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Bei einer Besichtigung der durch die Sturmangriffe verursachten Schäden sah Cortes, wie nahe dem Untergang Alvarado mit seiner kleinen Schar gewesen war. An zwei Seiten war die Palastmauer durchbrochen, und fast ein Wunder war es, daß die durch die Breschen eingedrungenen Indianerhaufen zurückgedrängt und die Breschen wieder hatten vermauert werden können. Fünf Kastilier waren bei den Kämpfen gefallen. Auch war es den Azteken geglückt, ein im Schloßgarten befindliches Munitionslager durch Brandpfeile in die Luft zu sprengen. Erneuten Sturmangriffen hätten die Belagerten nicht lange mehr standhalten können.

Für den Augenblick war die Gefahr gebannt. An Munition, an Geschützen und an Verteidigern fehlte es nicht. Cortes hatte nicht zu wenige – er hatte zu viele Soldaten. Und das war die neue, furchtbare Gefahr, die jetzt heraufdämmerte.

Von jeder Zufuhr war der Tecpan abgeschnitten. Selbst Montezuma erhielt keine Nahrungsmittel mehr. Die königlichen Sklaven, die sich auf die Gassen oder die Kanäle hinauswagten, Eßwaren zu kaufen, wurden niedergemacht. Und dasselbe Los ereilte einige Getreue des Königs, hohe Staatsbeamte, beim Versuch, Speisen und Getränke heimlich in den belagerten Tecpan zu schaffen. Die Kastilier hätten für all ihr Gold kein Maisbrot erhandeln können.

Etliche Vorräte befanden sich noch im Palaste. Doch sie schwanden in erschreckender Weise hin und reichten kaum noch für Tage.

Cortes erließ in Montezumas Namen eine Aufforderung an die Azteken, Handel mit den Christen zu treiben wie zuvor. Nichts wurde damit erreicht, und die öffentlichen Ausrufer Montezumas, welche diese Aufforderung in der Stadt verkündeten, fielen der Wut des Volkes zum Opfer.

Da befahl Cortes, den Überwältiger, Montezumas Bruder, von der Eisenkette zu lösen, und er sandte ihn in die Stadt, damit er – Montezumas wegen – die Azteken überrede, von den Feindseligkeiten zu lassen und wieder Lebensmittel feilzuhalten. Der Überwältiger entfernte sich und kehrte nicht zurück. Bald darauf aber wurde bekannt, daß die Azteken neue Stürme vorbereiteten und sich zwei Führer gewählt hatten: den Überwältiger und den Herabstoßenden Adler.


Eine Rekognoszierung, die Ordas mit vierhundert Mann unternahm, endete als Schlacht, acht seiner Leute wurden erschlagen.

Der Krieg hatte nach kurzer Waffenruhe wieder begonnen, die kreischenden Muscheltrompeten und die große Kriegstrommel verstummten nicht mehr. Die Azteken erneuten nun täglich ihre Angriffe auf den Tecpan. Heuschreckengleich deckte ihr Gewimmel die umliegenden Straßen, die flachen Hausdächer und die Plattformen der Schlangenbergpyramide. Ihre geschleuderten Wurfspeere, Wurfsteine, Pfeilschäfte und Brandpfeile verfinsterten die Luft wie ein schwarzer Nebel. Wahnsinnigen gleich vergeudeten sich die Azteken, schlugen mit Steinäxten auf die Tore ein, rammten Balken gegen das Gemäuer, kletterten an Spießen zu Fenstern oder Lichtöffnungen hinauf, krochen vor die Mündungen der Geschütze. Die Kastilier erwehrten sich ihrer. Doch wenn Tausende hinsanken, kehrten Zehntausende wieder.

Ausfälle machte Cortes. Heldentaten vollführte er, Heldentaten vollführten seine Getreuen. Doch mit jedem Sieg, den er erfocht, wurde es deutlicher offenbar, daß die Zahl seiner Feinde nicht abnahm, daß sie zusehends wuchs.

