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Der Aufruhr in Tezcuco war erst vor wenigen Tagen dank dem Eingreifen der Herrin von Tula beschwichtigt worden. Seit der Belagerung der Stadt durch die Schwarze Blume und dem Friedensschluß, welcher das Land Acolhuacan in zwei Hälften zerriß, hatte es im Volk immerzu gegärt. Die Mexico freundlich gesinnte Partei der adligen Landbesitzer war mißvergnügt, weil der Schwarzen Blume das Bergland zugesprochen war, wo sich die Mehrzahl der Feldgüter befand, die Partei der städtischen Plebejer wiederum war mit dem Edlen Traurigen unzufrieden, der, gänzlich zum Mexikaner geworden, in Tenuchtitlan wohnte, ein Schwiegersohn, Trabant und Höfling des Weltherrn, fast nie nach Tezcuco kam und sein Volk der Willkürherrschaft des hochmütigen Adels preisgab. Als vor kaum drei Wochen Prinz Ohrring-Schlange, der damals noch in seinem Versteck beim alten Obsidian-Arbeiter lebte, sich in huaxtekischer Verkleidung nach Tezcuco gewagt hatte, war er, in den Straßen unerkannt umherstreifend, Zeuge gewesen, wie die vierzehn Adelsfamilien, in ihren Steinpalästen von einer brüllenden Menge belagert, sich mit Schild und Speer verteidigen mußten, und auf Schritt und Tritt hatte er in der wilderregten Stadt Todesdrohungen vernommen gegen die besoldeten Verräter, den Edlen Traurigen und sämtliche Freunde des Zornigen Herrn. Wenige Tage hernach, kurz vor der Verbannung Guatemocs, hatte der Edle Traurige Tenuchtitlan verlassen, den unhaltbaren Zuständen in seiner Königsstadt ein Ende zu machen. Es war ihm gelungen, Ruhe zu stiften. Nur kehrte er allzubald nach Mexico zurück, abberufen durch die Ratlosigkeit Montezumas infolge der Vorgänge in Cholula. Kaum war er abgereist, begann der Hader von neuem, und es kam zu noch heftigeren Ausbrüchen der Volksleidenschaft als vordem.

Der Adel ließ die sechs hauptsächlichsten Verhetzer des Volkes aufgreifen und den Göttern schlachten. Dies wurde das Zeichen zur Erhebung der gesamten Bürgerschaft. Doch an Waffen fehlte es dem Volke – das Speerhaus war im Besitz der Adelskaste. Da stürmte das erbitterte Volk die Tempel und schändete die Schädelstätten. Es gab in Tezcuco Schädelpyramiden, die den Steinpyramiden an Höhe gleichkamen, es gab Tempeldächer, die mit Schädeln bedeckt waren. Myriaden von Schädeln wurden in Körbe gesammelt und an die Menge verteilt. Und während die adligen Krieger mit Pfeilen und Speeren in die Ansammlungen brüllender Aufständischer hineinschossen, bewarfen diese die Angreifer mit Schädeln, mit Armknochen und Beinknochen, erschlugen ihrer viele und trieben die anderen nach längerem Kampfe in die Flucht. Myriaden von Schädeln und Knochen lagen zersplittert auf allen Straßen Tezcucos, so daß man nicht gehen konnte, ohne auf sie zu treten.

Und nach der Schädelschlacht, nach dem Sieg über den Adel, beschloß das Volk die Absetzung sowohl des Edlen Traurigen wie der Schwarzen Blume: statt ihrer solle Prinz Ohrring-Schlange die Stirnbinde aus Türkismosaik tragen, und sei er auch verschollen, so sei doch von seinem Tode nichts bekannt, und wenn es wahr sei, was Reisende behaupteten, daß er in der Nähe des Rauchenden Berges erblickt worden sei, so solle man ihm Boten senden, ihm den Thron anzubieten.

Kaum aber war dieser Beschluß gefaßt, erscholl ein Schreien vom See her, und sogleich schwirrte das Gerücht umher: der alte König, der Herr des Fastens, sei von den Toten zu den Lebenden zurückgekehrt. Und alles Volk strömte zum Seeufer hin.

