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»Wer ist diese Jungfrau? ...« fragte Coxtemexi, benommen von der traumhaften Erscheinung, die wie eine Flammenlohe sein Herz in Brand gesteckt hatte.

»Sie heißt Blutfeuerstein. Es ist meine Nichte«, erwiderte die Blaubemalte obenhin.

Fast höhnisch blickte er die Giftmischerin an.

»Du hast keine solche Nichte. Dies ist eine Zapotekin, eine Sklavin ...«

»Nun ja, ich will's nicht leugnen. Sie lernt bei mir, nachts den Schmuck der Toten zu suchen ...«

»Du lügst! Mit dem Jaspisgesicht willst du mehr gewinnen als den Totenschmuck!«

»Vielleicht ... Warum soll ich es dir nicht sagen? Du weißt, daß König Kreideweiß durch ein Mädchen umkam, welches ein fremder Fürst ihm zugeschickt hatte ...«

Die Hände des Höflings flatterten vor Erregung. Blutleer und krampfig verzerrt vor Gier war sein Mund.

Die Blaubemalte nickte selbstgefällig. (Ja, solche Ware führten andere Medizinweiber nicht ...)

»Verkaufe sie mir!« flehte er.

»Du bist nicht reich genug, sie zu bezahlen!«

Er knirschte. Dann sagte er:

»Mein Freund, der Sohn Montezumas, ist reich genug.«

»Dein Freund ist als Geisel fortgeschleppt und vielleicht schon tot!«

»In Tlacopan wird er befreit werden!«

Doch sie schüttelte den Kopf. Und sie erzählte ihm, was sie von einem Otomi erfahren hatte: die am Ufer des Schilfsees verstreut wohnenden Otomis hatten vor, den fliehenden Christen und Tlascalteken heimlichen Beistand zu leisten.

»In die Falle von Tlacopan werden die Gelbhaarigen nicht gehen!« sagte sie besorgt.

Doch es gelang ihr nicht, Coxtemexi zu überzeugen.


Ungläubig hatte er von ihr Abschied genommen. Als er aber allein durch die Gassen heimwärts schlenderte, wurde er von einer rastlosen, sich steigernden Unruhe erfaßt. Er sagte sich, daß diese Frau, die mit der Hefe der Großstadtbevölkerung in Berührung kam, Gefahren wohl kennen mochte, von deren Drohnis den Mexikanern und ihrem Königshof nichts zu Ohren gekommen war. Unglaubwürdig schien es ihm jetzt nachträglich nicht, daß die Otomis gewillt waren, Landesverrat zu begehen. Sie waren eines Stammes und eines Blutes mit den Otomis von Tlascala, abgesprengte, verstreut wohnende Teile dieses Volkes und hatten peinvoller noch als ihre Stammesbrüder den Grimm Mexicos seit Jahrhunderten erfahren. Für Menschen wurden sie nur angesehen, wenn es galt, die Götter mit ihrem Blut zu tränken, sonst wurden sie, weil sie sich flitterhaft und geschmacklos herauszuputzen liebten, verhöhnt, als arbeitsscheu erachtet und kaum höher gestellt als die Affen. Zu einem Schimpfwort war ihr Volksname geworden: in der Sprache der Mexikaner bedeutete ein Otomitl soviel wie ein Dummkopf, ein bäuerlicher Tölpel oder ein Verschwender.

Coxtemexi wollte sich Gewißheit verschaffen, wie es um Tlacopan bestellt war. An der Landungsstelle eines Kanals mietete er einem Kahnführer den leichtesten seiner Einbäume ab und ruderte hinaus in den nordwestlichen Teil der Lagune.