Und das Hungergespenst wandelte durch die Säle des Tecpans.

Da wurde Cortes inne, daß er sich nicht lange mehr werde halten können. Sein siegreiches Heer war verloren, wenn es nicht bald die Stadt verließ.

Er schickte Pater Olmedo zu Montezuma, damit er dessen Beistand erwirke: eingreifen solle der König, sich den Azteken zeigen, beschwichtigend zu ihnen sprechen, sie überreden, die Feindseligkeiten einzustellen und den Christen–die bereit seien, Tenuchtitlan zu verlassen – freien Abzug zu gewähren.

Einem todeslüsternen alten Liede, das sein Musikmeister Löffelreiher-Schlange ihm vortrug, lauschte Montezuma, als Olmedo bei ihm eintrat. Orteguilla saß neben dem König und schluchzte. Montezumas Hand strich dem Knaben über das Haar.

Nachdem Olmedo sich seines Auftrages entledigt hatte, sagte Montezuma:

»Nichts will ich mehr mit dem Grünen Stein zu schaffen haben. Ich wünschte, ich hätte nie von ihm gehört! ... Nur noch sterben will ich ... nur noch sterben ...«

Und dann erhob er sich von seinem mit Juwelen besetzten Sessel und schrie wie irr:

»Warum läßt man mich nicht sterben!«

Doch selbst zum Trotz fehlte ihm die Kraft. Und da Olmedo nicht abließ zu bitten, willigte er ein.

»Ich werde noch einmal zu den Mexikanern reden! Mich hören werden die Mexikaner und werden sagen: Der große Montezuma redet zum letztenmal zu uns! Der König der Hirsche ruft ihn – werden sie von mir sagen –, schon breitet er sich über den Himmel! ...«

Und er ließ sich das »goldene Gewand«, das prunkvollste der königlichen Gewänder, bringen. Und er setzte sich die Königstiara aus Saphiren aufs Haupt, nahm das silberne Reiherzepter in die Hand. Seit seiner Gefangennahme hatte er sich so glanzvoll nicht gekleidet.

Und er stieg zu den Dachterrassen empor, und noch höher stieg er empor auf einer Steintreppe im Innern eines Turmes über dem Haupttor. Und durch eine Tür, die sich auf halber Höhe des Turmes befand, trat er ins Freie auf einen kleinen vorspringenden Altan hinaus. Orteguilla, Pater Olmedo, kastilische Wachtposten und mexikanische Höflinge waren ihm hinauf gefolgt, hielten sich jedoch voller Scheu weitab im Hintergrunde.

Ein Schrei schrillte auf aus der Tiefe:

»Schaut, schaut! der Zornige Herr! ...«

Der Sturm brach ab. Kampfgeheul und Muschelhörner verstummten. Speer- und Pfeilwolken verschwirrten. Das Gewimmel der Myriaden erstarrte. Leichenstille.

Und Montezuma sprach:

»O ihr tapferen Mexikaner und Chichimeken! Warum habt ihr den Krieg entzündet? Warum rieft ihr die rote Blutschlange vom Himmel herab? Ihr sagtet vielleicht: Der Zornige Herr trägt die Sklavenfeder, laßt uns Speere und Schilde verteilen und gehen, ihn von den Sklavenhaltern befreien! Ihr sagtet vielleicht: Er hat sich in das Sternbild der Fremdlinge gestellt, wir aber wollen ihren Schweif zerstören! Ihr sagtet vielleicht: Er opfert nicht mehr, wir aber wollen ihn, der sich in Blut kleidet! Recht tatet ihr, o meine Söhne, meine Brüder, meine Oheime, wenn ihr euren König rächen wolltet – denn die gleiche Wiege haben die Völker und die Könige. Doch den Himmel und die Erde rufe ich an als Zeugen: ihr irrtet, o ihr tapferen Mexikaner und Chichimeken! Freiwillig zog ich in den alten Palast. Freiwillig stellte ich den Jaguarfellsitz in das Haus meiner Gäste. Ihr wolltet sie mit den Steinspitzen eurer Pfeile vertreiben – doch schon wurden sie vom Speer des Morgensternes getroffen: sie verlassen die Stadt, und ihr werdet sie ziehen lassen! Geht, tapfere Krieger, tragt eure Waffen in das Haus der Speere zurück! ... Bald werde ich wieder opfern wie zuvor und Blumen aus den Brüsten reißen ...«

