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Nachdem Blutfeuerstein dem Durch-Zauber-Verführenden abgetreten worden war, ließ er sie – denselben Abend noch – heimlich in seinen Palast führen. Heimlich empfing er sie aus Rücksicht auf seine erst vor kurzem ihm angetraute Gemahlin Perlmuschel. Ohne Liebe hatte er die Königin von Yuquane geehelicht und über ihre noch junge Schmach hinweggesehen, um ihr in ihrer Bedrängnis – da die Herrin von Tula und der mexikanische Klerus ihres weißen Kindes wegen sie bezichtigten – eine Freistätte zu bieten. Doch ihr Herz war wurmzerfressen und konnte nicht wieder aufblühen. Sie war eine Gebrochene, unvermögend, an ihm sich aufzurichten. Wenn er sie sah, fühlte er sich von der Liebesgöttin, der Weberin, nicht umsponnen. Freilich, selbst ohne Liebe liebte er Perlmuschel, alter Freundschaft eingedenk, und räumte ihr Steine aus dem Wege. Wie andere Könige, besaß auch er Kebsweiber und spielte mit ihnen ohne Heimlichtuerei, aber Blutfeuerstein war kein Spiel für ihn, ihr war er verfallen, die unsichtbaren, unzerreißbaren Fäden der Göttin Xochiquetzal umknüpften sie und ihn. Und das wollte er Perlmuschel nicht antun, daß sie von der Liebesnacht erführe, die er mit der unruhvoll Herbeigesehnten zu verbringen gedachte.

Das Gemach, wo er sie empfing, war sein Amoxcalli, seine Bibliothek. Zwischen hohen Reliefpfeilern gähnten offene Wandschränke aus rötlichem Schlangenholz, angefüllt mit buntfarbigen Bilderhandschriften. Türlos, nur durch einen Korallenvorhang abgetrennt, schloß sich an der einen Schmalseite des Raumes eine Schlafkammer an, wo ein mit milchweißen, seidigen, aus Kaninchenhaaren gewebten Decken überhülltes Bett stand. Ellenhohe Harzkerzen flackerten in zweiarmigen Goldleuchtern. Aus Räuchergefäßen stiegen blaue Rauchfäden auf.

Die Diener, von welchen Blutfeuerstein hereingeführt wurde, hatten sich entfernt, der Jüngling und das Mädchen waren allein geblieben. Beklemmend senkte sich die Überlast des wonnestummen Augenblicks auf sie beide hernieder. Die Fäden der Göttin der Blumen hatten auch des Mädchens Herz umgarnt, seit sie von ihm der Opferschale des Smaragdenen Frosches entrissen worden war. Und weil sie ihn liebte, zitterte sie für ihn und ergrauste vor dem Gewitter in der eigenen Brust ...

Wortlos, kaum fähig, sich aufrecht zu halten, lehnte sie an einem der Steinpfeiler, blickte ihn flehend und verloren an. Auch er stand angewurzelt da, wenige Schritt von ihr, schön wie einer der jungen Sterngötter. Erst jetzt kam ihr zum Bewußtsein, wie außerordentlich schön er war, und noch unbändiger mußte sie sich gegen die Lockung ihrer Sehnsucht wahren.

Der Durch-Zauber-Verführende überwand seine Scheu, trat an sie heran, faßte sie am Handgelenk. Doch ließ er ihr Handgelenk wieder los, als hätte er in Dornen gegriffen.

»Wie du bebst, Mädchen!« flüsterte er. »Warum fürchtest du mich so?«

»Nopiltzine (o mein Herr), ich fürchte dich nicht ...«

»Was ängstigt dich so, Mädchen?«

»Die Wunde deines Blickes, o mein Herr!«

»Mein Blick ward wund durch deine Schönheit, Kind!«

»Lösche die Harzkerzen aus, o mein Herr, damit ich dir grau und häßlich erscheine!«

Er lachte.

