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Um nicht einen Schlag ins Wasser zu tun, vergewisserte sich Cortes, bevor er den Versuch machte, die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen, ob sein Verdacht begründet sei. Durch Marina ließ er den Vogelsteller bitten, heimlich in Cholula Erkundigungen einzuziehen. Die Boten des Priesterkönigs bestätigten, daß tatsächlich die Königin von Mexico bei Olid als seine Schlafbuhle lebe, stumm sei wie zuvor und auf ihrer kristallenen Flöte spiele.

Nun sandte Cortes den kleinen Gerichtsschreiber Guillén de la Loa an Olid mit der Aufforderung, sich wegen der Ermordung des Don Pedro Gallejo zu verantworten. Olid ließ zurückmelden: ohne sein Wollen und Wissen habe aus Übereifer und irregeleiteter Treue sein Neger die ihm von Cortes vorenthaltene Genugtuung verschafft und den durch Gallejo seiner Ehre zugefügten Schimpf gerächt. Wegen dieser Eigenmächtigkeit habe er Estevan Parillas auspeitschen lassen. Weder denke er daran, die Strafe zu verschärfen, noch werde er zulassen, daß sein Neger von anderen Leuten gestraft werde.

Im Namen der Freunde Gallejos forderte Alvarado ungestüm von Cortes, er solle Olid den Kopf vor die Füße legen.

»Den Orion am Himmel zu köpfen, wäre ebenso leicht!« erwiderte ihm Cortes achselzuckend.

Und er ließ die Sache auf sich beruhen. Ihm fehlte die Macht, Olid zu bändigen.


Es war Anfang November. Seit drei Monaten kämpfte das Christenheer im Süden des Am-Kolibri-Wasser genannten Tafellandes und verschob es, nach Tlascala zurückzukehren, wo noch immer die Pocken Opfer forderten. Eine europäische Fronfeste – Villa segura de la frontera – war von den Soldaten in Tepeaca erbaut worden, und sie hatten den Agramant ohne Taten Pedro d'Ircio zum Alguacil und Stadtkommandanten erwählt – sehr zum Mißmut des General-Kapitäns, der den einstigen Reitknecht des Grafen de Urueña für ungeeignet hielt, einen solchen Vertrauensposten zu bekleiden, schließlich aber doch sich von Sandoval und Luis Marin bewegen ließ, die Wahl zu bestätigen. Auf die Eroberung Tepeacas war die Einnahme der von aztekischen Truppen verteidigten Stadt Quauhquechollan erfolgt. Der Feldzug war aber damit noch nicht beendet, denn Cortes wandte sich nun gegen das noch weiter südlich gelegene Land Itzucan, weil es durch Hilfstruppen den hartnäckigen Widerstand der Quauhquecholteken unterstützt hatte. Als nach längerer Belagerung die Stadt Itzucan gestürmt wurde und die Christen in die Mauern Bresche gelegt hatten, gebrauchten die auf einer Stufenpyramide versammelten Landesfürsten – um Zeit zu gewinnen und ihre vor den eindringenden Christen flüchtenden Adler und Jaguare zu sammeln – eine wundersame Kriegslist. Sie befahlen sämtlichen jungen Frauen und Mädchen, sich der Kleider zu entledigen und, geordnet wie ein Kriegertrupp, den weißen Göttern splitternackt entgegenzugehen. Die von Kampfwut berauschten, mordend und plündernd durch die Gassen vordringenden Kastilier sahen sich, an das Teocalli gelangend, plötzlich der tausendfältigen, die Mordlust lähmenden Nacktheit gegenüber. Unverhüllt zeigten die Mädchen und Frauen ihre Schamteile, hielten mit beiden Händen ihre Brüste und begossen die Soldaten mit der hervorspritzenden Milch. Da rief Sandoval lachend:

»Holt euch die Hübschesten heraus, Kameraden, aber beschmutzt das christliche Schwert nicht mit Frauenblut!«

Und der Rat wurde befolgt, das Gemetzel fand ein Ende. Auch die Fürsten von Itzucan ergaben sich, da es ihnen trotz der Kriegslist nicht gelungen war, ihre Adler und Jaguare zu neuem Angriff zu sammeln.


