigte er nichts. Die verzweifelte Lage schildernd, zählte er die aufständischen Provinzen, die abgefallenen Vasallen auf, beschrieb die von den Brigantinen drohende Gefahr, malte ein Bild von der Umschließung Tenuchtitlans, gab an, wie viele und welche Truppen Sandoval in Chalco und Itztapalapan, Olid und Alvarado in Tlacopan zur Verfügung standen. Durch Kundschafter, sagte er, sei festgestellt worden, daß Olid weiter südlich bis Coyoacan vordringen wolle, um die Umzingelung zu vollenden. Er erwähnte auch den Zwist im Christenheer, auf welchen die Mexikaner so große Hoffnung gesetzt hatten. Ein aufgedeckter Mordplan habe, nach Aussage der Kundschafter, die Stellung des Grünen Steines nur befestigt, seine Gegner eingeschüchtert, und nach der Hinrichtung des Königs Kriegsmaske sei bloß ein geringer Teil der Tlascalteken meuternd in die Heimat zurückgekehrt. Zum Schluß sprach er von der Wasserversorgung der belagerten Stadt. Der Bau des Aquädukts habe zwölf Jahre gewährt – den zerstörten wieder herzustellen, werde in Wochen und Monaten sich nicht bewerkstelligen lassen. Auf Kähnen müsse fortan das Trinkwasser nach Tenuchtitlan geschafft werden ...

Als Feuer-Juwel aufgehört hatte, des Königs Rede in den Saal zu schreien, wußte niemand, ob des Königs Wille Krieg, Waffenstillstand oder Friede sei. Nichts als Tatsachen hatte er aufgezählt und mit seiner Meinung zurückgehalten.

Der älteste der Alten erhob sich und sagte:

»O ihr edlen Mexikaner, ihr habt gehört, ihr habt vernommen, was unser Herr, unser König geredet hat. Seine Worte waren wahr und ohne Lüge wie die goldenen Pfeile des Sonnengottes. Ein Körper, dessen große Halsader durchschnitten ist, ist ein sterbender Körper. Tenuchtitlan wird eine sterbende Stadt sein, wenn wir nicht Frieden schließen!«

Noch nie war das Wort Frieden über die Lippen eines Mexikaners gekommen. Guatemoc hatte ein Gemurmel des Unwillens, einen Schrei der Empörung erwartet. Doch im Saal blieb es leichenstill.

»Ihr edlen Mexikaner, ihr meine Oheime und Brüder«, sagte der Herabstoßende Adler, »habe ich schuld an unserem Unheil, an unserem Verderben? Hätte ich das Quellwasser Chapultepecs besser schützen können, als ich es tat? Richtet über euren König, und wenn er sich verging an Mexico, so schenkt ihn Huitzilopochtli dem Wundersamen! Wählt dann einen Besseren, Älteren, Erfahreneren an meiner Stelle, damit er Frieden schließe, den ich nicht schließen kann!«

»O großer König, o Herabstoßender Adler!« rief der alte Würdenträger. »Sind das die Worte deines Mundes? Der Himmel und die Erde mögen sie nicht hören! Du tatest wahrlich deine Königspflicht! Von den Dächern unserer Häuser und Paläste schauten wir dem Kampf in Chapultepec zu. Deine Jaguare, Pumas und Adler starben nicht bei Octli-Gelagen in den Armen feiler Mädchen, sie starben beim Kriegsreigen auf dem Blumenfelde der Schlacht. Achtmal siegtet ihr, achtmal wurdet ihr zurückgetrieben und brachtet vier Gelbhaarige und viertausend Tlascalteken als Kriegssklaven heim. Diese Gefangenen laßt uns nicht opfern, sondern laßt sie uns schonen und aufsparen, um sie einzutauschen gegen den Frieden!«

»Nein!« rief Tlotli (der Sperber), der Vertreter der Handelsherren von Tlatelolco. »Nein, Mexikaner, laßt uns die vier Gelbhaarigen und die viertausend Tlascalteken heute nacht opfern, unserer Wassergöttin Chalchiuhtlicue opfern, deren Gewand blaue Perlen sind! Denn sie ist es, die uns zürnt und uns das Trinkwasser raubt. Sie ist es, die dem Feind erlaubte, Tlatelolcos zweihundert Boote zu zerschmettern, und die – wenn wir sie nicht beschwichtigen – dem Feind vielleicht erlauben wird, noch mehr Boote Mexicos zu zerschmettern, so daß wir verhungern und verdursten müssen!«

