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Ohne Kienfackel waren sie eingetreten. Geisterhaft zerschnitt Mondschein die Nachtschwärze, stand wie ein bläulicher Dunstbalken zwischen der Lichtöffnung des Daches und der Strohmatte des Fußbodens, das Coçolli – die indianische Wiege – silbrig überrieselnd. Fünf Vögel flatterten, aus dem Schlaf gescheucht, angstvoll wild durch den Raum, in feurigen Farben erglühend, wenn sie den Mondstreifen durchflogen, es waren gefangengehaltene Schmuckvögel, denen die Arbeiterinnen zuweilen eine leuchtende Feder ausrissen. Ihre Klauen waren mit langen, aus Ananasfasern gedrehten Stricken an eine Vogelstange gebunden.

Gleich nachdem sie eingetreten, hatte Isabel die Hand Guerreros fahren lassen und war zur Wiege geeilt. Ja, das Corteskind schlummerte dort wie damals, ein wenig erhitzt und mit den winzigen, eckigen Fäustchen zuckend. Wild wie die angstgestörten Vögel flatterten Isabels Brüste. Weiß stand sie im Mondschein da.

»Señorita!« begann Gonzalo Guerrero. »Warum sucht Ihr beim Kinde Schutz? Fürchtet nichts – ich bin kein Schandbube! Aus Eurer Notlage will ich keinen Vorteil ziehen! Ich würde mir ja die beste Freude verderben!«

»Die beste Freude ...?« murmelte Isabel. »Was wollt Ihr damit sagen?«

»Daß ich warten kann – auf Euren Dank, auf das freiwillige Geschenk Eurer Liebe ... Nein, gebt keine Antwort, Señorita – Ihr könnt ja auch keine geben ... Ich sah es eben Eurem Munde an: Ihr mühtet Euch ab, ›Nie!‹ zu sagen, und vermochtet nicht, das kleine Wörtchen ›Nie!‹ auf die Lippen zu bringen! ... Laßt es – wir haben jetzt nicht Zeit, von Liebe zu sprechen! Bevor Ihr Schutz bei der Wiege suchtet, suchtet Ihr Schutz bei mir. Und ich biete Euch Schutz, Señorita, den Ihr nicht zurückweisen könnt! ... Kommt mit mir!«

»Wohin?«

»Ins Land der Maya, bei denen ich einst mit Frater Aguilar gelebt habe. Die Sonne des Südlands brütet dort noch heißere Menschen und Götter aus als hier im Hochtal Anahuac, die Mahagonibäume dort sind höher als die Zypressen Mexicos, die Blumen noch tierähnlicher ...«

Tiefe Enttäuschung malte sich auf den erschlaffenden Gesichtszügen Isabels. Hatte sie sich einem Phantasten anvertraut? Was er vorschlug, war ja unausführbar.

»Ach, das sind Träume!« sagte sie. »Wie können wir zwei dorthin gelangen!«

»Nicht nur wir zwei, Señorita! Ihr wißt noch nicht, wer ich bin!

Ich weißer Sklave bin der König der Sklaven! – und bald werdet Ihr die Sklavenkönigin sein! ... Meine Getreuen haben den Auszug ins Maya-Land längst geplant und vorbereitet, heute nacht führen wir es aus: wir brechen nach Süden durch, um dort ein Sklavenreich zu gründen.«

Sie sah ihn ungläubig, verständnislos an.

»Sind es so viele?« fragte sie.

»Zehntausende, Señorita! Haussklaven, Feldarbeiter, Landstreicher, Bettler, Diebe und alle Heimatlosen, Nackten, Entrechteten Mexicos.«

»In dieser Nacht? ... Wie wollt Ihr sie herbeirufen?«

»Sie stehen versammelt und warten auf Euch, Señorita!«

»Auf mich? ...«

»Auf uns beide! Beschleunigt wurde unser Aufbruch, weil vorhin der Hohepriester das Baumorakel bekanntgegeben hat: alle weißen Wesen in Tenuchtitlan sollen getötet werden – Silberfalken, Schneehasen, weiße Götter ...«

»Auch dieses Kind?« fragte Isabel und beugte sich schaudernd über die Wiege.