Die Seuche hatte sich endgültig von Tlascala verabschiedet. Ehe sie davonzog, nahm sie die Sammelnde Biene und das Offene Gesicht mit sich in ihr dunkles Reich. Kriegsmaske war nun an Stelle seines Großvaters, des blinden Hundertjährigen, König und beherrschte Die-auf-der-Kalkerde. An Stelle des Offenen Gesichts aber trug sein Neffe Piltecatl die Tiara der Stadtkönige und herrschte über Die-auf-den-Bergen.

Nicht ohne Sorge erfuhr Cortes von der Rangerhöhung seines Widersachers Kriegsmaske: schon einmal hatte er Brigantinen zerstört. Der Bau der neuen Brigantinen war zwar der Pocken wegen unterbrochen worden, den Schiffbaumeister Martin Gutierrez hatte Cortes mit nach Tepeaca genommen, doch waren schon damals im Hochsommer viele Schiffsteile hergestellt worden, deren Vernichtung einen empfindlichen Verlust an Zeit und Mühe bedeutet hätte. Darum beschleunigte Cortes die Rückkehr nach Tlascala. Der Feldzug war siegreich beendet. Das ganze, Am-Kolibri-Wasser genannte, Tafelland war befriedet. Alle Staaten zwischen Tlacopan im Westen und dem Sternberg im Osten gehorsamten dem Kreuz. Das getrübte Ansehen der weißen Götter hatte den früheren Glanz zurückerhalten. Selbst aus dem fernen Südland Oaxaca (Marinas Heimat) nahten Abgesandte, erbaten Hilfe gegen die mexikanischen Unterdrücker. Und die Fronfeste in Tepeaca, La villa segura de la frontera – .das sichere Grenzstädtchen« – sicherte die für spätere Kämpfe so wichtige Verbindung zwischen dem Wassergau und dem Meere, schützte auch die neuen Vasallen des Kaisers vor der Rache Mexicos.

Obgleich Cholula auf dem Wege nach Tlascala lag, umging das Christenheer die heilige Stadt. Eine Auseinandersetzung oder gar Abrechnung mit Olid war Cortes nicht erwünscht, wie sehr auch Alvarado – dem der chaotische Olid von jeher zuwider gewesen war – dazu drängen mochte. Ein gutmütiger, biderber Haudegen war Alvarado, nichts weniger als ein Politiker. Trotz des Unheils, das er beim Toxcatl-Fest, dem Fest der Geburt des Furchtbaren Huitzilopochtli, für Freund und Feind heraufbeschworen hatte, war Cortes ihm nicht entfremdet, doch hütete er sich nach so üblen Erfahrungen, auf seine Ratschläge zu hören.

Festlicher denn je war der Empfang, den Tlascala dem christlichen Triumphator und seinem Siegerheer bereitete. Mächtige Schwebebogen, ganz aus Blumen gebunden, überwölbten die meisten Gassen. Cortes und die Feldobristen trugen über ihren Stahlharnischen tiefschwarze Kutten und hatten ihre Helme mit Trauerflor umwickelt, um ihre Teilnahme am Schmerz des Volkes über den Hingang des Offenen Gesichts und der Sammelnden Biene recht sichtbar zur Schau zu tragen. Die aufdringliche Trauerbezeigung war wenig angebracht, da die zwei alten Stadtkönige seit Wochen in ihren fürstlichen Grabkammern lagen. Doch die kindlichen Tlascalteken fühlten sich geehrt und bewunderten dankerfüllt den theatralischen Pomp.

Gleich den zweiten Tag nach dem Einzug gab Cortes den beiden neugekrönten Stadtkönigen die Annehmlichkeiten seiner Gunst zu kosten. Er schlug Kriegsmaske zum Ritter. Kriegsmaske wußte sich schier nicht zu lassen vor Stolz, denn die feierliche Zeremonie des Ritterschlages war noch nie an einem Indianer vorgenommen worden. Nun hieß er der erste einheimische Ritter der Neuen Welt, und er fühlte sich als solcher. Nach Schluß der Feierlichkeit zur Äußerung eines Wunsches aufgefordert, erbat er sich einen Trompeter, wie der General-Kapitän einen hatte. Bereitwillig trat ihm Cortes Sebastian Rodriguez ab (einen Beaufsichtiger: Isabel Rodriguez war von der weißen Schlange des Prinzen Kriegsmaske getötet worden). So überschwenglich war der Dank des kupferbraunen Ritters, daß er sogar seiner Schwester Rabenblume die Hand zur Versöhnung bot.