»Das Feuer deiner Lippen würde mit den Kerzen nicht verloschen, Mädchen. Deine sengenden Äugen würden noch blitzender strahlen. Die Nacht hellt ja auch die Sterne. Eine einzige Blüte der weißen Herzblume vermag alle Säle und Kammern eines großen Palastes zu durchduften. So durchscheint dein Jaspisgesicht meinen Tecpan, wärst du auch nicht beschienen!«

Sie antwortete nichts. Deutlich hörte er das Hämmern ihres Blutes. Ihr Busen flatterte.

Da führte er sie zu einer Binsenmatte, auf welcher zwischen zwei niedrigen Schemeln allerhand Maiskuchen, Früchte und süße Kräutertränke bereitgestellt waren. Einander gegenüber hockten sie nieder. Sie aß schwarze Trauben, »Mütterchens Obst« und Ananasscheiben, die er ihr reichte. Aber vom Honigwein und den Kräutertränken wollte sie nicht nippen. Er mußte sie überreden, sie zwingen. Nachdem sie getrunken hatte, schien sie weniger befangen.

»Weißt du, wer zuerst berauschende Getränke gebraut hat? fragte er sie.

Sie wußte es nicht. Da schlug er eine Bilderhandschrift auf und las ihr die Geschichte von der Bereitung des ersten Rauschtrankes vor.

Vor Jahrhunderten war es geschehen. Ein armer Töpfer hatte nach einem Sturm bemerkt, daß eine auf dem Dach seines Häuschens wachsende Agavepflanze von den Pfeilen des Windes verwundet worden war und blutete. Voll Mitleid riß er einen Zipfel seines Mantels ab, die Pfanzenwunde damit zu verbinden, und er fing in ein irdenes Gefäß, das er von der Töpferscheibe nahm, das rinnende weiße Blut der Agave auf. Darum beschloß Mayauel, die Göttin der Agavepflanze, ihn zu belohnen. Sie ließ den Saft im Gefäße gären, trat aus der Pflanze heraus und forderte ihn auf, ihr Blut zu trinken. Und als er berauscht war, führte sie ihn durch die neun unteren Himmel: den roten Himmel, den gelben Himmel, den weißen Himmel, den rosigen Himmel, den grünen Himmel, den blauschwarzen Himmel, den Himmel der Mutter, den Himmel der glänzenden Greisin, den Steinhimmel. So beglückt kehrte er auf die Blumenerde zurück, daß er meinte, sein Trank sei wert, vom König des Landes genossen zu werden. Doch wie sollte er, ein armer Handwerker, in den großen Palast gelangen! Er hatte eine wunderschöne Tochter, und ihr übergab er das Gefäß, daß sie es dem König bringe. Sobald die Torhüter die bettelhaft Gekleidete vor den silbernen Thron geleitet hatten und der König an ihrem Liebreiz Feuer fing, entließ er sein Gefolge und sprach allein mit ihr. »Was bringst du mir im Topf?« fragte er sie. »Das höchste Glück dieser Blumenwelt!« erwiderte sie. Da sagte der König: »Wenn du die Wahrheit sprachst, werde ich deinen Vater reich machen, wenn du aber logst, sollt ihr beide sterben!« Und er schlürfte ein wenig vom Rauschtrank, fand ihn jedoch nicht so süß, wie das Mädchen ihn gepriesen hatte – denn Mayauel führte ihn nicht sogleich durch den roten, den gelben, den weißen, den rosigen, den grünen und den blauschwarzen Himmel ... »Du mußt sterben, schönes Mädchen«, sagte er, »denn du gibst mir nicht, was du versprachst!« – »Ich versprach dir Rausch, o edler König, doch du trankst zuwenig!« Da schlürfte er das Gefäß aus, wurde trunken und sagte: »Nicht der Saft berauscht mich, sondern du! Versprochen hast du mir das höchste Glück der Blumenwelt – und das bist du!« Und er befahl ihr, sich zu entkleiden. Als sie ihre Schulterdecke abnahm, als er ihre braunen jungen Brüste sah, rief er: »Deine Brüste lächeln! So süß lächelt nichts in der Blumenwelt! Laß mich mehr sehen!« Nun ließ sie auch ihr Hüfttuch zu Boden gleiten. Und als er Nabel und Hüfte und Schoß und die schlanken zartgeschweiften Schenkel gewahrte, wurde er von den Pulque-Göttern entführt, durch alle farbigen Himmel geführt, den Himmel der Mutter, den Himmel der glänzenden Greisin, den Steinhimmel bis hinauf in den letzten, den dreizehnten Himmel, wo karminrote Falter und Schwirrvögel in den Gärten der Liebesgöttin Xochiquetzal von Blumen trinkend flattern ... Tags darauf ernannte der König den armen Töpfer zum Vorsteher des Hauses der Teppiche. Die Tochter des Töpfers aber zierte er mit dem blauen Stirnband.