Er wurde von einem Sturm überrascht. Eine dunkelviolette Wolkenwand leuchtete grimm drohend hinter den Türmen Tenuchtitlans. Fast im Nu verfärbte sich milchiggrün die Lagune. Und die breiten Seewogen waren bald wie durchsiebt vom niederprasselnden Regenschauer. Viele Fischer ruderten in angstvoller Hast dem nächstgelegenen Ufer zu, und von weitem schon winkten sie Coxtemexi, daß er sich nicht auf den See hinauswagen, daß er umkehren solle. Doch er ließ sich nicht beirren, ließ sich durch die sich häufenden Blitzschläge nicht abschrecken. Nach wenigen Augenblicken war er allein auf der windgepeitschten Wasserfläche, durch hellgrüne Glasberge und schwarzgrüne Glastäler sausend in seinem winzigen Boot. Als er sich aber der Stadt Tlacopan genähert hatte, gewahrte er ein zweites Boot, das gleichfalls im Ungewitter ausharrte. Wie in einen weißen Schleier hüllte der Platzregen die am Ufer gelegene Stadt ein. Auch die vier Insassen des Bootes konnte Coxtemexi erst erkennen, als er dicht an sie herangerudert war. Es waren: der Alte Wickelbär (sonst Zauberer Zacatzin genannt), Feuer-Juwel, der Spinner und der Rote Jaguar.

Während das Kreuz auf dem Schlangenberg die Götter Anahuacs kränkte, hatten der Zauberer und der weiße Sklave ihr Asyl auf der Toteninsel – das bis vor kurzem auch das Asyl des Herabstoßenden Adlers und des Prinzen Ohrring-Schlange gewesen war – nur selten verlassen. Über die Geschehnisse im Huei-Tecpan waren sie durch den Annalenschreiber Feuer-Juwel unterrichtet worden, der sie oft heimlich aufsuchte und auch jetzt mit seinem Freunde, dem Dichter, gleich nach der Nacht der Schrecken zu ihnen hinausgerudert war. Aber sein Boot, vom Sturme an ein Riff geschlagen, war leck geworden; darum hatten er und der Spinner im Einbaum des Zauberers Platz genommen, als dieser – von gleicher Sorge getrieben wie Coxtemexi – seinen Freunden den Vorschlag gemacht hatte, die Vorgänge in und bei Tlacopan (die sich von der entfernten Toteninsel aus schwer erkennen ließen) aus größerer Nähe zu betrachten.

Doch Coxtemexi war zu spät gekommen. Die Entscheidung war bereits gefallen. Trotz der Abneigung, die sie gegen den Feind Guatemocs empfanden, riefen der Zauberer und der Rote Jaguar ihn an, forderten ihn auf, zu ihnen ins große Boot zu steigen, sein kleines aber dem Spinner und Feuer-Juwel zu leihen, welche zu den Sümpfen an der Nordseite des Sees hin müßten. Er rief zurück: das sei unausführbar, solange Tlalocs Hexenschwestern ihr böses Spiel auf dem See trieben! Darauf schlug der Zauberer vor, an einer der nächstgelegenen Schilfinseln zu landen.

Sie taten es, warteten das Austoben des Unwetters ab. Dort erfuhr Coxtemexi, was sich an Land abgespielt hatte. Lückenhaft war der Bericht Feuer-Juwels, ungeklärt blieb vieles, was den vier Beobachtern im Boot, sei es durch den weißen Regenschleier, sei es durch die hohen Mauern der Stadt, verdeckt worden war. Aber eins schien gewiß zu sein: der größte Teil des Christenheeres war der Gefahr entronnen. Während die Vorhut – drei Reiter und etwa fünfundvierzig Mann Fußvolk – im südlichen Tor der Stadt verschwand, waren aus einem Maisfeld Otomis hervorgetreten, hatten mit wilden Gebärden Warnungsrufe ausgestoßen. Vor den Grünen Stein und Malintzin waren sie geführt worden, und gleich darauf ertönten Hörnersignale. Der Rest des Heeres zog in die Stadt nicht ein, bog vielmehr nach Nordwesten in die dort hinter der Stadt aufsteigenden Hügelreihen ab. Die Vorhut schien gefangen zu sein.