Wie vorauszusehen, war Piltecatl gekränkt über die Bevorzugung seines Rivalen und beklagte sich. Ihm wurde eröffnet: sein Zusammenleben mit Kreideschmetterling sei den Kastiliern anstößig! er könne den Ritterschlag nur erhalten, wenn er sich vom Hermaphroditen trenne.

Bis dahin hatte Cortes durch die Finger gesehen, wie es überhaupt nicht seine Art war, sich um den Lebenswandel seiner Untergebenen zu kümmern. Der Sittenlosigkeit seines besten indianischen Feldherrn hatte er, wenn auch nicht Vorschub geleistet, so doch auch keine Steine in den Weg gelegt. Im Grunde hatte er es als ein Glück betrachtet, daß der Zankapfel zwischen Kriegsmaske und Piltecatl mehrmals den Besitzer wechselte. Dem Umstand hatte ja seinerzeit das Christenheer den entscheidenden Sieg über Tlascala zu verdanken.

Aber was neuerdings – seit dem Tode des Offenen Gesichts – geschehen war, konnte nicht übergangen und erst recht nicht stillschweigend gutgeheißen werden. Nicht bloß die Kastilier, auch die Männer und Frauen Tlascalas mißbilligten es und redeten voll flammender Entrüstung darüber.

Kaum war Piltecatl König, hatte sich Kreideschmetterling in den Kopf gesetzt Königin zu sein. Der vernarrte Piltecatl willfahrte allen seinen Launen, schmückte ihn mit königlichem Schmuck, krönte ihn mit der Türkis-Stirnbinde. Doch nicht zufrieden damit, begehrte Kreideschmetterling nach allen einer Königin gebührenden Ehrungen und Huldigungen. Er weinte immerwährend, und auf Piltecatls Frage, was der Grund seiner Tränen sei, erwiderte er: die Tlascalteken glaubten nicht an seine Weiblichkeit, befreit von Kummer werde er nur sein, wenn dem Volke verkündet werde, daß er ein Kind geboren. Damals gerade hatte eine Nebenfrau Piltecatls ein Kind zur Welt gebracht. Um nun den Schluchzenden zu beschwichtigen, ließ Piltecatl das Neugeborene in des Hermaphroditen Bett legen und gab dem Volke bekannt: Kreideschmetterling sei Mutter geworden. Glückwünschend kamen die Fürstinnen Tlascalas an das Wochenbett der Königin und sahen, wie sie strahlend den Säugling an ihrer Brust hielt. Doch durch Kammerfrauen wurde der Betrug ruchbar, und die Freude des Volkes wandelte sich in Grimm.

Bereits war es Piltecatl überdrüssig, die Zielscheibe versteckten Spottes und unverblümter Vorwürfe seiner Stammesgenossen zu sein. Als ihm auch Cortes ernste Vorwürfe machte, daß er durch seine Nachgiebigkeit gegen die Bizarrerie des Zwitters die Sittlichkeit verletzt und ein Ärgernis gegeben, lieferte er kurzerhand Kreideschmetterling aus, nur die zwei Bedingungen stellend, daß Kriegsmaske ihn nicht erhalte und daß er selbst zum Ritter geschlagen werde. Beides wurde ihm zugesichert.