»Ja, laßt uns die Opfersklaven heute nacht noch schlachten!« riefen die Jüngeren unter den Türkisgebürtigen und den Würdenträgern. »Wir wollen die Göttin mit Edelsteinwasser besänftigen!«


»Womit kränkte ich die Göttin?« fragte der Herabstoßende Adler. »Als mein Vater, König Molch, eine zweite Wasserleitung von Coyoacan nach Tenuchtitlan baute, widerriet ihm der kluge Tzotzoma. Und mein Vater sandte Mörder aus, die Tzotzoma erwürgten. Sowie der Bau beendet war, opferte mein Vater drei kleine Kinder und redete das Wasser an: ›Sei willkommen, Herrin!‹ Aber das Wasser war erbost über den Mord am weisen Tzotzoma. Darum ergoß es sich nicht wie ein Quell, sondern wie ein wütender Strom in den See. Und der See stieg, überschwemmte Tenuchtitlan und riß die Häuser der Reichen und der Armen nieder, auch den großen Palast meines Vaters. Durch eine niedere Tür flüchtend, stieß sich König Molch eine tödliche Wunde in die Stirn. Doch bevor er an der brandig gewordenen Wunde starb, ließ er sein Felsenbildnis meißeln mit den Gesichtszügen des Gottes Xipe Totec, Unseres Herrn des Geschundenen. Und bei der Einweihung des Bildes ging er im Mantel der sieben Rosenknospen, mit schweren Goldketten behängt, räucherte, köpfte Wachteln, und weinend bat er die Zypressen Tenuchtitlans um Verzeihung, daß er sie entwurzelt hatte. Und das Volk Mexicos bat er, ihm wegen seiner Jugend und Unerfahrenheit zu vergeben. Und das grimmige Wasser bat er niederkniend und schluchzend um Vergebung, daß er es erzürnt hatte durch den Mord am weisen Warner Tzotzoma ... Damals hatte unsere Göttin Chalchiuhtlicue einen Grund, meinen Vater zu hassen. Welchen Frevel aber begingen wir, was tat ich, euer König, daß wir solche Strafe verdienten?«

Niemand wagte zu antworten außer Tlatelolcos Vertreter Tlotli:

»Indem du fragst, o großer König, verleihst du uns die Kühnheit auszusprechen, was wir sonst verschweigen müßten. Wie König Molch, dein Vater, gewarnt wurde, so wurdest auch du gewarnt und hast die Warnung nicht beachtet wie jener! Die Wassergöttin ist erbost, weil die Königin von Tlacopan den Hohen Rat belog, als sie uns erzählte, sie habe das weiße Kind im Pantitlan-Strudel ertränkt. Versprochen ward das Kind der Göttin und ward ihr dennoch vorenthalten. Noch heute verpestet ja der Atem des weißen Kindes die heilige Luft Tenuchtitlans! Nicht nur Chalchiuhtlicue – auch Huitzilopochtli ward beleidigt, denn er verbot allen weißen Wesen den Aufenthalt in seiner Stadt. Die Königin Perlmuschel aber trotzt den Priestern und den Göttern ... und sie hat mächtige Beschützer! ... Ein Verbrechen an unseren Göttern war der Vorschlag, den wir staunend und empört vorhin vernahmen: die vier weißen Opfersklaven zu schonen, sie aufzusparen, sie einzuwechseln gegen einen schlechten Frieden. Mit den Bewohnern des Himmels wollen wir Frieden schließen – aber niemals mit dem Todfeind! Die Erde Mexicos muß mit Blut begattet werden – dann wird die Gunst der Sterne uns wieder strahlen! Tilgen laßt uns unsere Schuld: sofort laßt uns zur Opferung der Tausende schreiten! Und auch der Wassergöttin wollen wir geben, was ihr gehört: das weiße Kind!«

Mit lauten Zurufen stimmte der Hohe Rat ihm bei. Die gedrückte Stimmung schlug in einen purpurnen Eifer um. Die Kriegspartei hatte die Oberhand gewonnen. Die Friedensfreunde waren verstummt.

Ohne überreden zu müssen, ohne das Gewicht seines Königswortes in die Waagschale zu werfen, sah der Herabstoßende Adler seinen Wunsch erfüllt: Mexico wählte den Untergang, den glorreichen Tod ...

Guatemocs düsterer Freude hierüber war ein Tropfen Galle beigemischt. Den Umschlag der Stimmung verdankte er der Rede eines Gegners, eines heimlichen Hassers, und erkauft war der Erfolg mit der Preisgabe der Königin von Tlacopan.