Doch gleich darauf hatte sich das südliche Stadttor von neuem geöffnet. Nicht die Vorhut, sondern die Adler und Jaguare des Drei-Städte-Bundes stürmten hinaus, den abziehenden Christen nach. Ein Scharmützel entspann sich im Hügelgelände. Man sah den jungen König von Tlacopan tot oder schwer verwundet zu Boden sinken, man sah, wie sein lebloser Körper von Christen fortgeschleppt und von einer mexikanischen Amazone, der Prinzessin Perlmuschel, herausgehauen wurde. Während die Christen drei Tote einbüßten, starben von den Jaguaren und Adlern wohl mehr als siebzig. Nichts fruchtete ihr Opfermut. Das feindliche Heer zog nach Westen ab und entschwand hinter einer Hügelkette.

Als Feuer-Juwel so weit berichtet hatte, unterbrach ihn Coxtemexi und fragte: ob sein Freund, der Vom-Himmel-Gestiegene, noch am Leben sei?

Über den Sohn Montezumas wußten Feuer-Juwel und seine Gefährten keine Auskunft zu geben. Zu fern, zu undeutlich für die Augen der Beobachter hatten sich die Kämpfe abgespielt.

Coxtemexis Hoffnung, Blutfeuerstein, das schöne Giftmädchen, mit Hilfe des Prinzen erwerben zu können, schien zunichte geworden. Aber er wollte es nicht wahrhaben, er ließ nicht ab von der Hoffnung. Und er erklärte, er werde nach Tlacopan rudern, über das Los des Vom-Himmel-Gestiegenen Erkundigungen einzuziehen.

Die anderen widersetzten sich. Sobald das Wetter es zuließe – sagte der Alte Wickelbär –, müsse das eine Boot nach Tenuchtitlan, dem Herrn der Welt die Unheilsbotschaft überbringen, das andere Boot aber müsse Feuer-Juwel und den Spinner an die nördliche Seeküste absetzen, wo sie als Otomis verkleidet sich der Vorhut der Gelbhaarigen als Führer anbieten wollten, in der Absicht, sie in die Irre zu führen und zu verhindern, daß sie sich mit dem Grünen Stein wieder vereine.

Erstaunt fragte Coxtemexi: ob die Vorhut denn nicht in Tlacopan gefangen sei?

Der Spinner lachte bitter auf:

»O edler Tecpan-Bewohner« – sagte er –, »du solltest ein Dichter werden wie ich! Wir Dichter haben keine Netze und fangen doch, was wir wollen. Aber die Mexikaner haben Netze, und sie fingen damit schwergoldene Enten und eine türkische Schädelmaske, während die Gelbhaarigen sich in Popotla die Wunden verbanden und davonzogen. Tlacopans Adler und Jaguare aber heulten wie die Schakale in den Bergen und Talschluchten, während die schon gefangene Vorhut durch das nördliche Stadttor entwich!«


Blanker als sonst stieg nach dem läuternden Gewitter die Morgensonne über den Gletscherhorizont des Hochtals empor. Schon viele Stunden vordem, beim frühesten grauen Dämmer, war die Bevölkerung der Wasserstadt dem Hause der Fledermäuse zugeströmt. Auch der hohe und niedere Klerus, der Adel und der Königshof hatten sich eingefunden. Denn heute saß Tenuchtitlan zu Gericht über seine Toten.