Auf den lasurblauen Wellen, auf welchen weiße, vermorschte, staubverpichte Schädel schwammen, schaukelte ein Einbaum, gerudert von einem blinden Knaben. Und aufrecht im Boot stand ein Greis. Und viele sagten: er sei es, der so rätselhaft entschwundene Herrscher sei es! Und andere meinten, der Mann im Boot sähe Zacatzin ähnlich, dem Zauberer von Tenuchtitlan, dem Feind Montezumas, auf dessen Ergreifung der Weltherr einen hohen Preis gesetzt hatte. Andere aber, die ihn kannten, riefen aus: niemand anders sei es als der Alte Wickelbär, der Freund und Sterndeuter des sterneliebenden Königs!

Und der Alte Wickelbär gab sich dem Volke zu erkennen. Und nachdem er vernommen hatte, die Stadt beabsichtige, dem Prinzen Ohrring-Schlange den Thron anzubieten, riet er davon ab, da der Prinz gewillt sei, allen Ehrungen und Würden aus dem Wege zu gehen. Erst vor kurzem habe er den Prinzen gesprochen und ihm den letzten Willen des Herrn des Fastens kundgetan, den unter allen Erdgeborenen keiner außer ihm vernommen habe, und den er nun vor dem Volke Tezcucos nicht länger geheimhalten wolle. Kurz vor dem Tode gefragt, wen er zu seinem Nachfolger bestimme, habe der Herr des Fastens geantwortet: Nicht den Sohn der Smaragd-Lingam, aber auch nicht Ohrring-Schlange – denn in der feurigen Schrift der Sterne stehe verzeichnet, daß zwei Brüder des Prinzen Ohrring-Schlange vor ihm die blaue Stirnbinde tragen würden, weder könne er seinem besten Sohn, der Schwarzen Blume, die Kränkung antun, daß er ihn übergehe, noch dürfe er des Reiches Wohlfahrt so hintansetzen, daß er dem Verderber Anahuacs zum Thron verhelfe, stärker indes als sein Wille sei der Wille der Sterne, und die hätten verkündet, daß in der Stadt Tezcuco – als vierter seiner Nachfolger – die Schwarze Blume herrschen werde, nachdem zuvor drei seiner Brüder auf dem Silberthron gesessen und eines gewaltsamen Todes gestorben seien ...

Die Volksmenge am Gestade unterbrach den Greis. Warum er von vier Söhnen rede – rief man ihm zu –, da doch bekannt sei, daß der König bloß drei Söhne hinterlassen habe?

Doch das Boot hatte sich vom Ufer entfernt. Ob der Alte Wickelbär eine Antwort gab und welche, war nicht mehr vernehmbar. Ein bleicher Nebeldunst wurde von einem Stoßwind über die Seefläche getrieben – darin entschwand bald das Boot den Blicken, und nur noch die schwimmenden Schädel schaukelten blank auf den lasurblauen Wellen.


Die Herrin von Tula, die damals noch mit Perlmuschel in Tenuchtitlan weilte, wurde eine Woche darauf von Abgesandten der Stadt Tezcuco aufgesucht.

Als die Abgesandten an der vom vorspringenden Kupferdach beschatteten Landungstreppe aus dem Kanoe stiegen und in den zierlichen, einst vom Herrn des Fastens aus rotem, blasigem Lavastein erbauten Tecpan getreten waren, trafen sie die Bewohner des Palastes in großer Erregung vor. Ratloser, freudiger Schrecken strahlte auf den Gesichtern der Dienerschaft. Eine seltsame Tat, unerforschlich in ihren Gründen, hatte die Herrin von Tula eben ausgeführt.

Am frühen Morgen dieses Tages war jener Entenjäger, den im Hause der Federmosaik-Arbeiterinnen der Rote Jaguar öfters an Feierabenden angetroffen hatte, in den Tecpan gekommen. Einen Botenbrief trug er in der Hand, bestimmt für die Herrin von Tula. Und nachdem sie das Schreiben entziffert hatte, ließ sie ihn in ihr königliches Gemach rufen, und lange Zeit hielt sie heimlich Zwiesprache mit diesem Ärmsten der Armen. Was der Inhalt der schriftlichen und mündlichen Botschaft war und wer den Entenjäger geschickt hatte, erfuhr außer Prinzessin Perlmuschel niemand. Doch schien die Königin-Witwe befriedigt, denn sie entließ den Mann mit einem reichen Geschenk.