Bekümmert flüsterten mit ihm der Durch-Zauber-Verführende und Ohrring-Schlange. Er schüttelte abweisend den Kopf – er durfte nicht mehr die schützende Hand über die Freundin halten. Und selbst dem Durch-Zauber-Verführenden versagte der Mut, die Versammlung um Erbarmen mit der Mutter des fluchbedeckten Kindes anzuflehen ...

Da trat der Hohepriester ein, begleitet von einer Schar schwarz geschminkter Opferer, und an der Hand führte er die als Adlermädchen gekleidete Königin von Tlacopan. Für eine Weile wurde es unheimlich still im Drachensaal.


Ungehindert gelangte Perlmuschel bis vor die drei Throne. Da brach der Sturm los. Der Rat der Alten tobte, beschimpfte sie, verwünschte sie, bedrohte sie:

»Gib uns das Kind heraus, Verräterin! Hüte dich, daß wir dich nicht schlachten mitsamt deinem Kinde!«

Und andere schrien:

»Packt sie, bindet sie, schleppt sie zur Opferblutschale!«

Regungslos und verloren lächelnd blickte Perlmuschel mit jammernden Augen die Schreier an. Sie trug ein Hemd, das mit großen Adlerfedern dicht benäht war, die Hemdärmel bestanden aus herabhängenden langen Adlerfedern, ihre Füße waren von riesigen holzgeschnitzten Adlerfängen verdeckt, ihr Helm stellte einen Adlerkopf dar, aus dessen weit aufgerissenem Schnabel ihr Antlitz totenblaß hervorleuchtete.

Der Durch-Zauber-Verführende war emporgesprungen und hatte einem der wachehaltenden Beilträger die Prunkaxt entrissen. Er wollte sein Weib vor der Meute ihrer Feinde schützen. Doch wie gelähmt durch ihren blutenden Blick ließ er bald die schon erhobene Axt müde niedersinken. Und Perlmuschel sprach mit fremder, gleichsam aus einer Ferne erklingender Stimme:

»Ihr wollt mir das Herz aus der Brust schneiden, o ihr edlen Mexikaner? Ich selbst schnitt mir den Edelstein heraus aus meinem Fleisch, ich selbst schnitt mit meinen eigenen Händen mein zuckendes rauchendes Herz mir aus der Brust! Wißt ihr, wie das schmerzt, ihr Opferer? Wißt ihr, wie das weh tut, des Herzens beraubt sein und leben? ... Haltet die Fackeln hierher und schaut es euch an, betrachtet es euch, das Greuel meines Selbstopfers! ... Ich, die Tochter des Herrn des Fastens, der euren Blutdienst verwarf und verabscheute, ward durch euch zur Schlächterin! ... Füttert, sättigt euren Gott mit meiner Qual!«

Sie griff in den Weihrauchbeutel und holte den Kopf ihres Kindes hervor. So abgestumpft, so gefühllos war sie durch das Übermaß von Pein geworden, daß sie das Haupt des Kindes an den Haaren packte und wie ein Schreckensbild dem Hohen Rat entgegenhielt. Wächsern schimmerte das schöne Kindergesicht im rötlichen Geflacker der Harzspäne. Rufe der Verwunderung und Bewunderung gellten durch den Saal.

»Die Mexikaner haben dir gegrollt, o Königin – nun werden sie dich verehren als Mutter des Volkes! Denn du hast Tenuchtitlan gerettet!« rief das Mexikaner-Priesterchen.

Perlmuschel schüttelte mit grimmem Lachen den Kopf:

»Können die Mexikaner mir den Blutfleck von den Händen waschen? Ich habe seit Stunden daran gerieben und gewaschen, doch die Hand bleibt feuerrot! ... Ich will nicht von euch verehrt sein, o ihr edlen Mexikaner, ich will die Mutter des Volkes nicht heißen, ich will nicht mehr Königin sein! Das Adlerhemd zog ich an, weil ich die Nacht und das Vergessen suche!«

Sie legte den Kopf ihres Kindes vor Guatemocs Silberthron nieder. Sie ging der Tür zu – alle wichen scheu vor ihr auseinander –, ihren Gatten, der ihr folgen wollte, bannte sie mit versteinten Augen. Allein verließ sie den Drachensaal und den Großen Palast, um unterzutauchen in Nacht und Vergessen.