Dicht vor den aufgebahrten Mumienbündeln Montezumas, der Königin Acatlan, Cacamas und des Königs von Coyoacan waren herrliche Teppiche hingebreitet und drei mit Jaguarfellen bedeckte Sessel hingestellt worden für den Überwältiger, Königin Maisblüte und Königin Silber-Reiher, die Witwe des Edlen Traurigen. Neben den Leichen knieten Klageweiber, junge sowohl wie steinalte, alle königlichen Geblüts, sie bückten sich immerfort, die Erde mit ihren Stirnen berührend, und sich die entblößten Brüste schlagend, winselten sie laut. Die vierzig Totenrichter – lauter Fürsten Anahuacs – hockten rings auf niederen Schemeln. Die anderen Großen des Reiches und die Priester – auch der Weibliche Zwilling und das Mexikaner-Priesterchen – standen. Das Volk drängte sich scheu am steinernen Portal des Leichenhofes und füllte alle Dachterrassen der benachbarten Häuser mit kaleidoskopisch schwirrenden Farbenflecken.

Der neue Herr der Welt sah krank und vergrämt aus. Er hatte die Nacht kaum geschlafen. Nachdem er bei einbrechender Dunkelheit seines Bruders Leiche im Hause der Fledermäuse besichtigt und für eine würdige Einsargung in einem Mumienbündel Sorge getragen hatte, war er ermattet von vielen Opferhandlungen zu Bett gegangen. Doch der Vorsteher des Hauses der Teppiche hatte ihn nach kurzer Rast geweckt, Unheilsbotschaften waren ihm überbracht worden, die ihn veranlaßten, alle seine »Adlerfürsten« – seine Militärkommandanten – zu einer nächtlichen, bis in die Morgenstunden währenden Kriegsratsitzung zu versammeln. Der Alte Wickelbär und Coxtemexi waren nicht die ersten Träger böser Kunde gewesen, die Schnelläufer des Durch-Zauber-Verführenden hatten auf dem Landwege Tenuchtitlan früher erreicht. Und sie wußten über das Mißglücken des Überfalls in Tlacopan genauere Angaben zu machen als der Alte Wickelbär, dessen Befürchtung, der Durch-Zauber-Verführende sei bei den Kämpfen vor der Stadt erschlagen worden, sich als ein Irrtum erwies: bloß verwundet war der junge König von Tlacopan, war vor der ihm im Schlachtgewühl drohenden Gefangennahme bewahrt worden durch die als Adlermädchen kämpfende Prinzessin Perlmuschel, welche – gemäß den in Anahuac herrschenden Anschauungen – nunmehr durch diese kühne Tat von allen Schlacken ihrer Schmach geläutert war. Fast gleichzeitig hatte der Überwältiger beängstigende Nachrichten aus Chalco erhalten. Prinz Kriegsmaske, der – nachdem er die beiden Brigantinen in Brand gesteckt – mit etwa tausend seiner tlascaltekischen Anhänger wenige Tage vor der Nacht der Schrecken aus Tenuchtitlan heimlich entwichen war, hatte den Heimweg nach Tlascala über Iztapalapan angetreten, am Südufer der Seen von Xochimilco und Chalco entlangziehend, und war jetzt in die (unweit der letzten Ausläufer der Weißen Frau gelegene) Stadt Chalco eingerückt, deren Bewohner, im Glauben, er sei nach wie vor ein Freund des Cortes, ihn überaus freundlich aufgenommen hatten.

Nicht die Rebellen in Chalco mitsamt ihren Gästen dem Kriegsgott darzubringen – wie einige Heißsporne verlangten –, war vom Kriegsrat zum Beschluß erhoben worden, vielmehr Kriegsmaske und seinen Begleitern den Weg nach Tlascala offen zu lassen, allerdings für das Entweichen ihren Dank, ihre Freundschaft und Bundesgenossenschaft einzutauschen. Besonders der kluge Überwältiger war für den – in Mexico neuen, ja unerhörten – Gedanken eingetreten, alten Streit und alte Eifersucht hintanzusetzen zugunsten des einen Zieles: Zusammenschluß aller indianischen Völker, Eintracht, Einigung – auch mit Tlascala! Um dies zu erreichen, mußte Kriegsmaske geschont werden.