Nachdem der Durch-Zauber-Verführende die Erzählung gelesen hatte, blickte er lange Zeit stumm verlegen vor sich hin. Auch Blutfeuersteins durch den Honigwein enthemmte zaghafte Zutraulichkeit zog sich verschüchtert ein. Wie ein listiger Kuppler hatte das Buch Scham und Sehnsucht angefacht. Blutfeuerstein fühlte, daß sogar die Stummheit zur Kupplerin werden wollte, doch sie fand die Worte nicht, die sie hätten erlösen können.

Der Durch-Zauber-Verführende erhob sich und legte die Bilderhandschrift auf den Bord der Hirschhautpergamente. Als er zu seinem Schemel zurückkehren wollte, sah er, daß Blutfeuerstein sich gleichfalls erhoben hatte und zur Tür geschlichen war. Mit einem Sprung war er an ihrer Seite und hielt sie, wie man einen erhaschten Vogel hält.

»Bleibe, Mädchen! Ich lasse dich nicht! Mayauel, die Vierhundertbrüstige, hat unsere Schalen mit ihrem Feuertrank gefüllt! Trinke auch du die Schale aus – kränke die Göttin nicht!«

Und er hielt ihr die Schale an den Mund. Sie trank sie leer.

»Du bist der Rausch, du bist das höchste Glück dieser Blumenwelt! Entkleide dich!« drängte er. Und er zog sie zur Schlafkammer hin, zum Bett mit den milchweißen Decken aus seidigem Kaninchenhaar.

Sie entriß sich seinen Händen, warf sich weinend neben dem Bette nieder.

»Rühre mich nicht an! Küsse mich nicht! Meine Küsse morden! ...«

Sie schrie, sie verbarg laut aufschluchzend den Kopf in den Kissen.

»Warum liebst du mich nicht?« stöhnte er.

»Weil ich dich liebe, will ich dich nicht verderben!«

»Ich fürchte deine Lippen nicht, mag ihr Lächeln zur Obsidianhölle führen und zum Ort der schießenden Pfeile ...!«

»Du weißt nicht, wer ich bin!« kreischte sie. Und da er sie zu umschlingen suchte, entwand sie sich blitzschnell und flüchtete aus dem halbdunklen Schlafraum zurück ins helle Licht der Kerzen.

Auf der Binsenmatte hockte sie nieder, das Gesicht mit ihren schmerzzerwühlten Haarsträhnen verhüllt. Taumelnd war er ihr gefolgt. Sie hieß ihn ihr gegenüber kauern: sie wolle ihm erzählen, wer sie sei.