Ein kleines Nebengebäude im Garten des christlichen Klosters erhielt Kreideschmetterling als vorläufige Unterkunft. Zu ihm eindringen konnte bloß, wer vor der geheiligten Schwelle des Klosters nicht haltmachte. Eben erst Ritter geworden, scheute sich Kriegsmaske vor solch einem Frevel. Auf gütlichem Wege hoffte er zum Ziel zu kommen – zu Gewaltmaßnahmen blieb ihm ja immer noch Zeit. Mit leidenschaftlichen Bitten bedrängte er Cortes und versprach achtzigtausend Mann Hilfstruppen für die Herausgabe des Zwitters. Ein zu wertvolles Angebot war dies, als daß es leichthin hätte abgewiesen werden können. Mit überschwenglichem Dank nahm Cortes die militärische Hilfe an, erklärte jedoch, er fasse das Angebot als ein Entgelt für den Ritterschlag und den Trompeter auf. Mit bezwingender Liebenswürdigkeit redete er auf Kriegsmaske ein und bat ihn, sich in seine Lage zu versetzen: auch Piltecatl sei dem Heere unentbehrlich. Darum sei er gewillt, die Austragung des Zwistes bis nach der Einnahme Tenuchtitlans hinauszuschieben. Und Cortes ließ durchblicken, er werde nach der Eroberung Mexicos Kreideschmetterling Kriegsmaske zusprechen.

Der Dialektik Don Hernandos war der enggeistige Tlascaltekenkönig nicht gewachsen. Gegengründe fielen ihm nicht oder zu spät ein. Er beschied sich. Seine Begeisterung für Trompeten, Christentum und Rittertum schwand merklich dahin. Von neuem grollend, schloß er sich in seinen Tecpan ein.


Einige Zeit hernach trafen in Tlascala mehrere vornehme Mexikaner ein, an ihrer Spitze der Freund des Herabstoßenden Adlers, der Alte Wickelbär. Die Staatsgesandten waren nachts gereist, und auch ihr Einzug in die Stadt erfolgte nachts. Von ihrem Kommen waren bloß Kriegsmaske und mehrere seiner Palastbeamten unterrichtet. Seit den Verhandlungen in Chalco hatte er oft sehnlich die Ankunft des alten Zauberers herbeigewünscht, der damals das Gelübde getan, den Tlascalteken die Ehrfurcht und Furcht vor den Göttern Anahuacs wieder einflößen, ihnen dartun zu wollen, daß die Götter nicht tot seien, und sie dem alten Glauben zurückzugewinnen. Heimlich ließ Kriegsmaske die Mexikaner in seinen Tecpan führen und beherbergte sie. Bis zum Morgen saß er in eifrigem Gespräch mit ihnen, sie mit Pulque und Kräutertränken bewirtend. Als die Sonne sich hob, war er schwer betrunken und grölte:

»Als wir die Mexikaner und ihre Frauen rösteten,
Als wir die Sklavenhalter auswählten für den Opferstein ...«

Mit feinem Lächeln überhörten die kultivierten Mexikaner die Entgleisungen des Barbarenkönigs.

Gegen Abend, als er seinen Rausch ausgeschlafen, begab er sich in den auf schroffer Höhe gelegenen burgähnlichen Tecpan des Königs Piltecatl und suchte Cortes auf. Mit der Bitte, das Geheimnis zu hüten, teilte er ihm mit, er habe den Besuch von Mexikanern erhalten, Abgesandten Guatemocs. Bei Nacht gereist und nachts angekommen seien sie, da zu befürchten war, die gegen Mexico aufgebrachten Tlascalteken könnten sich zu einer unbedachten Tat hinreißen lassen und das heilige Recht der Völker verletzen. Einer der Gesandten habe vom Herabstoßenden Adler den Auftrag, mit Cortes zu verhandeln. Ob Cortes bereit sei, ihn heimlich in der kommenden Nacht zu empfangen?

Cortes erklärte sich bereit dazu. Gegen Mitternacht wurde von Dienern des Königs Kriegsmaske der Zauberer Zacatzin zu ihm geführt. Nur Marina durfte bei der Unterredung zugegen sein.