Weiter konnte Montezuma nicht sprechen. Ein böses Gemurmel hatte seine Rede begleitet und war angeschwollen zu wüstem Gebrüll:

»Memme! Verräter! Du bist unser König nicht mehr!« schrien rasende Stimmen.

Ergrausend blickte Montezuma hinunter. Er erkannte einzelne Gesichter. Da stand Prinzessin Perlmuschel als mexikanische Amazone gekleidet mit Speer und Schild. Und da stand sein jugendlicher Vetter, der Verbannte ...

Pfeile flogen durch die Luft, flogen an Montezumas Schläfen vorbei, ohne ihn zu treffen. Er wich nicht aus, blieb wie ein Steinbild, wo er stand, und blickte hinunter.

»Du feiger König!« tönte des Herabstoßenden Adlers Stimme herauf. »Entmannt haben dich die Gelbhaarigen, haben dich zum Weib gemacht! Geh, spinne und webe mit ihnen, du Schmachfrau Mexicos!«

Und der Herabstoßende Adler warf einen Stein nach dem König, traf ihn an der Stirn. Montezuma brach zusammen. Seine Begleiter trugen ihn in den Turm.

Das Volk hatte die klaffende Wunde gesehen und glaubte, der König sei erschlagen. Von einem Schauder wurden die Tausende gepackt. Ein Gott war getötet worden. Im Nu schwand die Menge schulderdrückt hinweg.

Nur noch der Herabstoßende Adler stand auf dem Platz vor dem Turm und blickte hinauf. Und den Kopf nieder auf die Brust senkend, schritt er langsam hinweg.


Prinzessin Maisblüte wurde aus dem Kerker geholt. Verwahrlost war ihr Äußeres, wirr, ungekämmt hingen ihr die blauschwarzen Haarsträhnen über die Wangen. Und doch mußte Cortes staunen über ihre sieghafte Schönheit.

Durch das scheußliche Verbrechen – begann er –, durch die Ermordung ihres Verlobten habe sie ihr Leben verwirkt. Jung, von den Teufelspriestern aufgehetzt sei sie. Und ihrer Jugend wegen fühle er Mitleid mit ihr. Die Strafe ließe sich abmildern, wenn sie Reue zeige. Sie bereue nichts! entgegnete sie stolz, und ein Funke blitzte im Glashäutchen ihres Auges. Sie würde die Tat noch einmal tun, wenn sie könnte!

Cortes hatte ihr eine goldene Brücke bauen wollen. Ihre Antwort brachte ihn außer Fassung. Erregt ging er im Saal auf und ab.

Ob sie wisse, daß ihr Vater verwundet wurde! fragte er.

Sie nickte. Eben erst hatte sie es erfahren. Kein Schmerz drückte sich auf ihrem Gesicht aus.

Schwer verwundet sei der König, sehr schwer verwundet. Der Arzt befürchte, ihn nicht durchbringen zu können, wenn der Kranke nicht Ruhe und Stille um sich habe ... Ob auch sie ihres Vaters Tod wünsche wie die wahnsinnigen Mexikaner?

Nein, sie wünsche ihres Vaters Tod nicht, antwortete die Prinzessin.

Dann müsse sie die Mexikaner abhalten, Sturm zu laufen. Und wenn sie das tue, solle ihr die Strafe erlassen sein.