Dem Herabstoßenden Adler wurde der Auftrag zuteil, mit einer größeren Heeresabteilung in Eilmärschen vor die Mauern von Chalco zu rücken, durch klug gewählte Kundschafter Verhandlungen mit Kriegsmaske anzuspinnen, ein Bündnis anzubahnen und nur im Falle schroffer Ablehnung von den Waffen Gebrauch zu machen.

Ferner wurde beschlossen – da den im nordwestlichen Hügelgebiet befindlichen Christen, wollten sie ihre Meeresfestung Vera Cruz erreichen, keinen anderen Weg zu wählen übrigblieb als den am nördlichen Xaltocan-See und an Teotihuacan, Wo-die-Götter-anlangen, vorbei nach Tlascala führenden –, die mexikanischen Heerscharen den Flüchtenden nicht nach-, sondern entgegenzusenden und, um dies rechtzeitig ausführen zu können, die gesamten Heerscharen – einige hunderttausend Mann – in Booten an das Ostufer der Lagune hinüberzubringen, wo sie, nördlich von Tezcuco landend, sich wie ein Wall vor die Grenze Tlascalas stellen sollten. Nach altem Herkommen mußte der neuerwählte König an der Spitze seines Heeres einen Kriegszug unternehmen, um an seinem Krönungsfeste den Blutdurst Huitzilopochtlis zu stillen. Und mit aufrichtiger Freude hatte der Überwältiger, der sich mitschuldig fühlte an der Schlappe des Königs von Tlacopan, die Gelegenheit wahrgenommen, sich selbst zum Oberfeldherrn – zum Vorsteher des Hauses der Speere – zu ernennen.

Doch der Aufbruch, die Ausrüstung und Verschiffung der Truppen mußten um Stunden verzögert werden, weil die Gerichtssitzung über die Toten keinen Aufschub duldete und ohne den König und seine Adlerfürsten nicht vonstatten gehen konnte.


Die Zeremonie begann damit, daß königliche Diener und Dienerinnen die Mumienbündel Montezumas und seiner Gemahlin, der Königin Acatlan, öffneten. Zahllose Hüllen wurden von den Leichen geschält und diese auf zwei Jaguarfellsitze völlig nackt und in hockender Stellung niedergesetzt – denn in den Mumienbündeln befanden sich die Toten immer in hockender Stellung. Den dumpfen Ton der Trommeln übergellte der entsetzensvolle Aufschrei der Kebsweiber Montezumas aus dem Hause der Vierhundert Frauen und seiner Krüppel und Narren beim Anblick der beiden hochheiligen, so grauenhaft entweihten Leichname: der Königin Acatlan hatte ein mexikanischer Obsidianpfeil den Nabel durchbohrt, und die linke Gesichtshälfte war ihr vom Huf eines Pferdes zertreten worden, der Körper des Zornigen Herrn – den tags zuvor die wilde Volksmenge durch die Gassen geschleift hatte – wies lange fleischrote Striemen auf, noch furchtbarer aber waren die Würgemale an seinem Halse, sie ließen über die Art seines Todes keinen Zweifel und entlasteten den Herabstoßenden Adler in den Augen jener, die den Aussagen der wahnsinnigen Prinzessin Papan bisher keinen Glauben hatten schenken wollen. Königin Maisblüte hielt den Blick starr auf die Erdrosselungswunde ihres Vaters gerichtet und wagte nicht, den Herabstoßenden Adler anzuschauen, auf den sie verzichtet hatte, wie auch er auf sie, im irrigen Glauben, sein Steinwurf habe den Zornigen Herrn gemordet.