»O großer Krieger, o Grüner Stein!« begann der Alte Wickelbär. »König Quauhtemoc, dessen Stadt inmitten des Kolbenrohrs steht, sendet dir durch mich einen Gruß. Einst in Sempoalla blickte er in deine Adleraugen, als er den Totonaken geopfert werden sollte und von dir aus dem Holzkäfig befreit wurde. Damals blickte er in die Schluchten deines Herzens und sah leuchtend wie herausgespültes Gold in den Tiefen dunkler Abgründe Großmut schimmern. Du bist ein Tapferer, darum kannst du freigebig sein. Nur die Ängstlichen halten fest, was der Himmel und die Erde ihnen schenken. Du aber weißt, daß du immer wieder beschenkt werden wirst. Was kann dir an der einen Gabe des Himmels und der Erde gelegen sein? ...«

Unterbrechend fragte Cortes:

»Von welcher Gabe sprichst du?«

»O Grüner Stein, der Himmel und die Erde haben dir erlaubt, die Königin Maisblüte zu fangen. Nicht über allen Geschenken schwebt ein Segen: glühheiße Edelsteine muß man aus der Hand legen, bevor sie die Hand verbrennen. Dem Herabstoßenden Adler stirbt in der Brust das Herz, wenn er der Gefangenen gedenkt. Er bittet dich, sie ihm zurückzugeben.«

Cortes sann eine Weile nach und sagte:

»Die Königin ist ein Pfand in meinen Händen. Guatemoc rechnet auf meine Großmut. Er vergißt, daß selbst die Großmut bedingt ist und eine unüberschreitbare Grenze hat. Allzu großmütig ist nur ein Narr. Wie soll ich auf ein Pfand verzichten, gegen das ich reiche Provinzen eintauschen könnte?«

»Welche Provinzen forderst du?« fragte der Zauberer.

»Mexico und die Stadt Tenuchtitlan!« entgegnete Cortes leichtfertig. Dann lachte er selbst über seine kecke Antwort. »Du siehst, Alter, daß wir nie handelseinig werden können!«

»O Grüner Stein, der Herabstoßende Adler will ja die Königin nicht umsonst haben, er will sie einlösen, er will sie dir abkaufen für hohen Preis. Und wenn du jetzt auch lachst – du wirst den Tausch nicht abschlagen.«

»Der König von Mexico muß steinreich sein, wenn er glaubt, ein Lösegeld mir bieten zu können, das den Besitz von Mexico und Tenuchtitlan aufwiegt!«

»Die Schatzkammern Anahuacs sind ausgeplündert!« erwiderte der Zauberer mit düsterem Vorwurf im Tonfall. »Doch der Herr der Welt hat fünf weiße Götter in seiner Gewalt. Ja, ja, nun flattern Feuerschmetterlinge in deinen Blicken, o Grüner Stein! ... Fünfundvierzig weiße Götter waren im Walde bei Teotihuacan – kurz bevor ihr nach Otompan zogt – von König Ohrring-Schlange gefangen worden. Vierzig hat er in seiner Stadt Tezcuco auf der Opferblutschale getötet. Aber fünf – und zwar die edelsten – sandte er nach Tenuchtitlan als Geschenk für unseren Gott Huitzilopochtli. Noch entriß man ihnen den Edelstein nicht. Diese fünf bietet dir der Herabstoßende Adler an für Königin Maisblüte. Doch muß die Königin bis morgen mittag an der Großen Mauer sein, denn das Opferfest in Tenuchtitlan ist in drei Tagen.«

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel wirkte die Mitteilung auf Cortes. Er, der eben noch gelacht hatte, sah sich plötzlich vor eine qualvolle Entscheidung gestellt. Ruhelos schritt er im Zimmer auf und ab, während die nicht minder erregte Marina durch Fragen an den Zauberer feststellte, daß die fünf Gefangenen der Hauptmann Francisco de Lugo, der Fähnrich Villareal, Isabel de Ojeda, der vornehme Büchsenspanner Juan de Najera und der Portugiese Alfonso Ferreira waren.

Cortes fing laut an zu denken, wie er es immer vor Marina tat. Die spanischen Laute zu verstehen, war ja der Alte Wickelbär nicht imstande.