Sie könne die Mexikaner nicht abhalten! sagte sie und lächelte wie ein Kind, denn sie glaubte, er verlange von ihr, daß sie zum Volk rede.

Doch! Sie könne! rief Cortes. Der Herabstoßende Adler begehre sie zur Frau ...

»Der Herabstoßende Adler ist keine zwitschernde Schwalbe!« sagte Maisblüte verächtlich.

Doch Cortes hielt ihr vor, daß sie selbst es der Gattin Alvarados, Dona Maria Luisa-Rabenblume, anvertraut habe. Und durch Rabenblume wisse er es. Ihr Leugnen helfe ihr nichts. Sie habe Einfluß auf den Herabstoßenden Adler. Darum müsse sie zu ihm gehen, von ihm Waffenruhe und freien Abzug für die Christen verlangen.

Maisblüte erklärte sich bereit, zum Herabstoßenden Adler zu gehen.

Als es Abend geworden war und die Mexikaner nach stundenlanger Schlacht sich zurückgezogen hatten – denn niemals kämpften die Völker Anahuacs nach Eintritt der Dunkelheit –, wurde Maisblüte aus dem Palast hinausgelassen. Ohne Schutzwache, nur von einer Sandalenbinderin begleitet, schritt sie durch die mit Leichen bedeckte Straße. Bald sah sie sich umringt von aztekischen Schildträgern, welche die beiden Frauen aus dem Palast hatten heraustreten sehen und sie für Kundschafterinnen hielten. Furchtlos gab sich die Prinzessin als Tochter Montezumas zu erkennen und ließ sich von den Kriegern den Weg zum Herabstoßenden Adler zeigen.

Sie wurde in den Huei-Tecpan gebracht, wo seit Beginn des Krieges die beiden Führer der Mexikaner – der Überwältiger und Guatemoc – in Montezumas einstigen Gemächern wohnten.

Traurig und froh, zurückhaltend kalt und durchzittert von Sehnsucht empfing der Herabstoßende Adler die Geliebte. Seinetwegen hatte sie den weißen Gott verbrannt. Ihretwegen, ihren Kerker zu öffnen, hatte er hundertmal dem Tode ins Auge gesehen. Doch er küßte sie nicht, berührte ihre Hand nicht. Er wies ihr einen Sessel an und setzte sich ihr feierlich kühl gegenüber.

Sie entledigte sich ihres Auftrages, trug ihm die Bitte des Cortes vor.

Er lehnte ab. Friede werde sein, wenn kein Sohn der Sonne mehr am Leben sei – nicht früher!

Sie erhob sich. Wohin sie wolle? fragte er sie.

Sie habe vom Zornigen Herrn nicht Abschied genommen, gab sie zur Antwort.

Er lasse sie nicht zurückkehren! Sie müsse im Huei-Tecpan bleiben!

Ob sie bei ihm bleiben dürfe? fragte sie verlegen.

Da schüttelte er traurig den Kopf. Sie könne sein Weib nicht werden. Und er teilte ihr mit, was sie noch nicht wußte: daß seine Hand es gewesen war, die den Stein nach dem König geworfen hatte.

Noch nie hatte er Tränen in der Prinzessin Augen gesehen. Jetzt weinte sie. Doch er wagte nicht, ihre Hände zu küssen.

»Mein Vater wird genesen«, sagte sie.

»Der Zornige Herr wird sterben!« sagte er hoffnungslos. Und er führte die Prinzessin zu ihrem Oheim, dem Überwältiger, und übergab sie seiner Obhut.

Und als Cortes sah, daß die Entsendung der Prinzessin ergebnislos blieb, ließ er sich nicht abschrecken und unternahm einen dritten Versuch. Piltecatl, jener kühne Tlascaltekenfeldherr, der die weiße Schminke nach Cholula gebracht hatte, erbot sich, als Unterhändler Guatemoc aufzusuchen, und Cortes nahm sein Anerbieten an.