Das Mexikaner-Priesterchen trat feierlich an die beiden Leichen heran. Das Gewinsel der königlichen Klageweiber verstummte. Einen großen Smaragd steckte der Hohepriester dem Toten zwischen die Zähne und redete ihn an:

»O göttliche Edelsteinschnur, erwache!«

Auch der Königin Acatlan steckte der Hohepriester einen schönen Smaragd in den Mund und sprach zu ihr:

»O dunkle Schmuckfeder, erwache!«

Dann fuhr er, beide anredend, fort:

»Erwacht, Gemahl und Gemahlin, Gott und Göttin! Schon hat sich blutig gefärbt die Morgenröte! Schon redet das flammengelbe Feuerhuhn, schon redet die flammengelbe Schwalbe! Schon leben die gelben Schmetterlinge!«

Nach dem Mexikaner-Priesterchen nahte den Leichen Prinz Ohrring-Schlange, als ernannter – wenn zwar noch nicht gekrönter – König von Tezcuco und als Vertreter des verwundeten Königs von Tlacopan. Er überbrachte Grabgeschenke: zehn Sklaven, welche man die Totenbegleiter nannte, ferner Kleinodien und goldgefleckten Kolibrifederschmuck, zwei Sterbekleider auch und – für die Krüppel und Narren Montezumas – zwanzig schwarzweiß gestreifte Mäntel, denn die Krüppel und Narren mußten mitsamt den zehn Totenbegleitern nach dem Ort der Würmer, in das Reich Mictlan-Tecutlis wandern, den toten König dort zu erheitern – vorausgesetzt nämlich, daß das Leichengericht ihn aller Schuld freisprach und ihm den Nachen zur Überfahrt nicht verweigerte.

Von Dienern und Dienerinnen wurden nun die beiden Toten in die Sterbegewänder gekleidet, behängt mit den Juwelen, geziert mit der golden flammenden Edelfeder-Zierde – sollten sie doch von den Bewohnern der Niederwelt als König und Königin erkannt und begrüßt werden. Nachdem sie geschmückt waren, traten die tributpflichtigen Fürsten der Chinampaneca, die Fürsten der Provinzen Huaxteca und Xilotepec, die Stadtkönige von Coyoacan, Mexicatzinco und Huitzilopochco heran, gleichfalls als Grabgeschenke Kleinodien und Mäntel darbringend. Diese sollten zu Schmuck und Kleidung den zehn Totenbegleitern und den Krüppeln und Narren dienen, welche sogleich mit ihnen angetan und behängt wurden. Nachdem die Fürsten Abschiedsworte an das tote Königspaar gerichtet, traten sie zurück, hockten nieder auf ihre Schemel. Bloß Ohrring-Schlange blieb und begann mit einem Kupferbeil die übrigen Grabgeschenke – Onyxvasen, Obsidianspiegel, Räucherlöffel, Schalen, Flöten aus Jadeit und Kristall – entzweizuschlagen. Was auf Erden nicht mehr brauchbar war, war brauchbar im Lande des Vergessens.

Als Ohrring-Schlange die Zerbrechung der Grabbeigaben vollendet hatte, wurden sie in Kästchen gelegt und den zehn Totenbegleitern in die Hände gegeben, damit sie sie mit forttrügen in die Niederwelt. Nun hob der thronende Überwältiger seine müde Hand und richtete an die vierzig Totenrichter einige Worte, die unverständlich blieben, weil sie so leise gesprochen waren. Ein hinter ihm stehender Hofbeamter wiederholte den Satz des Königs mit weithin schallender Stimme:

»Der Zornige Herr, der abgeschiedene, der ein König der Stadt im Kolbenrohr, der Stadt im Wasser, war, bittet um ein Boot zur Überfahrt über den Schilfsee!«

Eine angstvolle Stille zitterte diesen Worten nach. Nicht verweigert, nicht bewilligt wurde das Boot. Das Schweigen drückte zermalmend auf allen Seelen.

Da traten fünf Götter ins Haus der Fledermäuse – ergrausend wich am Steinportal die Volksmenge vor ihnen auseinander –, und sie kamen auf die Thronsessel zu.