Und sie zeigte ihm die Narben ihrer Seele. Edelbürtig, als Kind geraubt, wurde sie auf dem Sklavenmarkt von der Blaubemalten gekauft. Ihrer Zierlichkeit wegen beschloß die Blaubemalte, sie zu einem Giftmädchen zu machen – wie jenes war, durch welches König Kreideweiß umkam. Sie lehrte sie Bilderlesen und Bilderschreiben, Flötenspiel und alle verruchten Künste der Liebe. Und sie gewöhnte sie an Gifte, nährte sie mit Giften, bis alle Adern ihres Leibes, der Speichel ihres Mundes und selbst ihr Atem unheilbringend wurden. Damit begnügte sich die Blaubemalte nicht: sie bohrte ihr kleine Löcher in die Zähne und füllte sie aus mit dem tödlichsten aller Pfeilgifte, das langsam schmelzend erst nach Jahren seine Wirkung verliert. Zur Hure und zur Mörderin wurde sie erzogen, die sie ein Fürstenkind gewesen war ...

Seine Augen füllten sich mit Tränen. Qualverzerrt war sein Gesicht. Er streckte die hagere rotgefärbte – an den Fingernägeln schneeweiß bemalte – Hand aus und strich ihr zart über das Haar.

»Du bist schuldlos, du arme dunkle Schmuckfeder! Und nun liebe ich dich noch mehr als zuvor!«

Sie zuckte zusammen, als schaudere ihr vor dem unverbannbaren Glück.

»Schicke mich zum Smaragdenen Frosch, o mein Herr! Mache ein Ende mit mir! ...«

Er schüttelte wehmütig den Kopf.

»Ich kann nicht! ... Ich kann dich nicht lassen, Blutfeuerstein! Muß ich auch auf deinen Mund und deinen Leib verzichten – auf deine Augen kann ich nicht verzichten! ... Alle dreizehn Himmel sind in deinen schwarzen Augen und die Gärten der Göttin Xochiquetzal, wo die karminroten Falter und Schwirrvögel an Lilien saugend flattern!«

Stumm erhob sie sich und ging hinter den Korallenvorhang in die Schlafkammer. Jählings riß sie sich einen silbernen Kamm aus dem Haar und stach sich beide Augen aus.

Er war angstbeklommen ihr gefolgt, obgleich er ihre Absicht nicht ahnen konnte. Noch ehe er das Schlafgemach erreichte, trat sie aus dem Korallenvorhang hervor.

Zwei rote Bäche rieselten über ihre Wangen.

Da brüllte er auf wie ein speerverletzter Puma.

»Ich befreite dich von meinen Augen, o mein Herr!« sagte Blutfeuerstein. Und Seligkeit jubelte in ihrer Stimme.

Gleich darauf trat – angelockt durch das Gebrüll des Königs – Perlmuschel in das Gemach. Sie sah und begriff. Und sie verband die Augen des blinden Mädchens.


Nach Sonnenaufgang begab sich der Durch-Zauber-Verführende in das Tecutla toloya – den großen Gerichtssaal Tenuchtitlans – und erbat sich die Begleitung eines das Steinbeil, das Wahrzeichen der Gerechtigkeit, tragenden Richters und mehrerer seiner Kaktus-Adler (so wurden die Diener des Gerichtes, die Büttel, bezeichnet). Obgleich wenig Aussicht war, die Blaubemalte zu überrumpeln, sollte wenigstens der Versuch gemacht und ihr Haus durchsucht werden. Man fand sie – wie vorauszusehen war – in ihrem Hause nicht, wohl aber alles Gerät ihres schändlichen Gewerbes und auch sechshundert goldgrüne, anderthalb Ellen lange Quetzalfedern, die ihr als Kaufpreis für Blutfeuerstein gezahlt worden waren.

Der Durch-Zauber-Verführende suchte sodann im Huei-Tecpan den Herabstoßenden Adler auf. Dieser, mit einem türkisenen Nasenpfeil und einer kegelförmigen goldenen Mitra geschmückt, stand neben Ohrring-Schlange auf dem Altan des Palastturmes (von welchem aus Montezuma zum empörten Volke geredet hatte, als ihn sein, des Herabstoßenden Adlers, Steinwurf an der Schläfe traf), auch der Wurfspieß – der jüngst ernannte Weibliche Zwilling – und der Steinpfeiler – der Vorsteher des Hauses der Speere – waren den Turm emporgestiegen. Sie ließen ihre spähenden Augen über die goldglitzernde Lagune schweifen und berieten über eine soeben von Kundschaftern erstattete Meldung: daß nämlich elf von den Brigantinen noch im Hafen von Tezcuco zurückgehalten und mit Takelwerk versehen würden, während zwei ausgelaufen seien, scheinbar in der Absicht, sich im südlichen Teile des Schilfsees der kleinen Tempelinsel zu bemächtigen.

