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Gewölk verhüllte die Sterne, raubte der Erde ihr Licht. Ein feiner Regen fiel. Von Zeit zu Zeit pfiffen und ächzten Windstöße an Straßenecken und zerrissen die summende Nachtstille. Leise, fast geräuschlos schlichen dunkle Gestalten aus einem der nördlichen Palasttore. Gespenstisch glitt der lange Truppenzug durch die schlafende Stadt, dem Dammweg von Tlacopan zu, verhohlen stumm, einem Geister-Leichengeleite ähnlich.

An der Spitze der Vorhut waren Freiwillige, vierzig Mann, alle dem Tode verschworen. Durch Eid hatten sie sich gegenseitig verpflichtet, die von ihnen mitgeführte fliegende Brücke wie ein Heiligtum zu schirmen, sie über den ersten Dammdurchstich zu spannen und – sobald das Heer darüber hinweggeschritten – ebenso die beiden anderen Dammdurchstiche mit ihr zu überdecken. Nicht Zeit hatte Christobal de Jaén gehabt, mehrere Brücken zu zimmern, von der einen hing das Wohl und Wehe des Christenheeres ab.

Bis ins ärmliche Stadtviertel Cuepopan waren sie unbemerkt vorgedrungen. Dort aber wurden sie von einer Wasserträgerin entdeckt, die am Rand eines Kanals wasserschöpfend kniete. Sie erhob ein Geschrei, das wild durch die tote Stadt schrillte. Kreischend rief sie: »Erwacht, o Mexikaner, erwacht! Eure Feinde entfliehen!« Und sie lief zum nächsten Tempel, meldete es den Priestern.

Ein Muschelhorn erscholl. Bald darauf ein zweites, ein drittes. Von allen Menschenwürgeplätzen der siebzig Teocalli Tenuchtitlans herab erschollen die Muschelhörner. Und plötzlich erzitterte die Luft von grabesdumpfen Schlägen: Huitzilopochtlis große Kriegstrommel auf der Schlangenberg-Pyramide weckte mit ihrem furchtbaren Donnerschlag die schlummernde Wasserstadt.

Doch nicht sofort zeigten sich bewaffnete Mexikaner. Der erste Dammdurchstich konnte erreicht werden, Christobal de Jaén schlug die Brücke. In wilder Hast stürmten Sandoval, Ordas und Lugo mit den zweihundert Mann der Vorhut und zwanzig Reitern voran bis zum zweiten Dammdurchstich. Cortes, Olid und Avila folgten mit der Heeresmitte, und auch Alvarado und Velazquez de Leon vermochten die Nachhut noch ungefährdet über die Brücke zu bringen.

Soweit war alles geglückt. Und auch alles andere wäre geglückt, hätte die Holzbrücke sich nach dem zweiten Dammdurchstich bringen lassen. Als jedoch Christobal de Jaén daranging, sie zu entfernen, stellte es sich heraus, daß das nicht möglich war. Die Last der Truppen, der Pferde und Geschütze, vor allem der Singenden Nachtigall, hatte die Brücke so fest eingekeilt, daß sie allen Anstrengungen zum Trotz sich nicht heben ließ.

Und schon begann der Kampf. Vom ewigen Feuer der großen Pyramide und vom Lichtschein des Leuchtturmes Unserer-Großmutter-Holz war die Lagune – durch den Schleier des Sprühregens hindurch – mattrötlich erhellt. Und plötzlich sah sich das zwischen der fliegenden Brücke und dem zweiten Durchstich eingezwängte Christenheer von allen Seiten umringt. In tausend und aber tausend Einbäumen ruderten mexikanische Schildträger heran, sprangen ins Wasser, schwammen an den Deich, erkletterten die Böschung, hieben mit ihren Sägeschwertern auf die Kastilier ein, während zahllose andere, durch den Andrang der zu vielen Boote heranzukommen gehindert, vom Schilfsee aus – aufrecht in den Pirogen stehend – ihre Pfeilbündel verschossen, mit Schleudern Steine, mit Wurfbrettern Speere warfen.

Und zugleich erfolgte ein Angriff von der Landseite her: ein vieltausendköpfiger Haufe stürmte auf dem Damm der Holzbrücke zu, in der Absicht, der Nachhut in den Rücken zu fallen und die Brücke zu zerstören. Diese Gefahr erkennend, ließen Alvarado und Velazquez de Leon den Nachtrab kehrtmachen, warfen sich den Anstürmenden entgegen, wehrten sie von der Brücke und drängten sie zurück bis in die Stadt.