Es waren fünf Priester, welche sich mit heiligen, in Pyramiden von uralters her aufbewahrten Göttertrachten vermummt hatten. Vier von ihnen stellten Himmelsbewohner dar: Tezcatlipoca, Huitzilopochtli, Tlaloc und die mit grünen Jadeitperlen behängte Göttin Sieben-Schlange. Ein fünfter schritt hinter ihnen her in der schauervollen Verlarvung Mictlan-Tecutlis, des Gottes der blauen Hölle. Einen Spiegel und ein Sehwerkzeug trug der schwarze Tetzcatlipoca in der Hand, sein linkes Bein war schwarz bemalt, mit Obsidianmessern war seine dunkle Chamolin-Federkrone besetzt. Huitzilopochtlis Kopfputz bestand aus gelben zusammengeklebten Zacuantoztli-Federn, aus welchen, einem Springquell ähnlich, goldgrün rieselnde Quetzalfedern emporschossen, seine Beine waren blau gestreift, einen Drachen – die Dämonin Obsidianschmetterling – trug er auf dem Rücken, Pfeile ohne Spitzen steckten in seinem mit abgehackten Gliedern bemalten Schild, sein Zepter war der Schlangenstab mit bleckendem Schlangenkopf. Des Zauberprinzen Tlaloc Antlitz und Körper waren mit Kautschuk schwarz überstrichen, in seinem, mit dem Schilf bart umrahmten Munde steckte ihm zwischen den Zähnen ein lebender Frosch, seine Stirne und sein Haar bedeckte die weiße Reiherfederkrone, ein ärmelloses, mit Regentropfen verziertes Hemd trug er und hielt den goldenen Blitz in der einen, den Binsenstab in der andern Hand. Glöckchen und Schellen hatte Sieben-Schlange, die Maisgöttin, an den mit weißen Taubenfedern gebauschten Sandalen, eine Papierkrone auf dem Scheitel, und gelbe Wasserblumen waren auf ihr Obergewand gestickt. Ihr Gesicht leuchtete karminrot geschminkt.

Furchtbar war die Verkleidung des Totengottes Mictlan-Tecutli. Schwarz blinkten zwei kreisrunde Obsidianspiegel aus den Augenhöhlen seiner Skelettmaske, eine Aureole, bestehend aus sieben abgeschnittenen Menschenhänden, rundete sich im Halbkreis von Schläfe zu Schläfe und hob sich grell ab vom emporstarrenden, langen, mit Ruß beschmierten Haar. An den Gelenken des wie ein Gerippe bemalten Körpers, an den Schultern, den Ellenbogen, den Knien und den Knöcheln, wie auch in der Mitte des Bauches, war je ein Totenschädel befestigt mit blinkenden Obsidianspiegeln in den Augenhöhlen. Ein kurzes Frauenröckchen hüllte seine Lenden ein, unterhalb des Röckchens aber hing eine ellenlange tote Giftnatter herab.

Mictlan-Tecutli schwang ein mit Ocker gegilbtes Schüreisen, ließ es durch die Luft sausen und auf die Leiche Montezumas niederfallen. Dreimal schlug er so den toten König, als wäre er sein Knecht, und dann sprach er zu den anderen Göttern:

»Gebt ihn mir heraus! Beeilt euch! Die neunte Hölle erwartet ihn!«

Doch die Götter widersetzten sich. Tezcatlipoca sagte:

»Wenn man mich verunglimpft, weiß ich es denn nicht?«

Huitzilopochtli sagte:

»In meinem Hause war der Feind!«

Die Maisgöttin sagte:

»Um dieses Toten willen verließen uns die sieben Maiskolben und zogen in ihre Heimat!«

Und Tlaloc, der Gewittergott, sprach:

»Mexico wurde verknechtet durch seine Schuld, der die vier Papierfähnchen für die Kinderopfer nicht aufsteckte. Darum weigern wir den Nachen, den der Abgeschiedene erbittet, zur Überfahrt in den Ort des Versunkenseins, ins Quetzalfederhaus.«