Gonzalo Guerrero blieb ihr die Antwort schuldig.

»Ich würde gar bald Euer Schicksal teilen müssen, Señorita, doch das wollen die nicht, die sich um mich geschart haben. Mir verdanken sie die Einsicht, daß Tenuchtitlan ja doch verloren ist und daß sie Toren wären, wollten sie sich den Adligen und den reichen Kaufleuten Tlatelolcos zuliebe hinmetzeln lassen. So schwierig es wäre, im waffenstrotzenden Anahuac die Zwingherren zu beseitigen, so leicht wird es in Guatemala sein. Erst nachdem es uns dort glückte, wollen wir uns gegen Mexico wenden, das inzwischen am Kriege verblutet sein wird. Den Sieger – mag er Cortes oder Guatemoc heißen – zu vernichten, wird um so gewisser gelingen, als beider Heere von meinen Freunden untergraben wurden. Mein Sklavenreich wird Venezuela, Panama, Yucatan und Anahuac umfassen, auch die Meerinseln Kuba und Haiti werden befreit werden von den Aussaugern ...«

Die Begeisterung hatte sein knochiges, finsteres Gesicht durchstrahlt und verschönt. Doch jäh unterbrach ihn Isabel.

»Still!« flüsterte sie. »Hört Ihr die Stimmen? ... Die Greise sind in die vordere Kammer getreten! Sie fragen nach mir ...«

»Kommt schnell!«

»Dorthin?« fragte sie entsetzt.

»Nein! Dies Haus hat einen zweiten Ausgang – nach dem Kanal hinaus! Dort liegt ein Boot bereit!«

Er hatte sie an der Hand erfaßt und zerrte sie fort. Sie hatte keinen Willen, keinen Gedanken, kein Gefühl mehr. Im tollen Wirbel ihres Hirns tauchte nur ein Wunsch auf: das Kind zu retten.

»Das Kind! ... Laßt mich das Kind mitnehmen!«

»Seid Ihr bei Trost, Señorita«, herrschte er sie an. »Wozu? – Damit es aufwacht und durch sein Geschrei uns verrät? ... Kommt, kommt, eh es zu spät ist!«

Er rang mit ihr und riß sie von der Wiege fort. Dann schleppte er sie durch einen dunklen Gang zur hinteren Kanalpforte. Mit zwei Ruderern war das Boot bemannt. Guerrero und Isabel stiegen in das Boot.


An diesem Abend war der Spinner – der junge Dichter – zu Besuch bei seinem Freunde, dem Annalenschreiber Feuer-Juwel. Alte Chroniken, Sammlungen heiliger Gesänge, astronomische Werke und aus Ruinen von Gräberstädten herstammende toltekische Fundstücke waren angehäuft im engen Gelehrtenzimmer, wo sie beim Flackerschein eines Harzlichtes einander auf Holzschemeln gegenübersaßen. Eine große schäumige Pulque-Schale stand zwischen ihnen, und schon trieben in den starrglänzenden Augen des Spinners die kleinen Pulque-Götter – die Erwürger – ihr schelmisches Spiel. Feuer-Juwel las ihm aus einer noch unfertigen Bilderschrift vor, worin er neugeborene Gedanken in altheilige Gewänder kleidete. Er las:

Als Unser Herr Quetzalcoatl von Tula Abschied nahm, versenkte er seine Kostbarkeiten in einem Brunnen. Auch die mit Türkis-Mosaik überkrustete Schädelmaske, das Geschenk seines treuesten Jüngers, senkte er mit dem Gesicht nach unten in die Brunnenoberfläche, – da schlürfte die Maske durch Augen und Mund Wasser ein und glitt in die Tiefe. Ein vom Wind hergetragener Goldkäferflügel aber blieb auf der Haut des Wassers. Da sagte Unser Herr:

»Auf einem See der Totenwelt schwimmt ein kristallenes Boot. Warum versinkt das kristallene Boot nicht?«

Seine Jünger sahen ihn ratlos an.