Mit zwei tlascaltekischen Begleitern gelang es Piltecatl, den Huei-Tecpan zu erreichen und sich Zutritt zu verschaffen. Der Herabstoßende Adler hörte ihn an, lachte finster und gab keinen Bescheid. Aber er befahl, drei Mädchenröcke, drei befranste Schultergewänder und weiblichen Kopfschmuck zu bringen und die drei Tlascalteken als Frauen zu kleiden, sie mit gelbem Puder zu schminken. So beschimpft schickte er sie zu Cortes zurück.

Sie traten in Frauentracht vor Cortes hin. Empört fragte er, was das schändliche Mummenspiel bedeute. Und Piltecatl klärte ihn auf.

Es bedeutet den Krieg ohne Erbarmen, den Ausrottungskrieg.


Die Vorräte waren aufgebraucht. Dem Hunger gesellte sich der Durst. Von den Mexikanern zerstört war der den alten Tecpan versorgende Teil des Aquäduktes, die Kastilier mußten das salzige Wasser der Lagune trinken. Jeder Tag brachte ihnen einen Sieg und führte sie dem Verhängnis näher. Da sah Cortes ein, daß er mit seinen Siegen leere Magen nicht füllen und brennende Gaumen nicht löschen konnte. Nur eine Rettung blieb für sein Heer: Flucht, heimliche Flucht aus der Stadt.

Sein Astrolog Botello hatte ihm Mut gemacht. Er hatte für die kommende Nacht das Horoskop gestellt, und die Sterne standen ziemlich günstig.

»Um die Hauptsache vorweg zu sagen, Señor Capitan – Ihr und das Heer werdet die Drangsal überstehen. Ihr werdet Euch durchschlagen ...«

»Mehr will ich nicht wissen!« sagte Cortes. »Zu viel Wissen lähmt.«

»Señor Capitan, ich las auch Ungünstiges in den Sternen ...«

»Behaltet es für Euch. Sagt mir's erst, wenn wir am anderen Ufer sind!«

Da nahm der alte hagere Italiener tief bewegt Abschied von Cortes, indem er sagte:

»Señor Capitan, an jenes Ufer der Lagune werdet Ihr gelangen. Ich aber werde an ein anderes Ufer verschlagen. Wir sehen uns nicht wieder!«

»Ich hoffe, daß Ihr Euch irrt«, sagte Cortes, wiewohl er an die Todesahnung glaubte. Und er umarmte den alten Gefährten, küßte ihm die rauhe hohle Wange.


Mit den Tüchtigsten seines Heeres hielt Cortes Kriegsrat. Er schlug vor, nach Mitternacht aus der Stadt zu fliehen. Und keiner widersprach ihm. Er teilte sodann mit, welchen Weg er gewählt habe, nicht nach Iztapalapan wolle er sich wenden, sondern versuchen, auf der nordwestlichen Dammstraße das Ufer von Tlacopan zu erreichen, da dort nur drei Dammdurchstiche zu überbrücken seien – nicht sieben wie beim Dammweg von Iztapalapan. Von Tlacopan aus hoffe er am Nordufer der Lagune entlangziehend die Kordilleren zu gewinnen und sich bis nach Tlascala durchschlagen zu können. Während der nächtlichen Flucht solle die Vorhut von Sandoval, Ordas und Lugo, die Mitte von ihm selbst, Olid und Avila, die Nachhut von Alvarado und Velazquez de Leon geführt werden.

»Was machen wir mit den fünf Gefangenen an der Eisenkette?« fragte Avila. »Schleppen wir sie mit?«

Niemand antwortete.

»Auch das ist eine Antwort!« sagte Avila nach einer Weile. »Ich denke ebenso. Wir haben schon den Goldschatz mitzuschleppen ... Und was soll mit Montezuma geschehen?«

Wieder wurde es still im Saal.

»Wir nehmen ihn mit!« sagte Velazquez de Leon.