An allen Teilen des Dammes zugleich tobte der Kampf. Nach dem Erfolg der Nachhut entbrannte die Schlacht besonders heftig am zweiten Durchstich, wo die Mexikaner mit irrer Wut es verwehren wollten, daß Sandoval den anderen Damm erreichte. Doch der zwischen beiden Dämmen flutende Wasserarm war zwanzig Fuß breit und sehr tief, – ohne Brücke schien ein Hinübersetzen unausführbar.

Cortes sah sein Heer zusammenschmelzen. Schon sanken die Besten verwundet oder tot nieder, wurden ins Wasser hinabgezerrt und ertränkt, wurden als Kriegssklaven in Kanoes geschleppt. So verzweifelt war die Lage, daß außer der Amazone Maria de Estrada auch die Feuerlilie und die anderen Lagerdirnen Panzer umgelegt hatten, Schwerter schwangen, wild und beherzt wie Männer fochten. Es galt das nackte Leben zu retten.

Und Cortes sah ein, daß, wenn die Stauung vorn nicht beseitigt würde, die Vernichtung bevorstand. Da entschloß er sich, die Artillerie und den Goldschatz zu opfern.

»Alle Geschütze nach vorn! Den Wagen mit dem Goldschatz nach vorn!« brüllte er.

Der Befehl wurde ausgeführt. Übermenschlich schwer war es, sich Bahn zu schaffen durch die eingerammte Menschenmenge während des Kampfgewühls. Doch es gelang. Die Räder wälzten sich über Tote, die Vorhut wurde erreicht. Und Cortes ließ den Wagen und die Kanonen ins Wasser werfen, um den Durchstich aufzufüllen.

Das Gold Montezumas versank in die Tiefe. Die Singende Nachtigall und zwanzig andere Kartaunen und Falkonette türmten sich übereinander auf, ihre Rohre starrten aus dem Wasser empor. Und doch nur zur Hälfte aufgefüllt war der Durchstich.

Aber ein Fundament war geschaffen für einen Bau aus Menschengliedern. Die Kastilier warfen Indianerleichen auf die Geschützrohre.

Höher und höher wurde der Leichenhaufen, und eben darum wurden die Anstürme der Azteken noch erbitterter und noch lauter ihr Kampfgeschrei.Die weiter zurückstehenden Kastilier und Tlascalteken schlossen, die Schreie vernehmend, die Ausfüllung des Durchstichs sei geglückt, und schon begannen sie vorzudrängen. Mit den Leibern ihrer eigenen Kampfgenossen, die sie vordrängend vom Damm stießen, vollendeten sie den Bau der Leichenbrücke. Hinweg über den grauenvollen Knäuel sterbender Christen und Mexikaner schritt das Heer, stampften die Pferde.

Und bald standen Cortes, Sandoval, Ordas und Lugo mit den Überresten der Vorhut vor dem dritten Durchstich.

Dieser befand sich nicht mehr weit vom Ufer, und das Wasser war dort nicht mehr so tief. Eine Furt wurde gefunden. Viele – besonders von den Leuten des Narvaez – büßten zwar ihre Habgier, ertranken, in die Fluten gerissen vom Gold, mit dem sie ihre Taschen und Ärmel vollgestopft hatten. Doch die Mehrzahl kam hinüber. Cortes jubelte auf, das Heer war gerettet! Sandoval, Ordas und Lugo umarmten sich und beglückwünschten ihn.

Inzwischen hatten die Mexikaner gegen die Nachhut einen Erfolg errungen. Sie hatten den Prinzen Ohrring-Schlange und den Durch-Zauber-Verführenden befreit und die fliegende Brücke zerstört. Alvarado und Velazquez de Leon, welche mit hundert Mann noch immer die von der Stadt her andrängenden Indianer in Schach hielten, sahen sich plötzlich abgeschnitten.