Die große Pyramide Huitzilopochtlis ragte wie eine Wand vor dem Altan, Tezcuco und die jenseitige Küste fast ganz verdeckend, ließ aber die Fernsicht auf die südliche Lagune frei. Die angekündigten beiden Wasserhäuser tauchten jetzt im rötlichen Steinrande der vierten Schlangenbergterrasse blütenweiß in der flirrenden, tänzelnden Sonnenspiegelung der Azurflut auf, schneckenträge gleitend, durchsichtig wie aus Dunst gewoben, durch die Entfernung verkleinert und verlangsamt.

Der Weibliche Zwilling riet, tausend bemannte Boote daran zu wagen, die Wasserhäuser zu umringen und mit Brandfackeln zu bewerfen.

Blitz und Donner seien auf den Wasserhäusern, hielt ihm Guatemoc entgegen.

Auch wenn die Boote verlorengingen – fuhr der Wurfspieß fort –, würde die Vertilgung der zwei Wasserhäuser das Opfer wert sein.

Der Steinpfeiler widersprach: Auch wenn es gelänge, würde es schädliche Folgen haben. Die Gelbgesichtigen würden aus ihrem Mißgeschick lernen, die übrigen elf Wasserhäuser unerreichbar zu machen. Einem Tausendfuß zwei Brustringe abzuschneiden, sei zwecklos. Darum rate er, abzuwarten, bis alle dreizehn Wasserhäuser sich dem Angriff böten. Zum Angriff aber müsse man einen windstillen Tag wählen, wenn die großen weißen Tücher schlapp herabhingen, dann würden die Angegriffenen sein wie Möwen mit gebrochenen Flügeln, unfähig auszuweichen oder zu fliehen.

Ohrring-Schlange und der Durch-Zauber-Verführende stimmten ihm zu. Düster sagte der Herabstoßende Adler:

»Nicht kämpfen ist schwerer als kämpfen!«

»O mein Bruder«, lächelte Ohrring-Schlange, »sind deine Sendlinge nicht unterwegs nach Guatemala, Yucatan, Matlatzinco und Michuacan? Nicht kämpfen ist besser als kämpfen, solange der Sieg versagt ist. Kommt aber der Tag der Freundeshilfe und der Tag der Windstille, so werden wir den Altar der perlengekleideten Göttin mit rotem Edelsteinwasser begießen, auf daß sie mit ihren Gespielinnen, den Seejungfrauen, die Gelbhaarigen in eine Wolke dichter Sprühnebel hüllt!«

Der Herabstoßende Adler nickte. Und er wies den Steinpfeiler an, die mexikanische Einbaumflotte bereit zu halten. Er wolle, so schwer es auch sei, einstweilen untätig zuschauen und nur dann in einen Kampf sich einlassen, falls die Wasserhäuser sich Tenuchtitlan auf Schußweite nähern sollten.

Der Steinpfeiler und der Wurfspieß stiegen die Turmtreppe hinab, Anordnungen zu treffen und durch ihre Gegenwart die Kampflust der Unterfeldherren zu zügeln. Kaum hatten sie sich entfernt, als Ohrring-Schlange überrascht nach Norden zeigte. Aus Tlatelolco, dem nördlichen Stadtviertel Tenuchtitlans, schwärmte eben eine Flotte von einigen hundert Einbäumen aus. Sie verschwand hinter den Steinmassen des Schlangenberges. Es war klar, daß die jungen Krieger Tlatelolcos, ohne die Befehle des Oberfeldherrn abzuwarten, eigenmächtig die Brigantinen überfallen wollten.