»Meine Lage ist entsetzlich«, begann er. »Bisher, wenn Kameraden starben – und viele Hunderte verlor ich –, sagte ich mir: Es war Gottes Wille. Mit diesem Glauben errichtete ich einen Wall um mein Herz. Als ich erfuhr, die fünfundvierzig Mann seien gefangen, fand ich mich ab damit, so gut es ging. Auch eben noch, als der Alte vom Opfertod der vierzig sprach, nahm ich es hin als gottgewollt. Doch das Leben dieser fünf hat der Schöpfer aus seiner Hand in meine Hand gelegt. Und ich bin nicht allmächtig wie Er. Auch nicht allweise. Ich zermartere mein Hirn und sehe keinen Ausweg. Mir fehlt die Macht, Olid zu zwingen.«

»Zwang weckt Trotz, Don Hemando. Aber bitte Olid – er kann doch so unmenschlich nicht sein! ...«

»Meinst du, Kind, ich soll ihm von Menschlichkeit reden? Olid und Menschlichkeit! Er ist ein reißendes Tier! Einem Tiger nimmt man die Beute nicht durch Zureden oder Überredung. So Sinnloses, Zweckloses, Aussichtsloses versuche ich nicht. Ein mißglückter Versuch in diesem Fall wäre schlimmer als Selbstmord: er würde meine Machtlosigkeit aller Welt offenbaren. Den Mexikanern darf ich meine Schwäche nicht verraten, den Tlascalteken und meinen Leuten erst recht nicht. Soll ich etwa zu den Mexikanern sprechen: Liebe Freunde, ich würde euch ja gern die Königin ausliefern, hätte ich nur die Streitkräfte, sie meinem unbotmäßigen Hauptmann abzunehmen! ... Mit der Gloriole meines Namens wäre es damit für alle Zeiten vorbei. Ich komme mir wie ein Pilot vor, der im Sturm ein mit Menschen vollbesetztes Schiff an Klippen vorbeisteuert, wo Ertrinkende ihn um Hilfe anrufen. Er muß die Klippen meiden, er muß sich die Ohren verstopfen und die Augen schließen, den Todeskampf der Ertrinkenden nicht zu sehen, der Menschen wegen, für die er die Verantwortung trägt, muß er unmenschlich sein. Er muß die Schuld auf sich nehmen, um frei von Schuld zu sein!«

»Don Hernando, so unmenschlich könnt Ihr nicht sein!« rief Marina schluchzend aus. »Stellt es Euch vor: Lugo, Villareal und Isabel auf dem Menschenwürgeplatz! Entscheidet es wenigstens nicht in dieser Nacht! Laßt Euch Zeit bis morgen!«

Den Bitten Marinas gab Cortes schließlich nach und ließ dem Zauberer mitteilen: die Tochter Montezumas sei eine zu wertvolle Geisel, als daß sie mit fünf Gefangenen erkauft werden könnte. Sie auszutauschen liege nicht in der Absicht der weißen Götter. Doch um in einer so wichtigen Sache nicht vorschnell zu handeln, wolle er noch einen Tag lang mit sich zu Rate gehen und werde in der folgenden Nacht seine endgültige Entscheidung bekanntgeben.

»O Grüner Stein«, sagte der Zauberer, »in deinem Herzen ist die Entscheidung unverrückbar wie ein Felsen in der Erde, – nur um Malintzins Tränen abzuwischen, wartest du noch auf die Wiederkehr der Sterne. In deinem Herzen aber siehst du die fünf weißen Opfersklaven schon mit der roten Korallenschlange umwunden. Bedenke: die Sterne dieser Nacht kehren nie wieder! Und solltest du auch morgen aus der Tiefe deiner Eingeweide seufzen über das Los der mit Daunenfedern Beklebten – es wird morgen zu spät sein.«

»Warum zu spät?« fragte Cortes.