»Weil es hohl ist. Weil es das All birgt und nach dem Nichts sich sehnt«, sagte Unser Herr. »Die weite Erde ist voll emporblickender Schalen. Blumenkelche und Vulkankrater sind Schalen, die sich von der Schwere befreien wollen und aufwärts streben zum Sternendach. Aber wer sich füllte – wer sich erfüllte – geht unter.«

»Ist das Hohle eine Zauberkraft?« fragte einer der Jünger. »Aber wie kann das Hohle, das Leere, das Formlose eine Kraft sein?«

»Es ist der Zauber aller Zauber«, erklärte Unser Herr, »es ist körperlos und doch mehr als Körper: es ist ummauert von Körpern und ist bewohnt von unüberschwenglichen Zauberworten! Halte die Meermuschel ans Ohr, so wirst du es ahnen! Erlausche, was der Duft im Lilienkelch spricht! Weil die Flöte hohl ist, birgt sie Freude und Schmerz und vermag zu leben. Alles Leben ist Wein in einem Schlauch, Mark in einer Knochenröhre, Edelsteinwasser in einer Opferblutschale.«

»0 Unser Herr«, sagte der Jünger, »jetzt glaube ich dich zu verstehen! Aus den sieben Höhlen kamen die Tolteken ...«

»So ist es«, fuhr Quetzalcoatl fort. »Das All ist eine Luftblase im Nichts – eine Seifenblase. Der Steinmetz fragt nach Breite, Tiefe und Höhe, der König aller Musikmeister aber fragt nach der Dicke der Sklavenhaut, mit welcher seine goldene Trommel bespannt ist: reißt die Haut, so stirbt die Trommel ... Hohl ist der Mutterleib, in der Nußschale wächst der Nußkern, in einem Glauben wächst eine Menschengemeinschaft. Ohne Hülle, Schale, Rinde gibt es keine Höhlung, gibt es kein Leben!«

»Und was ist der Tod?« fragte der Jünger.

»Die Zertrümmerung der Schale, damit neue Schalen entstehen. Denn keine Schale verbleibt!«

»Auch nicht die blaue Himmelsschale?«

»Auch nicht die blaue Himmelsschale!«


Ein dröhnendes Pochen erscholl. Die beiden Freunde erhoben sich von ihren Sitzen und sahen sich schreckensstarr an.

Das Geräusch komme von der Gasse her, meinte der Spinner.

Ja, jemand stehe vor der Haustür, bestätigte Feuer-Juwel. Aber wer möge wohl um diese Stunde Einlaß begehren? ...

Als Feuer-Juwel auf den Flur hinaustrat, liefen dort bereits seine Diener mit qualmenden Kienspanbündeln umher. Die Haustür wurde geöffnet. Zwei Träger trugen eine unansehnliche, beinahe ärmliche Sänfte über die Schwelle, und mit ihnen schlüpfte auch der als Fächerträger gekleidete Höfling Coxtemexi herein. In höchster Aufregung rief Coxtemexi – noch bevor er sie begrüßt und um eine Freistatt gebeten – den Haus-Erleuchtern zu, die Eingangstür müsse hinter ihm geschlossen und mit Balken verrammelt werden. Ungesäumt führten die Diener das aus.

Auf dem Wege zur Blaubemalten waren Coxtemexi und die von ihm begleitete Königin Silber-Reiher in den unabsehbaren Heuschreckenschwarm der abziehenden Sklaven hineingeraten. Sie waren bedroht worden, Verwünschungen waren gegen sie ausgestoßen worden; man wollte sie in einem dunklen Kanal ersäufen. Aber glücklicherweise hatte Königin Silber-Reiher – für den Fall, daß die Giftmischerin einen hohen Preis fordern sollte – ihr gefülltes Edelsteinkästchen mitgenommen; und als sie sich von zerlumpten, hungerbleichen, Stangen und Beile schwingenden Gestalten umringt sah, hatte sie in ihrer Todesangst die Gefahr mit der Hergabe des Edelsteinkästchens gebannt; – ihr und ihren Begleitern war gestattet worden, in das Haus des mit dem Höfling Coxtemexi gut bekannten Annalenschreibers zu treten. Unersetzlich und nie zu verschmerzen war ihr Verlust: befand sich doch im Kästchen außer mexikanischen Geschmeiden auch eines, das vor ihr Isabel de Ojeda besessen hatte, es war eine winzige, an goldener Halskette hängende Statuette der Gottesmutter aus Gold und Emaille.