Auf den Menschenwürgeplätzen von drei Pyramiden – dem Coatepec oder Schlangenberg Huitzilopochtlis, dem Uitznahuac oder Dornenort-Tempel Tezcatlipocas und dem Yopico-Tempel Xipe Totecs, Unseres Herrn des Geschundenen – wurden gleich nach der Sitzung des Rates der Alten die vier Kastilier und die viertausend Tlascalteken geschlachtet. Die drei Könige, je einer auf einer der drei Pyramiden, nahmen tätig teil an der nächtlichen Opferhandlung, in weiße Schlächtergewänder gehüllt, mit weißen Hauben auf den Köpfen wie die Oberpriester, bis ihnen schwindlig ward vom genossenen Edelsteinwasser, bis ihre Hände erlahmten von der blutigen Arbeit ...

Als die viertausendundvier Herzen auf den Altären lagen, schritt der Herabstoßende Adler an der Spitze einer Kienfackeln tragenden Prozession durch den Stadtteil Teopan bis ans Seeufer. Und er streute Körbe voll Mondblumen, Feuerreiherblumen, Wasserlilien, Totenbeinblumen und Caliandrablüten in den Schilfsee, so daß der Wasserspiegel im Umkreis einem Blumenfelde glich. Und schließlich warf er den Kopf des weißen Kindes den Blumen nach. Eine Weile schwebte der Kopf vom Nachtwinde geschaukelt mattgelb auf dem lilienweißen Kelche einer Seerose, dann schwand er mit ihr in die Tiefe, und bald darauf stieg sie ohne ihn wieder an die Oberfläche empor.

Glückstrahlenden Angesichts redete der Herr der Welt das Wasser an:

»O Herrin, du hast unser Geschenk empfangen, du hast es gnädig angenommen, du hast es behalten!«

Maske war das Gestrahl auf seinem Antlitz.

Er wußte es ja, daß der Blaue Planet – Quetzalcoatl – seinen Speer auf die wunderschöne, in ein Gewand aus Nephritperlen gekleidete Göttin geschleudert hatte. Sie, Mexicos mächtigste Beschützerin, schlief auf dem Boden des Sees, und ihre grüne Edelsteinschale war entzweigesplittert.

Er wußte es. Aber die Mexikaner durften es nicht wissen.


Der goldene Morgen erglomm bei Guatemocs Rückkehr in den Huei-Tecpan. Der Durch-Zauber-Verführende und Blutfeuerstein erwarteten ihn dort. Die Blinde war nicht wie Königin Perlmuschel vor den Großen Rat gelassen worden, erst nach der Opferung der Tausende hatte sie dem Durch-Zauber-Verführenden mitteilen können, daß ein Versuch gemacht worden war, Montezuma zu beerdigen. Jetzt erfuhr es auch der Herabstoßende Adler.

»Ein Geheimnis ist es und muß ein Geheimnis bleiben!« sagte Guatemoc. »Die Tat der Königin Perlmuschel hat den Mexikanern Mut und Zuversicht zurückgegeben. Wäre aber dieses heute nacht bekannt geworden – nimmermehr hatte ich die Verzweiflung des Volkes bannen können.«

»Du mußt das Verbot der Bestattung erneuern, wieder die Todesstrafe androhen!« riet der König von Tlacopan.

»Nein. Das könnte Neugierige ins Haus der Fledermäuse führen, welches sonst kein Mensch betritt – was wir geheimhalten wollten, könnte dadurch bekanntwerden. Auch vermag ich das Rätsel nicht zu lösen, wer die Bestattung unternahm ...«

»Denkst du – an die Blume deines Herzens ...?«

»Sie ist fern, eine Gefangene bei den Söhnen der Sonne ... Wäre sie frei, sie wäre zuerst zu mir gekommen ... Wir wollen den Ort streng bewachen lassen, auch die Gräberinsel Copalco, wohin sich die Toten ein Boot erbitten ...«


Zwei Tage nach Olids und Alvarados Zweikampf erhielten die beiden Oberfeldherren Briefe von Cortes, worin er sie beschwor, des heiligen Kreuzfahrerzieles wegen ihren Zwist beizulegen. Auch an Andrés de Tapia und Alvarez Pineda langten Schreiben an: Cortes bat sie, Vermittler zu sein und zu verhüten, daS durch Haß, Rauflust und Eigensinn der Führer das große Unternehmen gefährdet werde.