Wütend stampfte der Herabstoßende Adler auf den Boden des Altans, so daß die Goldschellen an seinen Wadenringen schrill, gleichsam rieselnd, erklirrten.

»Tlatelolco will es wieder Tenuchtitlan zuvortun! O die Affen!« knirschte er.

Sogleich erbot sich Ohrring-Schlange, hinabzueilen und durch Schnellruderer – wenn noch möglich – die Tlatelolcos von der unsinnigen Tat zurückzuhalten.


Allein geblieben auf dem Turm waren die Könige von Mexico und Tlacopan. Die fernen dunstsilbernen Brigantinen – von ihren Falkenblicken immerwährend verfolgt – schienen sich nur wenig südwärts fortbewegt zu haben. Die kleine Flotte aus Tlatelolco war durch den riesigen Stufentempel verdeckt, und ehe sie wieder sichtbar werden konnte, mochte noch viel Zeit vergehen.

Die beiden jungen Könige plauderten. Der Durch-Zauber-Verführende brachte jetzt vor, was die erregenden Ereignisse dieses Morgens ihn bisher gehindert hatten, dem Freunde mitzuteilen. Kaum aber hatte er den Namen Blutfeuerstein genannt, als der Herabstoßende Adler ihn mit ernster Miene unterbrach:

»O mein Bruder! Als der Zornige Herr gefangen war, fuhrst du mit Sängerinnen und Tanzhausbewohnerinnen aufschwimmenden Gärten! Wir andern zittern heute für das Leben der Königin aller Städte – du aber denkst an Liebesnächte und opferst der Göttin der Blumen wie ein erglühter Knabe! Wann wirst du ein Mann werden? Wann wirst du dich sehnen nach den Schildblumen und den Pfeilblumen, wann wirst du dich am Trinkschalenlied der Schlachten berauschen?«

Ungekränkt, unverwundbar in seinem heiteren Gegengefühl, erwiderte der Durch-Zauber-Verführende:

»O mein Bruder! Der Mond wird mählich rund, eine Sternschnuppe aber rundet sich im Augenblicke ihres Falles. Du gleichst dem Monde – ich gleiche der Sternschnuppe: ich werde ein Tapferer sein, wenn ich fallen muß. Soll ich heulen wie ein Schakal, weil ich fallen muß? Uns alle umflattert der Fledermausgott, wir alle müssen einst den Messerberg ersteigen und durch die zusammenschlagenden Felsen hindurchgehen! ...«

Und unbeirrt fuhr er in seinem Bericht fort. Denn was er zu sagen hatte, ging den Thron Mexicos an: ein Drachennest war aufgedeckt: bodenloser Haß lag zutage, sichtbar, doch ungreifbar. Noch kannte man die Hasser nicht.

Eine verschleierte Edelfrau und ein mit einer Tanzmaske vermummter Mann hatten im Hause der Blaubemalten Blutfeuerstein für den Preis von sechshundert Quetzalfedern erstanden, gewillt, am Herrn der Welt das gleiche Verbrechen zu begehen, wie es schon einmal, vor Jahrzehnten, am König Kreideweiß begangen worden war. Die Giftmischerin entkam dem Richter mit dem Steinbeil und den Kaktus-Adlern – sonst hätten Feuerzangen ihr die geheimnisvollen Namen entrissen. Blutfeuerstein war außerstande, die beiden Mörder zu nennen oder zu beschreiben: ihre Gesichter hatte sie nicht erblickt. Sie am Gang, an der Körperhaltung, an den Gebärden zu erkennen, war ihr, nachdem sie sich geblendet hatte, versagt. Bloß ein Erkennungsmittel war ihr geblieben: die Stimmen der Verbrecher. Hatte doch der Mensch mit der Tanzmaske – obgleich seit der Nacht des Sklavenauszuges die Wohnung der Giftmischerin von ihm nicht wieder betreten worden war – mehrmals letzthin heimliche Zusammenkünfte im Hause der Fledermäuse gehabt: seine Sprechweise war Blutfeuerstein vertraut, die von ihrer Kammer aus zwar nicht die Worte, deutlich aber die Stimmen der auf der Leichenstätte Sprechenden unterscheiden konnte ...