Und sie gab Anordnungen für ein Familienfest, ohne zu sagen, wem zu Ehren es gefeiert werden sollte. Mit Maisstauden, Tollin-Lilien und Malven wurde der Tecpan ausgeschmückt. Und in einen der Tecpanhöfe, wo das heilige Herdfeuer brannte, ließ die Herrin von Tula einen Jaguarfellsessel tragen und vor den drei heiligen Herdsteinen hinstellen. Alle Hausgenossen – Anverwandte, Diener und Sklaven – hatte sie dort zusammengerufen. Und nachdem sie Wachteln und Papageien geköpft und dem Türkisherrn, dem Gelbgesichtigen, ölige Chian-Körner in das Herdfeuer gestreut hatte, sprach sie ein Gebet, erflehte den Beistand der Himmelsgötter für die Tat, die sie vorhatte.

Hierauf nahm sie auf dem königlichen fellbedeckten Sessel Platz und rief Menschen-Puma heran, das Pflegekind ihrer Tochter. Und während sie mit der Hand über das Kopfhaar des Knaben strich, brachte sie vor, weshalb sie die Hausgenossen um sich versammelt habe. Weil sie jedoch den wahren Grund nicht nennen durfte, nannte sie einen erfundenen. Der Sohn Montezumas, der Vom-Himmel-Gestiegene, stellte dem Knaben nach, sagte sie, schon zweimal habe er ihn in seiner Gewalt gehabt, und nicht ruhen werde er, bis er ihn der Liebesgöttin auf der Schilfseeinsel geopfert habe. Jüngst aber, beim Besenfest, habe er zur Prinzessin Perlmuschel gesprochen: »Wäre der Knabe dein Bruder, das schwöre ich dir bei der Sonne und den Wassern des Sees, ich würde ihn nie töten!«

Und zur schreckhaften und doch freudigen Überraschung aller sie umringenden Hausgenossen, die sie als Zeugen nächst den Himmelsgöttern anrief, befahl sie, Menschen-Puma auf ihren Schoß zu setzen.

Durch diese symbolische Handlung nahm sie ihn an Kindes Statt an. Es war die übliche Form der Adoption in Anahuac.

Als Königssohn ließ sie ihn kleiden, schmücken und kämmen.

Ein Prinz von Tezcuco, ein Sohn der Herrin von Tula, ein Bruder der Prinzessin Perlmuschel war nun der kleine Menschen-Puma, und er wurde gehätschelt von seinen neuen Verwandten, ehrfurchtsvoll beglückwünscht von der Dienerschaft. Da trafen die Abgesandten des Volkes von Tezcuco ein. Sie abzuweisen, hatte die Herrin von Tula keinen Grund, da der Unwille des aufständischen Volkes sich wohl gegen Cacama, jedoch nicht gegen das Königshaus als solches richtete und die Schädelschlacht nur den Söldlingen Montezumas geliefert worden war.

Kopal verbrennend, huldigten die Volksbeauftragten der Königin-Witwe. Und sie forderten sie auf, heimzukehren in ihre Stadt, in ihre Berge und Täler, in ihren großen Palast. Tezcuco habe in Erfahrung gebracht, sagten sie, daß der Herr des Fastens außer dem Edlen Traurigen, Ohrring-Schlange und der Schwarzen Blume auch noch einen vierten unehelichen Sohn hinterlassen habe, Tecocoltzin, die Eule – den Sohn einer Blumenbinderin, der seinem Alter nach wohl noch mit der Kindergesichtsbemalung umhergehe. An Stelle des abgesetzten Edlen Traurigen habe das Volk die Eule zum König von Tezcuco erwählt und wünsche, daß während seiner Minderjährigkeit die Herrin von Tula für den Knaben herrsche.

Die Herrin von Tula erwiderte: die Eule habe nach dem Tode der Blumenbinderin in ihrem Tecpan gelebt, dort sei das Kind vor einem Jahr gleichfalls verschieden. Nun habe sie aber ein anderes Kind in gleichem Alter an Sohnes Statt angenommen –: den kleinen Menschen-Puma, welcher jetzt ein Prinz des königlichen Hauses sei.