Wieder schlug Mictlan-Tecutli die Leiche Montezumas mit dem ockergelben Schüreisen, und er rief:

»Mir gehört er. Gebt ihn mir heraus, daß ich ihn strafe!«

Doch ehe einer der Götter antwortete, sagte der Überwältiger – und sein Herold wiederholte die Worte mit dröhnender Stimme –:

»O ihr Götter, ihr ewigen, im Himmel seid ihr Richter. Und du, Herr der Nebeltoten, bist Richter im Lande, wo es nicht Straßen, nicht Gassen, nicht Fußpfade und nicht Wegweiser gibt. Doch auf Erden ist es der vierzig Totenrichter Amt, den Zornigen Herrn, meinen erhabenen Bruder, freizusprechen oder zu verurteilen. Sagt jetzt, ihr Totenrichter, ob ihr meinem Bruder das Boot zur Überfahrt über den Schilfsee gewährt!«


Wie aus einem Munde erscholl die Antwort der vierzig Totenrichter – ein leises und doch unerschütterliches: »Nein!«


Als der Herabstoßende Adler den stummen Folterschmerz auf dem Gesicht der Königin Maisblüte erblickt hatte, war ihm blitzartig der Gedanke gekommen, daß er, wenn alle schwiegen, sich zum Verteidiger Montezumas aufwerfen und versuchen müsse, den grausamen Urteilsspruch umzustoßen. Doch alsbald hatte er eingesehen, daß er, der noch jüngst den Zornigen Herrn öffentlich eine Memme gescholten und den Stein nach ihm geworfen hatte, weder die Berechtigung noch die Redegabe hatte, das mit lüsternem Schauer dreinschauende und durch eisiges Schweigen das Verdikt gutheißende Volk Mexicos umzustimmen. Selbst der Überwältiger, der jetzige König der Könige, wagte für seinen gerächteten Bruder nicht zu flehen und fügte sich mit düsterer Gelassenheit in das Unabwendbare. Zusammengesunken saß er da. Maisblüte aber thronte neben ihm in königlicher Haltung, den edelschönen Kopf auf dem langen schmalen Halse gleichsam von der Last des Haares ein wenig zurückgebeugt, halb geschlossen, fast schlitzäugig die breiten Lider, tränenlos, regungslos, leblos.

Der Herabstoßende Adler ertrug ihre Pein nicht.

Er trat vor und richtete an niemand und an alle die Frage:

»Wie lange wird der Zornige Herr unbestattet im Hause der Fledermäuse weilen?«

Die Fragestellung verriet, daß er den Urteilsspruch mißbilligte. Ein leises Murren ertönte in der Volksmenge.

Das Mexikaner-Priesterchen beantwortete Guatemocs Frage:

»Bis seine Schuld getilgt ist, wird der Tote unbestattet bleiben, es sei denn, daß die Götter das Blut seiner Wunden grün färben und in Smaragd verwandeln! Wer den Toten früher zu bestatten versucht, stirbt auf der Opferblutschale des Schlangenberges!«

Tezcatlipoca jedoch sagte:

»Wir vernahmen das Wort des Hohenpriesters. Aber noch vernahmen wir nicht das Wort des Herrn der Welt!«

Es war eine Aufforderung an den Überwältiger, sich durch ein Gelübde zu binden, die Bestattung seines Bruders nie zuzulassen, obgleich Montezumas Tochter sein Weib war. Er wußte, daß er die Seele seines Weibes verlor, wenn er sich band, und dennoch band er sich.

Er wiederholte die Worte des Hohenpriesters:

»Wer den Zornigen Herrn bestattet, bevor sein Blut sich grün färbt und sich in Smaragd verwandelt, soll auf der Adlerschale des Schlangenberges enden!«


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