Coxtemexi half Silber-Reiher aus der Sänfte. Sie lüftete den ihr Gesicht verhüllenden Schleier nicht, sie wollte nicht erkannt sein. Aber auch durch den dichten Schleier hindurch war zu sehen, wie sehr sie noch an allen Gliedern bebte.

Nachdem Coxtemexi – ohne den Namen seiner Begleiterin zu nennen – das Ungeheuerliche, dessen Zeugen und Leidtragende sie gewesen, beschrieben hatte, schlug Feuer-Juwel vor, auf das Tlapantli – den Hängenden Garten – hinaufzusteigen, um von dort aus die Kämpfe zu überschauen. Denn schon war Waffenlärm vernehmbar.

Und während sie sich auf das flache, von Zinnen bekränzte, mit Zwergpalmen, Fuchsien, Bromeliazeen und Vanille-Orchideen überwucherte Dach begaben, kicherten die kleinen Pulque-Götter – die Erwürger – in den Augen des Spinners. Vielleicht war er nicht so trunken, wie er sich stellte. Plötzlich verlor er auf der Treppe das Gleichgewicht und griff, eine Stütze suchend, nach dem Schleier der unbekannten Edelfrau. Der Schleier sank von der Stirn zum Hals hinab; und obgleich er sofort wieder emporgezogen wurde, hatte der Spinner Zeit gehabt, die Königin Silber-Reiher zu erkennen.

Niedrig war das Haus des Annalenschreibers, doch hoch genug, um vom Dach aus einen Rundblick über die südlichen Stadtteile Moyotla und Teopan zu gewähren. Das eben noch so laute Kampfgetöse war im Verstummen. Die Sklaven hatten das Haus der Speere erstürmt, die Wachen überwältigt, das Arsenal ausgeplündert. Jetzt kämpften sie, bewaffnet mit den erbeuteten Speeren, Pfeilen, Bogen und Schilden, am Südtor. Auch dort vermochten ihnen die wenigen Adler und Jaguare nicht lange die Stirn zu bieten (denn Mexicos Heerscharen standen teils mit Ohrring-Schlange vor Chalco, teils lagerten sie bei Coyoacan). Bald verhallte das Kampfgeheul, der Lärm der Muscheltrompeten erstarb und wich einer unheimlichen Stille. Durch das eroberte Tor flutete, strömte, wälzte sich eine dunkle Leibermasse über den Steindamm nach Itztapalapan zu. Die blauschwarzen Schatten der wimmelnden Myriaden tänzelten auf den mondsilbernen Lagunenwellen.

Nach einer Stunde waren die letzten Nachzügler hinter den blaßroten Türmen des Bollwerks Acachinanco verschwunden. Feuer-Juwel und seine Gäste verließen die Dachterrasse. Draußen drohte nächtlichen Wandrern keine Gefahr mehr.


Kaum hatten die Träger die Sänfte zum Haus hinausgetragen, verabschiedete sich eilig auch der Spinner, und da Feuer-Juwel ihn nicht fortlassen wollte, nannte er ihm den Grund seines frühen Aufbruches. Er habe vor, der Sänfte nachzugehen, denn die Verschleierte sei niemand anders als Königin Silber-Reiher, und wenn sie sich einen Schelm wie Coxtemexi zum nächtlichen Führer gewählt habe, so sei gewiß Schlimmes geplant – dem wolle er auf den Grund gehen.

Zwar warnte Feuer-Juwel seinen Freund, sich der Rache der Königin auszusetzen: leicht könnte es von den Trägern bemerkt werden, daß er ihnen nachschlich. Doch der Spinner ließ sich nicht zurückhalten.