Da warfen sich die Abgesandten zu Boden vor dem scheu lächelnden Knaben, küßten ihm die Füße und die Hände, begrüßten ihn als den König von Tezcuco, als den Großen Chichimecatl. Und einer von ihnen gab den Rat, den Tod der Eule geheimzuhalten und Menschen-Puma künftig die Eule zu nennen.


Ahnungslos beherbergte die Herrin von Tula eine Kundschafterin Montezumas, eine alte Wärterin ihrer Tochter: – was in ihrem Tecpan vorging, blieb dem Huei-Tecpan selten verborgen. Noch weilten die Abgesandten Tezcucos bei ihr, als ihr der Haushofmeister des Zornigen Herrn, der Vorsteher des Hauses der Teppiche, gemeldet wurde. In Begleitung bewaffneter Schildträger trat er in den Schloßhof.

Ihr allein – so lautete des Zornigen Herrn Gebot – sei die Abreise gestattet, vorausgesetzt, daß sie sich verpflichte, das Volk Tezcucos zu beruhigen. Dagegen müsse Prinzessin Perlmuschel in Tenuchtitlan bleiben, denn man gedenke sie zu verheiraten. Und falls Menschen-Puma der Sohn der Herrin von Tula sei, so gehöre er in die Erziehungsanstalt der adligen Knaben. Nimmermehr dürften des Edlen Traurigen Rechte geschmälert werden.

Die finstere Wut der Königin-Witwe, der Tränenausbruch ihrer Tochter, der Jammer der Hausgenossen vermochten es nicht zu verhindern, daß Menschen-Puma von den Schildträgern ergriffen und vom Vorsteher des Hauses der Teppiche weggeführt wurde.

Der Pflicht sich entziehen wollte die Herrin von Tula nicht: ihr Land heischte ihre Anwesenheit, als Friedensbringerin wurde sie jenseits der Lagune erwartet. So bestieg sie denn mit den Volksbeauftragten das Kanoe – wie schwer es ihr auch fiel, die verzweifelte Prinzessin im feindlichen Tenuchtitlan allein zurückzulassen.


Gegen Abend erhielt Perlmuschel den Besuch des jungen Königs von Tlacopan. Ihr seine Dienste anzubieten, kam der Durch-Zauber-Verführende, ihr behilflich zu sein, falls sie fliehen wollte.

Doch Perlmuschel dachte nicht an Flucht. Leidenschaftlich erklärte sie, nicht eher werde sie Mexico verlassen, als bis ihr Menschen-Puma wiedergegeben sei.

Aus ihren Worten ersah der junge König, daß sie die eigene Gefahr noch nicht kannte. Da verriet er ihr, daß Montezuma sie dem Tempel-Feger versprochen habe.

Die Prinzessin weinte nicht und raste nicht, sie lächelte nur irr blickend vor sich hin. Ein furchtbarer Entschluß reifte in ihr. Das Lächeln verzerrte sich in ein trotziges Lachen: dieser Maske bedurfte sie, um sich dem Freund zu verbergen. Schließlich sagte sie höhnisch:

»In den Bergen steigen alle – die einen hinunter, die anderen hinauf!«

Der junge König durchschaute nicht ihren Gleichmut.

Von neuem drängte er, sie solle der Gefahr entgehen, sonst könne es bald zu spät sein. Und er suchte ihr zu beweisen, daß ihr Entweichen vom Hofe gern gesehen werde, von Cacama, vielleicht sogar von Montezuma begünstigt werden würde. Trotz der Enthüllungen Coxtemexis unfähig, sich vom Tempel-Feger loszusagen, werde der Zornige Herr doch gewiß froh sein, das übereilte Versprechen nicht halten zu können.

»Nein«, sagte Perlmuschel, »du überredest mich nicht. Ich weiß ein Mittel, mir das Herz des Zornigen Herrn zu gewinnen, so daß er mir keine Bitte abschlägt. Morgen früh werde ich ihm mein kostbarstes Kleinod bringen, um das er mich viel beneidet hat, für dessen Besitz er mir oft schon den Tribut reicher Provinzen hat bieten lassen.«

»Was willst du ihm bringen?« fragte der Durch-Zauber-Verführende.