Cortes, der eben noch die Rettung bejubelt hatte, hörte den Verzweiflungsschrei der Abgeschnittenen. Er, Sandoval und Ordas ritten die Dammstraße zurück, zu helfen, falls Hilfe noch möglich war. Schon war ein Teil des Heeres am Schilfseeufer, nur noch die Mitte und die Nachhut waren in Kämpfe verwickelt. Der Morgen graute. Und an Cortes' Augen huschten, während er ritt, traurige und frohe Bilder schattenhaft vorbei. Manchen seiner Getreuen, den er für tot gehalten hatte, sah er heil dem Seeufer zuschreiten. Er sah die Sänfte Marinas unversehrt, beschützt vom treuen Arteaga. Er sah die Leiche der Königin Acatlan, der Witwe Montezumas. Er sah Botello von einem Speer durchbohrt am Wege liegen. Er sah den Narren Madrid, den Bergmann Ortiz und La Medina gefesselt in einem Indianerboot.

Und dort, wo die fliegende Brücke gewesen war und wo jetzt der Wasserabgrund gähnte, sah Cortes das Schmerzlichste. Den Tod des Freundes. Aus vielen Wunden blutend und schon ermattet, wehrte sich noch Velazquez de Leon gegen sieben Mexikaner, als Cortes herangeritten war, ohne ihm beistehen zu können. Ein Sägeschwert trennte des Jünglings Haupt vom Hals, und die Mexikaner steckten die Trophäe auf einen Speer ... Cortes bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

»Wohl ihm!« rief Alvarado herüber. »Besser so als auf dem Adlerstein enden!«

Sandoval und Ordas fragten Cortes, ob er keinen Rat wisse. Er schüttelte stumm den Kopf.

Eine Weile schauten sie dem hoffnungslosen Gefecht zu.

»Wir wollen in die Stadt zurück! ... Dort können wir uns verschanzen! ... Wir werden uns halten, bis ihr uns befreien kommt!« schrien einzelne Kastilier herüber.

»Die armen Leute!« murmelte Cortes.

Da geschah etwas Überraschendes.

»Ich will mich nicht von den Hunden schlachten lassen!« rief Alvarado. Und dicht an den Durchstich herantretend, pflanzte er seine lange Lanze in einen von der Brücke übriggebliebenen, aus dem Wasser ragenden Pfosten. Und was kein Mensch für möglich gehalten hätte, tat er. Gestützt auf die Lanze schwang er sich über den zwanzig Fuß breiten Kanal und gelangte hinüber. Selbst die Feinde brachen in Rufe der Bewunderung aus.

Jener Dammdurchstich wurde noch hundert Jahre später »der Sprung des Alvarado« genannt.

Auf die Nacht der Schrecken war ein strahlender Tag gefolgt. Aus dem Eis der fernen Kordilleren schwebte lodernd die Feuerkugel der Sonne aufwärts, vom Morgendunst rubinrot gefärbt und umgeben von wolkenfreiem, rotgoldenem Äther.

Beim kleinen Tepanekendorf Popotla, unweit vom Seeufer, saß Cortes unter einer Zeder und weinte.

Viertausend Tlascalteken, fünfhundert Mann der kastilischen Fußtruppen,sechsundvierzig Reiter waren tot oder gefangen in dieser Nacht der Schrecken. Und hundert unglückliche weiße Männer, abgesprengt vom Heer, waren in die Stadt zurückgekehrt. Jetzt sah man sie auf der obersten Plattform des Yopico-Tempels. Bestrahlt vom goldenen Sonnenlicht, greifbar deutlich in der dünnen Luft Anahuacs war jeder einzelne von ihnen zu erkennen. Sie setzten den Verzweiflungskampf fort, wehrten Angriffe ab, hofften noch immer sich halten zu können – wie lange noch ...?

Und auf den Schlangenberg wurde das erste Menschenopfer hinaufgeführt. Es war der schöne Namenlose.