Als er die Träger eingeholt hatte, standen diese, die leere Sänfte bewachend, in der engen Gasse, die zum Haus der Fledermäuse führte, Königin Silber-Reiher und Coxtemexi hatten die verdächtige Wohnung der Blaubemalten bereits aufgesucht. Der Spinner stellte sich hinter einen Torpfosten, um unbeobachtet zu beobachten.

Nach einer Weile erschollen in einer Nebengasse Frauenstimmen: ein Klagen und Winseln und derbe Scheltworte. Näher kamen die zankenden Frauen und bogen in die Gasse zum Hause der Fledermäuse ein. Als sie am Versteck des Dichters vorbeikamen, sah er drei nicht mehr junge Weiber, die ein reich gekleidetes, außerordentlich schönes Mädchen gewaltsam mit sich fortschleppten. Vergebens sträubte sich das Mädchen bei jedem Schritt, schlug wild um sich, schluchzte und flehte, wenn sie geschlagen wurde, um Erbarmen.

Ein Erbarmen fühlte der Spinner, geblendet von ihrem Liebreiz. Die Vorsicht außer acht lassend, trat er zu den Frauen, gewillt, der Quälerei ein Ende zu machen.

»Warum schlagt ihr die Cihuapilli?« schrie er die Weiber an.

(Mit dem Worte Cihuapilli – Prinzessin – wurden alle vornehmen Frauen bezeichnet, auch wenn sie keine Prinzessinnen waren.)

»Die ist keine Chihuapilli!« rief eins der Weiber. »Die ist eine entlaufene Sklavin!«

»Ich bin nicht eure Sklavin!« schluchzte das Mädchen.

»Nein, nicht unsere – aber die Sklavin unserer Nachbarin, der Blaubemalten! Und einen hohen Lohn hat die Blaubemalte uns versprochen, wenn wir dich wiederbringen!«


Der von langer Hand vorbereitete Auszug der Sklaven war zwar der herrschenden Klasse Mexicos überraschend gekommen – in den unteren Schichten des Volkes aber war lange im voraus davon geflüstert worden. Auch Blutfeuerstein, welche streng gehütet im Hause der Blaubemalten zum Giftmädchen herangezüchtet wurde, hatte trotz ihrer Abgeschiedenheit Winke von anderen Sklavinnen erhalten. Unglücklich über ihr Los, entschlossen, lieber den Tod als solch ein Leben zu ertragen, hatte sie Mittel und Wege gefunden, die Wachsamkeit ihrer Herrin zu überlisten. Nach ihrer bald entdeckten Flucht konnte die Blaubemalte ihr nicht nacheilen, weil ihr von Coxtemexi der Besuch der Königin Silber-Reiher angekündigt worden war. Darum hatte sie ihre Nachbarinnen angestiftet, die Entflohene zurückzuholen. Des Mädchens habhaft zu werden, war jenen geglückt, weil, nach der Erstürmung des Speerhauses und des südlichen Stadttores, zuerst der schier endlose Strom der bewaffneten Sklaven sich über den Damm nach Itztapalapan ergoß und des wilden Gedränges wegen sich Blutfeuerstein als eine der letzten unter den Nachzüglern befand. Eine der Frauen hatte sich ihr unter dem Vorwand genähert, sie fühle sich, nachdem sie eben im Gewühl beinahe erdrückt worden, einer Ohnmacht nahe( und während das leichtgläubige Mädchen sich um die scheinbar Bewußtlose bemüht hatte, war sie von den beiden anderen Weibern plötzlich gepackt und zurückgeschleppt worden.

Der Spinner mußte bald einsehen, daß mit begütigenden Worten nichts zu erreichen war. Die drei Weiber fuhren fort, Blutfeuerstein zu mißhandeln. Da entriß er sie ihren Händen. Das Mädchen warf sich vor ihm auf die Knie, verzweifelt jammernd:

»O edler Herr, steh mir bei! Ich will nicht meiner Herrin dienen –: sie ist eine böse Frau, eine Mörderin! Sie füttert mich mit Gift, damit ich Männer töte! Aber ich will nicht Männer töten! ...«

Die drei Weiber hatten ein Geschrei erhoben und fauchten den Spinner an.