»Auf einer Krankenbahre?« fragte Lugo. »Ich fürchte, er übersteht die Reise nicht.«

»Wir liefern ihn dem Herabstoßenden Adler aus!« schlug Ordas vor.

»Um den Mexikanern ein Oberhaupt zu geben?« fragte Olid. »Um sie unbesieglich zu machen?«

»Wir wären Wahnsinnige, wenn wir das täten!« bemerkte Avila.

»Ich weiß, woran Ihr denkt, Señior Avila!« rief Pater Olmedo erregt. »Ich hoffe, daß Don Hernando das nicht zulassen wird!«

Jetzt äußerte sich auch Cortes.

»Padre, Ihr sprecht meine Gedanken aus. Ich will nichts davon wissen!«

»Ihr sollt nichts davon wissen, Don Hernando!« sagte Avila mit höflich-devotem Lächeln. »Und Ihr braucht Eurer Reputation wegen ...«

Cortes unterbrach ihn.

»Merkt Euch, Señior Avila, daß ich meine Einwilligung dazu nicht gebe!«

»Ich bat nicht um Eure Einwilligung, Don Hernando!« erwiderte Avila. »Aber seltsam finde ich es, daß Ihr ihn letzthin nur noch den Hund nanntet, plötzlich aber ...«

»Ich verbiete es Euch!« schrie Cortes ihn an. »Und jetzt will ich kein Wort mehr davon hören! Wir werden Montezuma mitnehmen! ...«

Und Cortes lenkte das Gespräch auf die Verteilung der Artillerie und des Trosses. Dem Zimmermann Christobal de Jaén vertraute er die gefahrvolle Aufgabe an, mit vierzig Mann eine bereits gezimmerte zerlegbare Holzbrücke der Vorhut voranzutragen und die offenen Dammdurchstiche zu überbrücken.


Es war eine Stunde vor Mitternacht. Das Schlafgemach Montezumas dämmerte, vom schwelenden Docht eines zinnernen Öllämpchens – eines Geschenkes Alvarados – matt erhellt. Ines Florin, die Samariterin, und Prinzessin Papan, die Königsschwester, saßen am Bett des Kranken. Wenn sie sich bewegten, hüpften große dunkle Schatten am ornamentierten Schmuck der Wände und Pfeiler empor. Montezuma fieberte. Seine Verwundung war nicht tödlich gewesen. Doch er hatte die Verbände, die der Apotheker Ponce de Güelva ihm anlegte, sich immer wieder vom Kopf gerissen. Er stieß Speise und Trank zurück. Er wollte sterben. Er wollte es nicht überleben, daß sein eigenes Volk ihn – den König der Könige – nicht wie sonst auf den Knien liegend angehört, ihn verhöhnt, geschmäht, mit Steinen beworfen hatte.

Pater Olmedo trat ein. Er wußte, was bevorstand, und war nicht fähig, es zu hindern. Wenn den Leib nicht, so wenigstens die Seele des unglücklichen Königs wollte er retten. Viele vergebliche Bekehrungsversuche hatte er unternommen. Und jetzt, in letzter Stunde, bemühte er sich noch einmal um das Heil des Verlorenen.

Montezuma hörte ihn und hörte ihn auch nicht. Er ließ ihn reden, träumte seine Träume weiter. Der Geistliche sprach innig, schlicht und menschlich, mit warmer Ergriffenheit. Er gab sein Bestes her. Doch umsonst. Als er ausgeredet hatte, setzte sich der König in den Kissen aufrecht, starrte ihn an.