»O Grüner Stein, weil die Welt eine andere ist, weil die Welt sich verwandelt mit jedem Tag. Der König von Mexico kann die Frist nicht verlängern: das Volk gehorcht ihm – doch er gehorcht den Priestern. Morgen abend wirst du reden, wie du heute redetest ... oder du wirst tot sein. Was heute Blüte ist, kann ja morgen schon Frucht sein, und was heute strahlende Frucht ist, kann morgen schon vermodern. Vielleicht auch werde ich morgen abend tot sein. Die Himmelsgötter wissen die Zukunft, nicht wir Menschen!«

Nachdem Cortes den Zauberer entlassen hatte, fand er keine Ruhe und kämpfte immer wieder von neuem den Kampf mit seinem Gewissen aus. Auch gegen Marinas Tränen hatte er sich zu wehren, – keine Macht hätten sie über ihn gehabt, wäre er seiner Selbstvorwürfe Herr geworden. Schließlich übermattet, schrieb er, allen Vorsätzen zum Trotz, einen Bittbrief an Olid. Dem Reiter Dominguez gab er den Auftrag, so schnell wie nur irgend möglich mit dem Brief nach Cholula zu jagen.

Gegen Morgen traf eine Antwort, und zwar eine abschlägige, ein. Olid schrieb: Alle Mexikaner seien Lügner. Montezuma habe nie ein wahres Wort gesprochen, und sein Nachfolger auf Mexicos Thron halte es ebenso. Die Königin Maisblüte sei ein unschätzbares Lösegeld wert, aber nicht die vermoderten Gebeine längst abgeschlachteter und verzehrter Christen. Er habe sich bei Cholulteken erkundigt und in Erfahrung gebracht, daß alle fünfundvierzig Gefangene – also auch Lugo, Villareal und Isabel de Ojeda – längst den Tod auf dem Opferstein gefunden hätten.


Und wieder wurde, als am nächsten Morgen die Sonne aufging, von frühen Wandrern (die, mit Ballen, Säcken und geflochtenen Weidenkörben beladen, ihre Waren zum Marktplatz schleppten) beobachtet, daß auf dem Tecpan des Königs Kriegsmaske, sich plusternd auf einer der rotbemalten, treppenförmigen Dachzinnen, ein Oactli-Vogel, ein kleiner schwarzer Geier mit weißer Halskrause, saß. Er galt als Heil- und Unglücksbringer, er hieß der lachende Vogel. Setzte er sich auf ein Hausdach, so hatte es stets eine Vorbedeutung: – eine gute, wenn er seinen kreischenden Schrei Ah-ah-ah ausstieß, eine schlimme, wenn er Yeccan rief.

Das Volk Tlascalas hatte den Glauben, aber nicht den Aberglauben abgelegt. Es erschrak: der Vogel rief Yeccan. Und als das Graublau des Gebirgstals rötlichem Morgenschein wich, war auf dem mit Verkäufern und Käufern sich füllenden Marktplatz fast nur vom Geier die Rede. Bald verbreitete sich ein Gerücht, welches das böse Vorzeichen zu bestätigen schien. Und schon kamen, von der Zahuapan-Brücke her, Männer, Frauen und Kinder auf den Markt gelaufen; verstört vor Schrecken erzählten sie, auf der Brücke stehe Ixcoçauhqui, der Türkisherr, der alte gelbgesichtige Feuergott, und er drohe Tlascala den Untergang an zur Strafe für seinen Abfall vom Glauben der Väter.

»Steht uns bei, Santa Malia und Xesu Nazaleno! Wir sind verloren! Er wird uns alle schlachten!« schrien verzweifelte Stimmen aus der Volksmenge.

Und plötzlich befand sich der Gott mitten auf dem Markt, überraschend plötzlich, wie von einem Windstoß hingetragen. Angstgelähmt, unfähig zu fliehen, warfen sich die Tausende um ihn her ächzend und wimmernd zu Boden, berührten mit ihren Stirnen die Erde und wagten die Augen zu ihm nicht zu erheben. Eine weiße Perücke trug der Türkisherr, der Vater Tezcatlipocas, einen bleckenden blauen Drachen auf dem Rücken und vor dem Gesicht eine Türkisschlangenmaske. Durch den weit offenen Mund der Maske sprach er zum Volk:

»Unglückliche Tlascalteken! Glaubt ihr, eure neuen Götter anrufend, das Strafgericht des Himmels abwenden zu können? Wißt, daß euer Untergang beschlossen ist, wenn ihr fortfahrt, jenen zu opfern! Ich und alle Himmelsgötter, wir waren eurer Sünden müde geworden, und wir verließen diese verlorene Stadt. Doch wir kehren zurück. Glaubt ihr, daß die weißen Götter uns standhalten können? Vernahmt ihr nicht, was in Tenuchtitlan geschah? Tezcatlipoca, Huitzilopochtli, Xipe Totec und Tlaloc haben mich vorausgesandt, auf daß ich ihre Wiederkunft melde!«