»Was hast du dich dreinzumengen, Taugenichts! Wer bist du denn, daß du hier den Mund auftust! Eine Kakaobohne ist mehr wert als du! Klüger wär's, du zeichnetest dich im Kriege aus, damit man dir endlich den Haarschopf abschneidet, den du noch immer im Nacken trägst! ... Bohre dir ein brennendes Holzscheit in die Gurgel und mache dir ein Loch – groß genug, deine ganze Schlechtigkeit auszuspeien!«

Das Gekreisch hatte Coxtemexi, Silber-Reiher und die Blaubemalte aus dem Hause herausgelockt. Die Giftmischerin zeigte der Königin die Kniende: dies sei jenes entlaufene Sklavenmädchen, von welchem soeben die Rede gewesen war ... Coxtemexi nahm die Königin beiseite und beriet sich flüsternd mit ihr, dann flüsterte er mit den Trägern. Und plötzlich war der Spinner von den Tlamamas und Coxtemexi umzingelt, überwältigt, an Händen und Füßen gefesselt. Er und Blutfeuerstein wurden ins Haus der Giftmischerin geschleppt.

Von Coxtemexi erfuhr die Blaubemalte, daß der Spinner der Sänfte nachgeschlichen war und als gefährlicher Mitwisser getötet werden müsse. Gutmütig lächelnd stimmte sie dem bei. Als jedoch Coxtemexi sich ein Messer ausbat, schüttelte sie den Kopf: sie wolle keine blutigen Spuren in ihrem Hause haben, sagte sie und bat, man möge ihr die Tötung des jungen Menschen überlassen. Sie wolle an ihm ein neuartiges Gift versuchen – an Ratten habe sie damit schon gute Erfolge erzielt. Man träufelt es in die Augen, und es frißt sich hindurch bis ins Gehirn. Würde dann die Leiche im Haus der Fledermäuse gefunden werden, so müsse jedermann glauben, die Augen seien von Geiern und Raben ausgehackt.

Die Blaubemalte kauerte auf einem Schemel nieder und zerstampfte in einem Mörser getrocknete Kräuter und Schlangenzähne. Dann stellte sie einen kupfernen Dreifuß über das Herdfeuer und ließ in einer Pfanne Blei zerschmelzen.

Jedes Wort hatte der Spinner gehört, nun sah er die Vorbereitung zu seiner Ermordung. Obgleich er gefesselt am Boden lag, begann er zu singen. Ein stolzes, herausforderndes, jubelndes Totenlied sang er.

Nicht daß Königin Silber-Reiher gerührt worden wäre. Doch rief das Lied ihr ins Gedächtnis, daß der junge Dichter ein gern gesehener Gast im Huei-Tecpan war. Sein Verschwinden werde bei Hofe nicht unbemerkt bleiben, sagte sie sich, auch befürchtete sie, daß Feuer-Juwel, der vielleicht von der Absicht seines Freundes, der Sänfte zu folgen, unterrichtet war, die Mordtat ans Licht bringen könnte.

Daher faßte sie abwehrend der Blaubemalten Arm, als diese das siedende Gift bereits über des Spinners Augen hielt; und sie befahl Coxtemexi, die Fesseln zu lösen. Dann sagte sie zum Spinner:

»Du hast eine alte Mutter. Ich sah sie oft, wenn sie dich im Großen Palast besuchte, als du noch König Montezumas Sänger warst. Heute nacht lasse ich deine Mutter als Geisel zu mir bringen. Sie wird bei mir wohnen, und wenn du mich verrätst, wird sie sterben!«


Rodrigo Rangel hielt an Cortes diese Ansprache:

»Zweimal haben Euer Liebden den Mexikanern Friedensangebote geschickt, welche die Überbringer sich ins Haar steckten und Guatemoctzin sich hinters Ohr geschrieben haben wird. Die Versöhnungshand streckten Euer Liebden aus, dem Zuge des Herzens folgend, – und das ist ein schöner Zug von Euer Liebden! Womit ich nicht gesagt haben will, daß nicht auch Hannibals Zug über die Alpen oder Euer Liebden Zug über die Kordilleren schön war und irgendwie dem Frieden diente. Alle Wege führen nach Rom, sogar die langen Kriegswege. Nach Ansicht mancher Leute, z. B. meiner Flamme, der langen Elvira, ist Länge sogar ein Vorzug, selbst bei meinen Reden. Durch den edelmütig bezeugten Friedenswillen haben Euer Liebden vor dem Richterstuhl der Geschichte – so sagt man doch wohl – sich mit unschuldigem Wasser die Hände gewaschen wie weiland Pontius Pilatus, für den ich im übrigen keine Lanze breche, denn er zweifelte an, was die Weltgeschichte so genau weiß – was sich zu eigen gemacht zu haben der Weltgeschichte höchster Wert und Ruhmestitel ist –: nämlich die unantastbare Wahrheit! Sie ist immer auf dem Wege, mag er kurz oder lang sein, – läßt man das anzweifeln? Nein! Wie also kann man sie selbst anzweifeln? Dieser römische Landpfleger aber unterstand sich, es zu tun, und fragte: Was ist Wahrheit? ... Als ob man es nicht wüßte, als ob die Weltgeschichte es nicht wüßte! Von der einen Entgleisung abgesehen, war der Mann sauber und wusch sich die Hände, ohne sie sich zu beschmutzen. Als sich kürzlich unser braver Hauptmann Sandoval in Chalco die Hände wusch, war der durch die Stadt fließende Fluß so tiefrot von Mexikanerblut, daß anderthalb Stunden lang die armen verdurstenden Christen nicht einmal daraus trinken konnten. Ich bitte Euer Liebden, sich die Qual der Christen vorzustellen. Ist es zu verstehen, daß die Mexikaner trotz des Friedenszustandes, in welchem wir leben –denn noch haben wir keinen Krieg–, sich einfach töten lassen, wie neulich in Itztapalapan? Und warum? Doch nur, um uns ins Unrecht zu setzen! Nichts beweist klarer ihren schlechten Willen – was bleibt uns da anderes übrig, als ans Gewissen der Welt zu appellieren! Ich frage Euer Liebden: Kann man sich ins Unrecht setzen lassen, wenn man in seinem Recht sitzt wie ein Hermelin im Taubenschlag? Ich behaupte: Man kann es nicht! ... Die Mexikaner haben Euer Liebden gütigen, väterlichen Brief, den sie allerdings schwerlich entziffern konnten, nicht einmal beantwortet. Ist das zu fassen? Ist es zu begreifen, daß sie den Frieden nicht annehmen wollen von uns, die wir so viel mehr und so viel größere Schiffe haben als sie? Mein Freund, der berühmte Ignotus, schreibt irgendwo: Das Recht war immer auf seiten der größeren Schiffe! ... Aber das eben ist der Fehler der Mexikaner, sie wissen nichts von Geschichte und nichts vom Gewissen der Welt, das seit Olims Zeiten sauber gewaschene Finger hat, genau wie Pilatus und unser Sanchez Farfan. Eins aber müßten die Mexikaner wissen: daß in Tlascala der Schiffbaumeister Martin Gutiérrez sein Wunderwerk vollendet hat: die Schiffsteile sind auf dem Marsche, sind unterwegs – wie die Wahrheit –, sie schweben über den Gebirgswall, von zehntausend Tlamamas getragen und von Erdwellen, die höher sind als Wasserwellen. Und auch die Schwarze Blume hat, um den gefährdeten Frieden zu beschützen, sich beeilt, den Kanal und den Hafen für die Brigantinen mit Hilfe von achttausend Erdarbeitern fertig zu graben. Ohne Hilfe der Erdarbeiter aber hat die Schwarze Blume einen anderen heimlichen Kanal geleitet zum Herzen unserer Amazone, der Frau des Weißhändigen. Man wird nicht umsonst beraten und zum König erzogen vom Weißhändigen, der wie Pontius Pilatus von der bitteren Wahrheit keine Ahnung hat.«

So sprach Rodrigo Rangel.