Es kam zu einer – wenn auch nur äußerlichen – Versöhnung. Olid, wundfiebernd ans Krankenbett gefesselt und wie immer unberechenbar, zeigte plötzlich ein großzügiges Entgegenkommen: er stellte sein Heer unter den Oberbefehl Alvarados, damit dieser in der Lage sei, sich des Dammweges von Tlacopan (oder Tepeyacac) zu bemächtigen.

Aber vor Olids Freundlichkeit hätte Alvatado auf der Hut sein sollen. Die Verdoppelung seiner Truppe war von wenig Nutzen beim Angriff auf die schmale Dammstraße, deren weißes Kalksteingeländer noch die Kugelspuren der Nacht der Schrecken aufwies. Wie damals waren auch jetzt die Holzbrücken von den Dammdurchstichen entfernt. Wie damals kämpften die Azteken zu Land und zu Wasser, gleich Bibern oder Fischottern sprangen sie in die Fluten, sobald die Bomben der Kartaunen den Damm bestrichen, tauchten unter, spannten unter den Wellen ihre Bogen und erkletterten die Böschung, wenn sie durch die Leiber der Feinde vor Geschossen gedeckt waren. Biber und Fischottern, zweilebige Wesen, waren die Bewohner der Wasserstadt und Anahuacs – des Wassergaues, und erbitterter fochten sie denn je, voll Zuversicht auf den Beistand der Wassergöttin, seitdem sie den Kopf des weißen Kindes entgegengenommen hatte.

»Schurken!« riefen sie den Christen zu. »Kommt alle auf den Damm, damit wir unseren Schlangen und Pumas euer Fleisch zu fressen geben! – schon haben wir sie gefüttert mit eurem Fleisch!«

Aufgeschichtete Balken versperrten an vielen Stellen den Weg, sie wurden beseitigt. Bis zum ersten Dammdurchstich drangen die Kastilier vor, vermochten aber, durch herannahende Boote gehindert, sich dort so lange nicht zu halten, bis eine Brücke geschlagen war. Mehrmals erreichten sie den Dammdurchstich, und jedesmal mußten sie wieder zurückweichen.

Vier Tage währten die ergebnislosen Kämpfe. Der großen Verluste wegen sah Alvarado sich schließlich gezwungen, die Erstürmung aufzugeben. Solange die indianische Flotte durch die Brigantinen nicht in Schach gehalten oder zerstört war, war ein Vordringen hier nicht möglich.

Die Schlappe nahm Olid zum Anlaß, sich von neuem mit Alvarado zu überwerfen. Wäre er gesund gewesen – behauptete er –, ihm wäre mit einem Heer gelungen, was Alvarado mit zwei Heeren mißlang. Der Unfähigkeit Alvarados sei der Mißerfolg zuzuschreiben. Entrüstet und verärgert (obgleich im Grunde zufrieden damit, daß der andere sich keine Lorbeeren gepflückt hatte) zog Olid sofort mit seinem Heer nach Süden und setzte sich in der südwestlich von Tenuchtitlan gelegenen Pfahlstadt Coyoacan fest.


Am 18. Mai des Jahres 1521 – eine Woche nach dem Aufbruch der drei Heere – verließen bei Morgendämmerung die dreizehn Brigantinen den Hafen von Tezcuco. Die Umzingelung Tenuchtitlans war vollendet: von Chalco aus beherrschte Alonso de Ojeda mit den ihm unterstellten Hilfsvölkern die Süßwasserseen von Chalco und Xochimilco sowie die südöstliche Küste der Salzlagune, Luis Marin, der in Tezcuco zurückgeblieben war, bewachte die nordöstliche, Alvarado die nordwestliche Küste, Olid in Coyoacan und Sandoval in Itztapalapan hielten Wacht an den südwestlichen und den südlichen Salzlagune-Ufern. Erst jetzt durfte Cortes wagen, an die Ausführung seiner ersten und wichtigsten Aufgabe zu gehen: wie Eulen die kleinen Vögel, so sollten die großen Schiffe die indianischen Einbäume anlocken und ins Verderben locken, und wenn dies geschehen, wollte er Olid in Coyoacan beistehen, sich des Dammweges zu bemächtigen. Von Glück begünstigt, erreichte er sein Ziel leichter und schneller, als er selbst gehofft hatte.

Sein Glück war es, daß nach einer kurzatmigen Morgenbrise eine plötzliche Windstille eintrat. Der windstille Tag war vom Herabstoßenden Adler – und hernach auch von der Priesterschaft – den Mexikanern als der Tag der Vernichtung der Wasserhäuser angekündigt worden. Fünftausend gutbemannte Boote lauerten darauf, die Brigantinen zu überfallen.