»Sie werden dort wieder zusammenkommen!« sagte der Herabstoßende Adler, »Gespenster und Mörder kehren immer wieder!«

»Wir werden weiterforschen. Die Blinde wird uns sehen helfen. Wenn erst ihre blutenden Augen vernarbten ...«

Der Durch-Zauber-Verführende verstummte. Denn Ohrring-Schlange war den Turm wieder emporgestiegen und meldete erregt, daß die Einbäume von Tlatelolco einen zu großen Vorsprung hatten und nicht mehr zurückgerufen werden konnten.

Und eben jetzt wurde die kleine Bootsflotte rechts vom Schlangenberg in bläulicher Ferne, dicht bei den Brigantinen, sichtbar. Das Getöse eines Kanonenschusses rollte über die Seefläche. Dann Schuß auf Schuß. Die Schiffe entschwanden im Pulverdampf. Der Wind wälzte die dicke Rauchwolke über die Einbäume. Als der Rauch sich verzogen hatte, war Tlatelolcos Flotte vom See verschlungen. Wie Pflüge in Erdschollen waren die beiden Schiffe in die enggedrängten Boote hineingefahren: das Werk der Feuerwaffen vollendeten die Schiffsschnäbel. Siegesstolz segelten die Brigantinen nordwärts nach Tezcuco.


Erst tags zuvor war der große Bußgang des verschreckten Volkes durch die Gassen und über die Kanalbrücken heulend gerast. Die Erregung hatte sich zur Selbstpeinigung gesteigert: Tannenzweige, durchnäßt von Kasteiungsblut, lagen haushoch geschichtet vor Tezcatlipocas Dornenheiligtum. Die Erregung war im künstlich entfachten Volkswahnsinn ausgebrannt, schwelte aber noch in den Gemütern und verwandelte sich jäh in Wut, als bekannt wurde, daß die erste Seeschlacht infolge des Ungehorsams der jungen Krieger Tlatelolcos verloren wurde.

Tlatelolco – einst die Schwesterstadt Tenuchtitlans – hatte ein eigenes Heer. Seitdem unter der Regierung des Königs Molch Kaufleute aus Tlatelolco, an die pazifische Küste bis nach Tehuantepec vordringend (wo sie mexikanische Webereien gegen Türkisvögel eintauschten), sich zur Wehr setzen mußten und nach mehrjährigem Kampfe die Provinz Ayotlan dem Drei-Städte-Bund einverleibten, war ihnen das Privileg erteilt worden, Waffen zu führen (obzwar sie der Kriegerkaste nicht angehörten), aus ihren Reihen eine Mannschaft aufzustellen und sogar ein Tanzhaus für ihre jungen Krieger zu erbauen.

Gemeinsam hatten in sagenumwobener Vorzeit die Tlatelolcos und die Tenuchcas auf zwei sandigen Laguneninseln Tlatelolco und Tenuchtitlan gegründet, und eine nie abreißende Kette von Neid und Mißgunst knüpfte sie von Anbeginn aneinander. Bereits früher noch, bei der Wanderung aus dem Reiherlande Aztlan, waren von den Stämmen der Aztlaneken (oder der Azteken, der Reihermenschen) unter einem geknickten Baume zwei Kästchen gefunden worden, die sie öffneten: in dem einen lag ein Smaragd, und alsbald begannen sechs Stämme Streit um ihn, – in dem andern lagen zwei Stäbe zum Feuerreiben, und nur der Stamm der Tenuchcas legte Wert auf deren Besitz. Entzweit, in zwei Haufen geteilt, setzten sie ihre Wanderung fort. Die Besitzer der Feuerstäbe wurden die Gründer Mexico-Tenuchtitlans, die Erbauer Tlatelolcos aber besaßen den Smaragd und nannten sich die Adligen.