Nicht nur die in Tlascala gezimmerten Schiffsteile, auch Segel, Teerfässer, Eisenklammern und Bussolen, die einst – vor der Verbrennung der elf Karavellen – in Sicherheit gebracht und in Vera Cruz aufbewahrt worden waren, wurden jetzt über Huei-Otlipan, Calpulalpan und die Quauhtepan-Kordillere – das Adlergebirge – getragen. Martin Gutiérrez begleitete die achttausend Tlamamas, um am Lagunenufer die Zusammenfügung der Brigantinen und ihren Stapellauf zu leiten.

In großer Gala ritten zu festlichem Empfang die Feldobristen, in grellfarbigen Kriegertrachten schritten die verbündeten Indianerfürsten durch die das Osttor Tezcucos umgrünenden Kakaopflanzungen. Blumenbeladen wälzte sich die Stadtbevölkerung hinterdrein. Das Christenheer wartete bereits seit Stunden vor den Mauern der Stadt und spähte hinaus auf die einer Nebelschlange ähnliche Staubwolke in der Ferne. Menschen und Pferde wurden erkennbar – zuerst das schwanenhalsige Berberroß des an der Spitze reitenden Alvarado, den Cortes mit hundert Kastiliern zum Schutz des Transportes nach Tlascala gesandt hatte. Mit Jubelgeschrei krochen die beiden Menschenmassen aufeinander zu.

Der Jubel wurde zum dröhnenden Freudengebrüll, als sie aufeinanderstießen. Cortes stieg vom Pferd, umarmte und küßte den Schiffbaumeister auf beide Wangen und beschenkte ihn mit einem bei Itztapalapan erbeuteten mexikanischen Geschmeide.

Noch ehe er den Fuß wieder in den Steigbügel gesetzt hatte, sah er einen fremden, vornehm gekleideten Europäer auf einem Rappen herangaloppieren. Es ärgerte ihn, daß er zu Fuß war, als jener den Rappen dicht vor ihm parierte und zu ihm niedergrüßte. Cortes übersah es, schwang sich in den Sattel, und in den Steigbügel gepflanzt, erwiderte er dann erst den Gruß. Er blickte in ein längliches, graubärtiges, fahles Hofschranzen-Gesicht mit einer etwas plumpen Nase und stechendschwarzen, unenträtselbaren Augen. Diese Augen gefielen Cortes nicht, obgleich sie weder Groll noch Mißmut über die verspätete Grußerwiderung verrieten – eher war der Blick zu freundlich-kalt und stolz.

»Don Juliano de Alderete ...«, flüsterte Alvarado Cortes zu. Dieser nickte. Er war durch vorausgesandte Boten Alvarados bereits unterrichtet, daß endlich – nach des Christenheeres zweijährigem Aufenthalt auf mexikanischem Boden zum erstenmal – in den Hafen von Vera Cruz ein aus Europa kommendes Schiff eingelaufen war, mit dem vom Kaiser ernannten Ober-Schatzmeister Juliano de Alderete an Bord, welcher auf Anraten des Hafenkommandanten Pedro Caballero unverzüglich nach Tlascala geritten war, um sich Alvarado und den Tlamamas anzuschließen. Daß dieser Mann, dessen Freundschaft mit Fonseca, dem Bischof von Burgos, allgemein bekannt war, nicht nur des Kronfünftels wegen die weite Reise unternommen hatte, war für Cortes selbstverständlich.

»Señor, ich heiße Euch in Tezcuco willkommen und hoffe Euch bald die Schönheiten Mexicos zeigen zu können!«

Höflich-kühl wie Cortes' Worte war Alderetes Entgegnung:

»Señor, das Vergnügen, Euer Liebden bis nach Mexico begleiten zu dürfen, verdanke ich der Gnade Seiner Majestät, unseres Kaisers, der mir einen Gruß an Euer Liebden auftrug!«

Doch Cortes hörte mehr als Höflichkeit heraus.


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