»Meinen Edelsteinfisch!« entgegnete die Prinzessin.


Nachdem der König von Tlacopan sich entfernt hatte, begab sich die Prinzessin in den Garten des Tecpans, wo in einem marmornen, viereckigen Wasserbecken der Edelsteinfisch umherschwamm.

Aus Yuquane stammte der kaum eine Spanne lange, karpfenähnliche Fisch. Ein Goldarbeiter hatte dem Tiere, als es noch jung war, etliche Schuppen in gewissen Abständen entfernt und an den entschuppten Stellen blaue und weiße Saphire sowie Smaragde und Opale ins Fleisch eingelassen. Die Wunden waren geheilt, die Edelsteine ins Fleisch eingewachsen. Schwimmend glitzerte der Fisch, ein lebendes Geschmeide.

Jeden Morgen und jeden Abend pflegte die Prinzessin an das Marmorbecken zu treten, den Edelsteinfisch zu füttern.

Doch an diesem Abend fing sie ihn mit einem Netz und tötete ihn, indem sie ihm den Kopf mit einer Nadel durchstach. Dann schnitt sie ihn auf und verbarg ein steinernes Messer in seinem Inneren. Sorgfältig nähte sie die Schnittflächen wieder zusammen.

Und ein Juwelenkästchen aus Bergkristall füllte sie mit Wasser, und an Baumwollfäden befestigte sie den Fisch, so daß er im Wasser hing und zu schwimmen schien.

Am nächsten Morgen trug sie ihn in den Huei-Tecpan. Ihre Bitte, dem König der Welt die Hände und die Füße küssen zu dürfen, wurde ihr gewährt, war es doch sofort im Palast bekannt geworden, welch eine Gabe sie brachte. Und während Montezuma herablassend mit ihr sprach und sich das kostbare Geschenk zeigen ließ, griff sie blitzschnell ins Wasser, und den Edelsteinfisch in der Hand haltend, zielte sie nach dem Herzen Montezumas. Ein hinzuspringender Höfling fing ihren Arm auf und rettete den König vor dem Dolchstoß. Sie wurde gefangen abgeführt, um Tzinacan, dem Fledermausgott, geopfert zu werden.

Doch nur bis um Mitternacht war sie eine Opfersklavin. Ihr Bruder Cacama und der König von Tlacopan erzwangen sich Eintritt in ihren streng bewachten Kerker. Heimlich geleiteten sie sie durch nachtdunkle Gassen an einen Kanal, wo ein Boot sie erwartete, und ruderten sie über die Lagune nach Tezcuco.


Wie das außerirdische Wasserparadies, das Land des Gewittergottes Tlaloc, die Totenwelt der Ertrunkenen, der Blitzzerschmetterten und der geschlachteten Kinder, so wurde auch jene Gebirgsgegend, durch welche das Christenheer auf jähem Pfade westwärts klomm, als Tlalocan, als Wasserparadies bezeichnet. Die Mutter der Hexen, die Wassergöttin mit dem blauen Hüfttuch, trieb dort umherwirbelnd mit der »Bergblume« genannten Hexe ihr Unwesen – die Wassergöttin, der Tlaloc sich vermählt hatte, nachdem ihm seine erste jugendliche Gemahlin, Xochiquetzal, die Göttin der Liebe und der Blumen, durch den unheimlichen Tezcatlipoca geraubt worden war. Dort auf der Höhe zwischen dem Rauchenden Berge und der Weißen Frau stand ein Steinbild aus hellgrauem Bimsstein, ein riesenhafter Tlaloc, und blickte ostwärts auf sein Reich, das Reich der Wildbäche, der Sturzbäche, der Gewitterregen, des Schnees, des Hagels und des gleitenden Nebels, wo die geringeren Regengötter auf seinen Wink Unwetter hervorriefen.