Die Segel vom Morgenwind gebläht, hatten die Brigantinen die Mitte des Sees bereits erreicht, als die Sonne über die Kordilleren stieg. Sie waren am steinernen Wehr entlanggefahren, das – nach der durch König Molchs unheilvolle Quelleitung verursachten Überschwemmung – zwischen Tenuchtitlan und Tezcuco errichtet worden war. Von diesem Wehr hatten schon vor längerer Zeit die Steinmetzen der Schwarzen Blume große Teile niedergerissen, so daß nicht mehr bloß an der südlichen Wehröffnung eine Durchfahrt möglich war. Als die Brigantinen in den offenen See hineinglitten, flaute der Wind ab. Doch jedes der Schiffe hatte zwölf Ruderer an Bord und konnte sich, wenn auch langsam, fortbewegen.

Das Geschwader kam an einer Felseninsel vorbei, deren Spitze von einem befestigten Schloß, einem Ayaocalli (»Wasserkriegshaus«), gekrönt war. Auf dem flachen Dache des kleinen Tecpans entzündeten soeben aztekische Männer und Frauen ein Feuer – offenbar ein Signal für das fern schimmernde, in bläulichen Morgendunst getauchte Tenuchtitlan. Im Begriff, eine Seeschlacht zu liefern, mochte Cortes eine mit Schießscharten versehene Befestigung in seinem Rücken nicht dulden, um so weniger, als von ihr aus der Gegner durch Flammenzeichen verständigt wurde. Darum ließ er Pedro Barba, Antonio de Carajaval und die Schwarze Blume mit hundert Mann landen, welche nach kurzem heftigem Kampf die starke Besatzung der Wasserburg niedermachten und nur die Frauen und Kinder verschonten. Fünfundzwanzig schwerverwundete Kastilier mußten auf ihre Schiffe getragen werden.

Als alle Ausgeschifften sich wieder an Bord befanden, war der letzte leise Windhauch geschwunden, kein Wimpel regte sich mehr. Die Kastilier verwünschten die unzeitige Windstille: »Nun sind wir wie Fische, denen man die Flossen beschnitten hat! ...« rief Martin Gutiérrez aus, krebsrot vor Wut. Denn schon wurde die mexikanische Bootsflotte sichtbar. Die Feuersignale waren vor mehr als einer Stunde in Tenuchtitlan erblickt worden und hatten die Stadt in einen Freudentaumel versetzt: endlich gingen die Gelbhaarigen in die ihnen bereitete Falle! Fünftausend mit Schildträgern gefüllte Boote ruderten den großen Wasserhäusern entgegen.

Im Süden der zerstörten kleinen Wasserburg befand sich eine Untiefe. Und es war des Herabstoßenden Adlers Plan, die Brigantinen dorthin zu treiben, so daß sie auflaufen mußten. Der Zufall wollte es, daß Cortes, der von jener Untiefe nichts ahnte, seinem Geschwader befahl, rudernd dem Ansturm der Einbäume nach Süden auszuweichen – er wollte, die Wasserburg umschiffend, plötzlich im Norden auftauchen und dem Feind in die Seite fahren. Zu seinem und der Seinen Heil bewegten sich die Brigantinen überaus schwerfällig und langsam. Die Siegeszuversicht der Mexikaner stieg ins Unermeßliche: sie glaubten, die Christen hätten vor ihnen die Flucht ergriffen, und jubelnd gewahrten sie, daß die Schiffe sich südwärts wandten. Die Untiefe war jedoch noch nicht erreicht, als sich ein heftiger Wind erhob: Quetzalcoatl, der Gott des Windes, begünstigte die Söhne der Sonne! Sofort widerrief Cortes seinen Befehl, liefe die Brigantinen wenden und mit geblähten Segeln auf die Mitte der aztekischen Flotte zuhalten, um sie rammend zu überrennen.

Wie Lapislazuli leuchtete der tiefblaue See. Dann wurde er schwarz von Booten. Und dann – eine halbe Stunde später – spritzten rote, blutgefärbte Wellen zu den haushohen Steven der Brigantinen empor. Wie Pflüge schnitten die Kiele in die von Leichen beschwerten Purpurwogen. Nur ein geringer Teil der aztekischen Flotte konnte – flüchtend und verfolgt – Schutz finden in den engen Kanälen Tenuchtitlans.


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