Nicht an den Dämmen war er gefangen worden. Alvarado hatte ihn gebeten, als die Nachhut den alten Tecpan verließ, er möge nachschauen, ob nicht ein Kranker oder ein Schlafender zurückgeblieben sei. Mit einer Kienfackel in seiner – einen – Hand schritt der Namenlose durch die Palastsäle. Und sie bevölkerten sich vor seinem inneren Blick wundersam mit glanzvollen Schattengestalten, mit den schönen, schlanken, grausamen »Türkisgebürtigen«, die einstmals diese Säle mit Quetzalfedergestrahl gefüllt hatten, als noch König Wassergesicht, König Kreideweiß und König Molch in furchtbarer Herrlichkeit herrschten ... Und er kam in ein Gemach, das von einem zinnernen Öllämpchen erleuchtet war. Ein Tuch deckte das Gesicht der Königsleiche. Die wahnsinnige Prinzessin sang Totenlitaneien und flocht Stricke zum Umschnüren eines Mumienbündels. Und da dem Toten ein rotgelber Hund mitgegeben werden mußte (als Begleiter über den neunfachen Strom der Unterwelt), im Palast aber kein Hund war, hatte der alte Musikmeister Löffelreiher-Schlange sich rotgelb angemalt und sich – mit einem Pfeil seinen Hals durchbohrend – an Montezumas Bett getötet ... Der Namenlose eilte hinaus, suchte weiter. Er fand einen schlafenden fieberkranken Arkebusier, weckte ihn, brachte ihn auf die Straße. Doch das Heer war weit voraus, und schon erschollen die ersten Muschelhörner, erdröhnten die Schläge der großen Kriegstrommel Huitzilopochtlis. Die beiden Nachzügler wurden umzingelt, der Arkebusier fand fechtend den Tod; der Namenlose, mit einem Fangseil gewürgt, fiel den Feinden lebend in die Hände.

Früh am Morgen hatten sie ihn entkleidet, seinen Körper mit weißen Daunen beklebt. Und auf dem Weg zum Fuß der Pyramide war Freudengeschrei an sein Ohr geklungen: das Volk jubelte dem Überwältiger, Mexicos eben erwähltem König, und seiner Gemahlin Maisblüte, Mexicos neuer Königin, zu.

Nun erklomm der Namenlose die hohen Stufen. Und die Herzen seiner Kameraden krampften sich zusammen.

Wie wundervoll aufrecht er sich hielt! Er wußte wohl, daß ganz Tenuchtitlan zu ihm emporsah, daß das Christenheer zu ihm aufblickte – das gab ihm die Kraft, so leichten Schrittes aufwärts zu steigen, als ginge es zu einem Fest ...

Da schämte sich Cortes seiner Tränen. Was war sein Leid gegen dieses Mannes Leid, der es doch mannhaft trug!

Und Cortes erhob sich und blickte in das Morgenglühen.

Botello und die Sterne hatten nicht gelogen. Trotz allem – das Heer war gerettet. Und auch der Tod Marinas und ihres Kindes, der ihm bald nach dem Sprung Alvarados gemeldet worden war, hatte sich als falsches Gerücht erwiesen: heil, unverletzt hatte er sie an Land wiedergefunden.

Ja – trotz allem – er hatte Ursache, den Gestirnen zu danken.

Ein Mann ging an der Zeder vorbei. Cortes rief ihn freudig an:

»Señor Martin Gutierrez! Ihr lebt?! ...«

»Freilich, Señor Capitan. Gott hielt seine Hand über mich!«

»Lob sei dem Herrn!« sagte Cortes, »Mit Euch kann ich die Scharte auswetzen! Die Wasserstadt ist nur mit Brigantinen zu bezwingen ...!«

Der Schiffbaumeister sah ihn verwundert, ungläubig an.

»Lächelt nicht!« sagte Cortes ernst. »Glaubt an mich, wie ich an mich glaube! Nach einem Jahr werden wir die Brigantinen bauen!«


Genossenes Glück ist ein Berggipfel, schön und beängstigend, erlittenes Unglück ist eine Talschlucht, lichtlos, doch ohne Schrecken mehr. Von Berggipfeln führen alle Wege abwärts, aus tiefer Schlucht aber können Wege emporführen. Daher verarmt das Glück die Hoffnung, das Unglück aber bereichert sie. Und arm ist, wer ohne Hoffnung ist.

Den Goldschatz und die Artillerie hatte Cortes geopfert, und er besaß nicht eine einzige Muskete mehr. Doch nie war er reicher an Hoffnung. Mit seinen klaren Falkenaugen blickte er über die siebzig stolzen Teocalli der Königin aller Städte hin und sah den Orkan heranbrausen, der sie niederriß, ihre Trümmer im Schilfsee versenkte. Und in dieser Stunde tiefster Not fühlte er, daß der Orkan er selbst sein werde, wenn er auch jetzt als gehetzter Flüchtling ostwärts ziehen mußte durch ein flammenloderndes Land – der Morgensonne zu, neuen Schrecken und neuen Siegen entgegen.


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