Diego de Ordas, beim gigantischen Bergidol angelangt, ließ seine Grauschimmelstute verschnaufen. Alonso de Avila, Gonzalo de Sandoval, Francisco de Lugo und die Armbrustschützen der Vorhut sammelten sich um ihn, starrten das Götzenbild an, dem der abgebrochene linke Arm mit drei großen goldenen Klammern befestigt war. Weißlich verwittert und verwaschen, zerbröckelte die poröse Lava des Idols, kaum noch erkennbar war der von der Unterlippe herabhängende Schilf blätterbart und die brillenähnliche Augenumzierung. Man konnte zweifeln, ob das Bild ein menschenähnliches Wesen oder ein Tier, etwa einen zottigen auf einer viereckigen Steinplatte dasitzenden Bären darstellte. An den Hinterkopf gelehnt war eine Leiter, und die der Vorhut zugeteilten tlascaltekischen Führer stiegen sogleich empor und pflanzten in eine auf dem Scheitel befindliche Steinschale (auf deren Boden schwarz wie Pech schmelzender Ulli-Kautschuk zerlassen war) Tomaten, Pfefferschoten und Arumwurzeln, dem Herrn von Tlalocan als Speiseopfer.

Aus toltekischer Zeit stammte dies Götzenbild. Die chichimekischen Besiedler Anahuacs hatten es hier auf der nebelumflossenen Berghöhe angetroffen, und schon damals wurden Schößlinge und Samen von Nutzpflanzen in den geschmolzenen Gummi eingesenkt. Als nach einem Siege über den Freistaat Huexotzinco das Berggebiet an Tezcuco gefallen war, hatte der Herr des Fastens seinen königlichen Steinmetzen Auftrag gegeben, das verwitterte Bildwerk durch ein neues, würdigeres zu ersetzen. Den grauweißen Tlaloc entfernten die Steinmetzen und schafften einen aus schwarzem Basalt gemeißelten auf den Berg hinauf. Doch schon im gleichen Jahr wurde der neue Tlaloc durch einen Blitzstrahl des Gewittergottes zerschmettert. Da mußte der alte Götze aus dem Grund, in welchen er gestürzt worden war, wieder hervorgeholt werden. Voll Entsetzen meldete die Priesterschaft dem Herrn des Fastens, daß ein Arm des Götterbildes abgebrochen sei, und den Gott zu besänftigen, ließ der König den Arm mit drei mächtigen Klammern aus reinem Golde befestigen.

Wo der neue Götze hingekommen sei? erkundigte sich (mit Hilfe von Doña Elvira) Ordas teilnehmend beim tlascaltekischen Führer. Es reizte seine Phantasie, daß der Gott sein eigenes Bild zerschmetterte. Sonst pflegten Götter nur gegen Menschen zu wüten. Der Steingötze erhielt hierdurch ein menschliches, fast mitleidswürdiges, anteilwertes Schicksal.

In einen viel tieferen Abgrund als der erste Tlaloc sei der neue geschleudert worden, weil er dem Himmel verhaßt war, entgegnete der Tlascalteke. Er werde ihm die Stelle zeigen, der Weg führe an dem Abgrund vorbei. Nicht mehr weit sei es bis dahin: gleich hinter der auf der Paßhöhe befindlichen Wanderer-Herberge Ithualco näherten sich die Felswände, und ein zwischen sie gekeilter Felsblock bilde eine nicht von Menschen, wohl eher – wie die Priester sagten – vom Wassergott geschaffene Brücke, über welche die Straße vom rechten Steilabhang zum linken hinüberführe. So hoch schwebe diese Felsenbrücke über der Tiefe, daß man hinabblickend den unten schäumenden breiten Wildbach weder vernehmen noch gewahren könne.

Während Ordas sich dies berichten ließ, erteilte Avila unter dem Vorwande, das Teufelsbild müsse vernichtet werden, heimliche Befehle. Und schon wurden Vorkehrungen getroffen, die schweren Goldklammern in Sicherheit zu bringen. Sandoval und Lugo wollten das nicht zulassen, zum mindesten müsse Don Hernando erst gefragt werden. Avila geriet in Berserkerwut, behauptete, aus Sandovals Worten einen Vorwurf herauszuhören, als wolle er die Goldklammern für sich rauben. Durch das Gezänk aus seinen Träumereien geweckt, ritt Ordas an die Statue heran, senkte angriffsbereit den Speer und erklärte, für den alten Götzen sein Leben lassen zu wollen ...