»Horch! ... Hörst du, was die Fleischtöpfe sagen? ...«

»Welche Fleischtöpfe, Majestät ...?«

»So sprechen die Fleischtöpfe: Immerzu setztest du uns dem Feuer aus, peinigtest uns mit tödlicher Feuerpein, Mensch! Du wolltest unsere Wehrufe nicht hören, wolltest nicht sehen, daß wir den Herdflammen zu entfliehen suchten und nicht konnten. Jetzt bist du der Lahme. Ohne Mitleid werden wir zusehen, wenn Wasser und Feuer über dich kommt! ...«

»O Majestät!« rief der Pater. »Verscheucht die Rachegedanken! Läutert Eure Seele! Ergreift die Hand, die der Heiland erbarmungsvoll Euch reicht! Auch für Euch ist er am Kreuz gestorben! Versöhnt Euch mit dem Kreuz, eh es zu spät ist! Küßt das heilige Kreuz!«

Und er hielt ihm das Kruzifix dicht an die Lippen.

Wild packte Montezuma das messingne Kruzifix, und mit aller Gewalt schleuderte er es in eine Ecke des Gemaches. Klirrend sprang und tänzelte und verbebte das Messing auf dem Estrich.

»Ich will keine Fäuste sehen!« schrie Montezuma. »Wer wagt, die Hand zu erheben wider mich! Ich bin der König der Welt! Ich bin ein Gott! ... Wagt nicht, mich zu kreuzigen ... Ich will euer Heil nicht! – es ist Unheil! Eure Erlösung ist Lösung aller Bande, ist Auflösung! Das Volk wirft mit Steinen nach seinem Gott – das ist eure Erlösung! Darum Fluch euch und eurem Kreuz!«

Da verließ ihn Pater Olmedo.

Und Prinzessin Papan sprach zu Montezuma:

»O Zorniger Herr, o mein Bruder! Als der große Schmetterling mich verfolgte, erfaßte der weiße Mann meine Hand und zeigte auf das Schädelgebirge, dessen Spitze bis in den Himmel reicht. Noch ist Zeit zur Umkehr! sagte der weiße Mann ...«

Doch Montezuma sprach aus seinen Träumen heraus:

»Ich sehe das Sternballspielhaus! ... Ich sehe den Markt! ... den schießenden Stern! ... den Feuerbohrer und unseren älteren Bruder, den Skorpion! ... Im Spiegel des Kranichkopfes sehe ich sie! ... Ihr ewigen Bilder bleibt auf Erden – sonst nichts, sonst nichts! ...«

Der Narr Madrid trat ein und zupfte Ines Florin am Ärmel.

»Kommt, kommt, Señiorita! Verpaßt die Gelegenheit nicht! Solch ein Glück blüht Euch nie wieder! Ihr könnt steinreich werden, wenn Ihr mir folgt!«

»Wohin?«

»Auf die Altäre Mexicos, Señiorita, oder in die Tiefe des Schilfsees! Ihr habt keine andere Wahl! Seid klug und schließt Euch an! Der Reigen beginnt! ...«

»Was beginnt?«

»Die Flucht, die heillose Flucht ... Schon stopfen sich alle die Taschen voll Gold, so viel sie tragen können, mehr als sie tragen können! – wohl um schneller in der Seetiefe zu versinken oder um leichter den Tanz der dürren Klapperbeine mitzutanzen! Gold ist billig geworden, Señiorita! Kann jeder sich mästen damit, wer Lust hat – und hungrig sind wir alle. Verpaßt Euer Glück nicht, Señiorita!«

Der Apotheker erschien gestikulierend in der offenen Tür. Durch den Schrecken, in den ihn die beschlossene Flucht versetzt hatte, war seine Krankheit zum Ausbruch gekommen. Er war wahnsinnig.