Sie fühlten sich als die Adligen, auch nachdem Tenuchtitlans Adelsschaft die Welt beherrschte, ihr emsig durch Handel erworbener Wohlstand – dessen Symbol der Smaragd im Kästchen war – wurde durch Tenuchtitlans räuberhaft errafften Reichtum in den Schatten gestellt, sie dünkten sich mehr zu sein als die Tenuchcas und waren ihnen Untertan. Im einstigen Königspalast des Dornenreichen Baumes, des letzten Königs von Tlatelolco – den sein Schwager, der grausame König Wassergesicht, auf dem Marktplatz besiegt und auf der obersten Terrasse der rosenroten Pyramide Tlatelolcos überwältigt hatte –, verbrachte bis zur Nacht der Schrecken Prinzessin Papan, Montezumas geisteskranke Schwester, ihre lichtlosen Tage. Die Residenz hochgemuter Könige war nur noch ein Stadtteil Tenuchtitlans.


Der Unmut der Mexikaner wegen der verlorenen Seeschlacht richtete sich besonders gegen die begüterten Händler. Drohworte wurden laut. Es stand zu befürchten, daß die erbitterte Menge in die palastähnlichen Häuser der Kaufmannschaft Tlatelolcos eindringen werde. Dazu kam es indes nicht. Die Rachegier wurde in andere Bahnen geleitet durch den Einfluß, den ein Mann namens Tlotli, »der Sperber«, über das Volk gewann.

Er gehörte zur Händlergilde Tlatelolcos, war jedoch ein Mexikaner und bewohnte in Tenuchtitlan einen Prachtpalast. Von niederer Herkunft war er, ein Emporkömmling: seine Wiege hatte in der Gasse der Federarbeiterinnen gestanden, sein Vater war deren Nachbar, der alte Obsidianmesser-Arbeiter, bei welchem einst Ohrring-Schlange – nach der Fahrt auf dem schwimmenden Garten und der Verletzung des Edlen Traurigen – Zuflucht vor Montezumas Groll gefunden hatte. Aus tiefster Armut hatte sich der Sohn des Arbeiters zu Wohlstand und Ansehen emporgearbeitet, seine Handelskarawanen zogen über alle Grenzen Anahuacs.

Die Armen verehrten ihn, weil er wohltätig war, die Reichen, weil er reich war. Das Volk hörte auf ihn, weil er aus dem Volke stammte und die Sprache des schlichten Mannes sprach. Den Mexikanern galt er als einer der Ihren und ebenso den Bewohnern Tlatelolcos.

Wenn einer, so war er befähigt, vermittelnd Bruderzwist zu verhüten.

Doch er krankte an Ehrgeiz. Hochgestellte Priester besuchten ihn; – er war, wie alle Kaufleute, überaus fromm, und freigebiger noch als seine Standesgenossen beschenkte er die Teocalli. Geschmeichelt durch das Vertrauen des Klerus, hielt er sich für berufen, die Zwecke und Ziele der opferheischenden Götter und ihrer schwarz geschminkten Dienerschaft zu verfechten. So wurde er zum Gegner des Königshauses und des Adels, weil neuerdings zwischen dem Huei-Tecpan und dem Schlangenberg wenig Gleichklang herrschte.

Er brachte die Meinung unter das Volk, daß die jüngste Niederlage eine Strafe der himmlischen Richter sei. Erzürnt seien sie über den Trotz der Königin Perlmuschel und über den Beistand, den ihr die Könige des Drei-Städte-Bundes gewährten. Das Verschulden der Kaufmannschaft sei gering, das Verschulden des Königtums übergroß. Der Herabstoßende Adler gefährde Tenuchtitlan, indem er den Widerstand gegen die Befehle des Mexikaner-Priesterchens dulde und auf der Tötung des weißen Kindes nicht bestünde.


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