Die Rede des Gottes wurde durch Lärm unterbrochen. Eine Schar von nahezu hundert Klosterschülern war auf den Markt gekommen. Sie hatten frühmorgens im Zahuapan gebadet und waren auf dem Rückwege nach ihrem Kloster durch das Gerücht vom furchterweckenden predigenden Heidengott auf den Marktplatz gelockt worden. Jetzt drängten sie sich unerschrocken, voll Schülerhochmut und der Übergewalt der christlichen Heiligen gewiß, an den Gott heran und hinderten ihn durch wüstes Geschrei am Weiterreden. Er sei nicht der Türkisherr, er sei überhaupt kein Gott, schrien sie ihm zu. Ein Betrüger sei er oder ein böser Teufel in Gottesgestalt, und alles, was er spreche, sei Lüge, – die Wahrheit aber sei nur bei den Christen zu finden. Und ein Antonio genannter Knabe, ein Neffe des Königs Kriegsmaske, hob einen Stein auf und rief seinen Mitschülern zu:

»Laßt uns den Gott steinigen!«

Da streckte der Türkisherr die Arme empor und erzwang sich für einen Augenblick Gehör:

»Schlagt eure Götter tot, ihr verführten Kinder! Ihr verrietet ja auch den Fürsten Fichtenzweig, den letzten Adlerfürsten Tlascalas! Sind seine Söhne, die jungen Jaguare, unter euch? Heben auch sie Steine gegen ihren Gott? Nun, sie mögen! Alle Schuld führt ins Steinmesserhaus, sagt das heilige Buch der Tolteken. Und welche Schuld ist verruchter, ist strafwürdiger als der Verrat am Willen unserer ersten Ahnen, unserer ersten Väter? Die Wunden, die ihr mir zufügen wollt, werden eure Augen mit Asche füllen, o Tlascalteken, aber meine Augen werden erstrahlen im Blumenhaus der Sonne! In euren Herzen werden meine Wunden schwären, wenn alle Freien Anahuacs, deren Kleider Schmuckfedern schmücken, zu Knechten und Bettlern geworden durch die weißen Sklavenhalter ...«

Antonio warf den Stein. Auch die anderen Knaben zielten und warfen. Der Türkisherr floh nicht. Aufrecht stand er da. Als er schon aus vielen Wunden blutete, deckte er den Mantel über seinen Kopf. Erst als ein Stein durch den Mantel hindurch ihm die Schläfe zerschlug, sank er zu Boden, röchelte und verschied.

Von Palastbeamten wurde die Leiche in den Tecpan des Königs Kriegsmaske geschafft und den Mexikanern ausgeliefert. Heimlich bei Nacht, wie sie nach Tlascala gekommen waren, zogen die Abgesandten des Herabstoßenden Adlers der Großen Mauer zu, in einem verschnürten Mumienbündel die sterblichen Überreste des alten Zauberers mit sich tragend.


In jenen Tagen landete in Vera Cruz ein abenteuerlustiger Hidalgo, Don Francisco Hernandez, mit einer gut ausgerüsteten Mannschaft von dreihundert Mann. Als er erfuhr, Cortes habe Narvaez besiegt und plane einen neuen Angriff auf Mexico, zog er nach Tlascala und stellte sich und sein Heer unter den Oberbefehl des General-Kapitäns. Das Glück hatte wieder einmal Partei genommen für seinen Liebling.

Jetzt hätte Cortes Olid strafen können. Er war klug und stark genug, es nicht zu tun. Als er ihn auffordern ließ, sich in Tlascala einzufinden, gehorchte Olid. In einer Aussprache unter vier Augen warf Cortes Olid die Gefangensetzung des Vogelstellers und des Königs Kriegsmaske vor. Bei diesem Verweis ließ er es bewenden. Gallejo und Maisblüte wurden nicht erwähnt.


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