In diesem Augenblick begann es zu schneien, und zugleich nahten auf dem Engpfade von Westen her drei vornehme Mexikaner. Sie brachten die überraschende Nachricht, daß nahebei in der für erschöpfte Wanderer erbauten Herberge Ithualco der Herr der Welt – der große Montezuma in eigener Person – angelangt sei und, umringt von seinem glänzenden Hofstaat, den Enkel Quetzalcoatls erwarte, ihn an der Grenze Anahuacs willkommen zu heißen.

Vergessen war Tlaloc, noch bevor ihn der flockende Schnee zum Schneemann machte.


Die unerhört wichtige Kunde von der bevorstehenden Zusammenkunft mit Montezuma mußte dem General-Kapitän sofort gemeldet werden. Doch die Hauptleute – und selbst Ordas – sahen ein, daß es unmöglich war, sie ihm zu überbringen, denn so schmal war stellenweise der Pfad am Steilabhang, daß die Soldaten nicht in Reihen, sondern einzeln hintereinander herschritten. Die Nachricht wurde den weiter hinten Befindlichen zugerufen und gelangte so von Abteilung zu Abteilung bis zu Cortes, der an der Spitze der Nachhut ritt. Er gab sofort Befehl, Sandoval solle mit einem Teil des Heeres über Ithualco hinaus marschieren, die übrigen Hauptleute und Reiter aber müßten zurückbleiben und auf ihn warten, damit er mit einer stattlichen Kavalkade vor Montezuma erscheine.

Vom großen Tlaloc bis zu Ithualco war noch eine halbe Stunde Weges. Unter dem dichten Schneefall verschwand der Felsenpfad, verschwanden Schlucht und Bergzacke. Ein wütender Schneesturm setzte ein. Im weißen Gewirbel konnten die Soldaten einander nicht sehen, konnten im messerscharfen Eiswind nicht sprechen, waren kaum noch imstande, ihre metallenen, brennendkalten Waffen in den Händen zu halten.

So schnell das Unwetter genaht war, so schnell war es auch wieder vorübergerast. Als Cortes mit seinen Feldobristen und Reitern an die Herberge und die Teufelsbrücke heranritt, waren zwar Mann und Roß beschneit und beeist, doch grünlich-blau wölbte sich wieder die kristallene Halbkugel des Himmels über die demanten flirrende Schneelandschaft rings und leuchtete gelb im Westen, vergoldet von der untergehenden Sonne.


Die Herberge Ithualco war von Montezumas Vorgänger König Molch erbaut worden, um den die Paßhöhe überschreitenden Handelskarawanen oder auch einzelnen Bergwanderern Schutz vor Kälte und ein Obdach für Nachtruhe zu gewähren. Dieses mexikanische Hospiz bestand aus einem einzigen langen Saal mit einem Rauchfang über dem Feuerplatz und einigen zwanzig Matratzen an den Längsseiten. Auch an Matten und Decken fehlte es nicht–: etwa hundert Menschen konnten dort Unterkunft finden.

Der Platz vor dem Hospiz war fußhoch verschneit. Und da das Eingangstor breit und hoch war, beschloß Cortes, mit seinen Feldobristen in den Saal hineinzureiten und erst vor Montezuma abzusteigen, der – wie man ihm mitgeteilt hatte – ihn dort erwartete.

»Wir werden so mehr Eindruck auf ihn machen, als wenn wir zu Fuß kommen!« sagte Cortes nervös. Er war bleich vor gespannter Erwartung. Der große Augenblick der Erfüllung nahte.

Sie ritten in den qualmgebeizten Saal. Marina wurde in ihrer Sänfte hereingetragen. Ein großes Holzfeuer loderte, viele Kienspäne flackerten. Gewänder von unerhörter Pracht erglitzerten im Dunst.

Der Totonakenfürst Tehuch, der mit Aguilar auch eingetreten war, zeigte auf einen beim Toreingang stehenden hohen schlanken Mann mit schön geschnittenem, langem Gesicht, auf dessen Stirn ein Türkismosaikdiadem prangte. Er trug Sandalen aus Türkismosaik, sein Gewand war golden, und in der Hand hielt er den silbernen Reiherstab, das Zepter der Könige Mexicos. Zwei karminrot geschminkte Stabträger standen rechts und links von ihm.