»Verbrüderung, meine Freunde! ...« schrie er. »Synadelphie ist das Wort! Synadelphie ist die Parole dieser Nacht! Was ist der Mensch? Ein Synadelphos! Ein Doppelwesen wie eine Schere! Und warum? Er hat zwei Hände, zwei Augen, zwei Hosen, zwei Arschbacken und zwei Füße! ... Pfui, eine Mißgeburt aus zwei Tieren zusammengewachsen! Halbiert das Scheusal, meine Freunde, so findet ihr den wahren Menschen, den einbeinigen, den halbköpfigen Menschen!«

»O Tetzcatlipoca, Gott der Götter, König der Götter, warum strafst du mich!« stöhnte Montezuma. »Heiße die Handmühlen schweigen! Immerzu rufen sie: Gold mußten wir mahlen, um dich zu bereichern, Mensch! ... Es ist nicht wahr – andere bereicherten sie! Ich werde sterben, und die Handmühlen werden mahlen, Gold mahlen, solange der Jaguar die Sonne nicht frißt! O Gott der Götter, ich bin arm wie die Handmühlen! ...«

Papan aber rief:

»Wo kannst du hinfliehen, Tochter Mexicos? Wer kann dir beistehen, wer kann dich in eine Truhe legen und verschließen? Seht, sie kommen, die Fratzen der Finsternis kommen ...«

Avila, Olid und der Henker Osorio traten ein. Der Henker hielt einen dicken Hanfstrick in der Hand. Alle außer dem Kranken müßten das Gemach verlassen, verkündete Avila barsch.

Ines Florin ahnte, sprang entsetzt auf, wollte reden, bitten. Doch lautlos bewegten sich ihre Lippen, wurden blau. Ohnmächtig fiel sie hin und wurde von Osorio vor die Tür getragen.

Der Narr Madrid zerrte Papan hinaus.

»Komm, komm, Kassandra!« sagte er. »Wespen sammeln sich um Zucker und Eumeniden um Goldpaläste! ...«

»Verbrüdert euch, meine Freunde!« flüsterte der Apotheker, sich entfernend, Olid ins Ohr. »Halbiert den Menschen – so werdet ihr den wahren Menschen finden!«

Orteguilla kam hereingestürzt und schrie dem König zu, man wolle ihn ermorden.

Auch der Knabe wurde hinausgeschafft.

Nun waren die drei Männer allein mit dem König.

Verklärt, mit wundersam jenseitigem Lächeln sah Montezuma sie an. Er war sehr abgemagert und fast mädchenhaft schön.

»Es ist gut ... Es ist gut ...« sagte er. »Der Gott der Götter schickt euch zu mir: nun wird es bald Tag werden! ... O ihr tapferen Krieger, erlaubt, daß ich euch helfe, die Schlinge zu binden! Erlaubt, daß ich mir selbst den Strick um den Hals lege!«

Und Montezuma nahm dem Henker den Strick aus der Hand, wand ihn sich um seinen schmächtigen Hals und reichte Avila und Olid die Enden des Strickes hin.

»Nun wird es Tag!« wiederholte er. »Ich selbst legte mir den Strick um den Hals! ...«

Bald darauflebte der große Montezuma nicht mehr.


Inzwischen waren Trujillo, Porras, Palma und andere von Avila abgesandte Soldaten in das unterirdische Schatzhaus eingedrungen und hatten den Edlen Traurigen und den König von Coyoacan erdrosselt. Durch das Gebrüll des Edlen Traurigen, der sich bis zum letzten Augenblick verzweifelt gewehrt hatte, angelockt, waren Tapia und Luis Marin dazugekommen und hatten die Ermordung des Durch-Zauber-Verführenden und des Prinzen Ohrring-Schlange verhindert. Sie ließen die beiden Gefangenen von der Eisenkette lösen und übergaben sie verläßlichen Schutzwachen, um sie bei der Flucht mit einigen anderen königlichen Prinzen und Prinzessinnen mit hinwegzuführen.

Trujillo und der rothaarige Sänger Porras, wütend, weil sie von Tapia angefahren worden waren, rächten sich an den Toten. Sie schleppten die Leichen des Edlen Traurigen und des Königs von Coyoacan auf das flache Dach des Palastes, verstümmelten sie und warfen sie hinab auf die Gasse, wo ihr grauenvoller Anblick – wenn auch erst am nächsten Morgen – die Mexikaner in Trauer und Wut versetzen sollte.


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