Cortes stieg vom Pferd, schritt auf den König zu, umarmte ihn und hängte ihm eine Kette aus Glaskorallen um den Hals. Und der König ließ sich die Umarmung des weißen Gottes gefallen, mochten auch dessen Ärmel von geschmolzenem Schnee triefen, und als Gegengeschenk reichte er ihm eine Edelsteinschnur dar und ließ viele Lasten Goldes und baumwollene Gewänder vor ihm ausbreiten.

Da sagte Aguilar laut zu Alvarado, obgleich seine Worte an Cortes gerichtet waren:

»Seid auf der Hut, Señor! Das ist nicht der König! Ich bin dem Schelm in Cholula begegnet!«

Aguilars Gedächtnis trog ihn nicht. Es war in der Tat der Tempel-Feger, der Doppelgänger Montezumas, geschmückt mit den Insignien seines Herrn.

Hierauf ließ Cortes den Tempel-Feger durch Marina fragen: ob er Montezuma sei?

»O weißer Gott, o großer Krieger«, gab der Tempel-Feger zur Antwort, »ich bin dein Knecht Montezuma, der seinen Hofstaat inmitten des Wassers hat, ich bin der König von Mexico, dem du Auge in Auge eine Botschaft zu sagen herzogest. Sage die Botschaft des Herrn des Sonnenaufgangs, und wenn dein Auftrag erfüllt ist, kehre um und ziehe heim, dem König des Ostens meine Geschenke zu bringen.«

Die Kaziken aus Huexotzinco waren in den Saal getreten und lachten. Von Cortes beiseite genommen und gefragt, was ihre Heiterkeit errege – ob etwa dieser Montezuma ein falscher Montezuma sei, erwiderten sie: freilich, das sei es, worüber sie lachten, daß der Präriewolf sich ein Pumafell übergezogen habe und glaube, man kenne ihn nicht, sie aber kennten ihren Landsmann, den Ehebrecher, den ränkevollen Königsgünstling, der schuld sei am Hinterhalt und Blutbad in Cholula.

Ehe Marina Zeit fand, diese Aussage zu verdolmetschen, geschah etwas Unerwartetes – ein Geschehnis von phantastischer Schrecklichkeit.

Gleich nach dem Eintritt der Leute aus Huexotzinco hatte der Tempel-Feger sein Spiel verlorengegeben. Er wußte, daß Cortes ihn richten lassen würde. Mußte er schon sterben, so wollte er glorreich sterben und wenigstens einen der verhaßten Gelbhaarigen mit ins Verderben reißen. Stolz, Geschicklichkeit und sieghaftes Glück hatten ihn niemals verlassen, sie sollten ihn auch jetzt nicht verlassen.

Im Saal waren alle Feldobristen zugleich mit Cortes von den Pferden gestiegen, doch vor der Herberge saßen die Reiter Dominguez und Lares noch im Sattel. Der Tempel-Feger stand dicht neben dem Tor. Mit einem Satz – mit einem Sprung, wie nur ein Indianer ihn springen kann – schwang er sich auf die Kruppe von Enrico Lares' Pferd. Und während er mit der rechten Hand Lares würgte, bohrte er mit der linken ein Messer in die Weichen des Pferdes. Das Tier bäumte sich hoch auf und stürmte dann der Brücke zu. An der jenseitigen Felswand standen Kastilier – an ein Entkommen war nicht zu denken. Mitten auf der Brücke gelang es dem Tempel-Feger, Lares die Zügel zu entwinden – er riß das Pferd herum – noch einmal bäumte es sich steil empor – ein Schrei aus vielen hundert Kehlen auf beiden Steilabhängen – eine atembeklemmende Stille dann – die untergehende Sonne funkelte flammend auf auf dem Goldgewand und der Türkismosaikstirnbinde – ein letztes jauchzendes Siegerlachen des falschen Montezuma – und hinab sprengten die beiden Männer und das Roß in die grausige Tiefe.


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