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Der Königin Acatlan, dem Edlen Traurigen und den anderen hochgefürsteten Toten wurde die Oberfahrt nicht verweigert. Sie wurden mit heiligem Erdpech einbalsamiert, mit blauen Stirnbinden gekrönt und, nachdem sie so in den Rang von Gottheiten erhöht waren, von den Großen des Reiches auf Tragsesseln aus dem Leichenhof hinaus und durch die Stadt getragen, erst im Tlacochcalli – dem Speerhause oder Arsenal – und dann zu Füßen des Huitzilopochtli-Bildes auf dem Menschenwürgeplatz der Großen Pyramide niedergestellt, beräuchert, angesungen und schließlich zur Lagune gebracht, wo der Totennachen ihrer harrte.

Auch die Totenbegleiter harrten ihrer bereits im Lande des Versunkenseins. Doch Montezumas Krüppel und Narren entgingen dank seiner Verurteilung dem Tod.


In der darauffolgenden Nacht verließ Königin Maisblüte bald nach dem Erdröhnen der großen Tempeltrommel ihr einsames Lager und trat hinaus in den Schloßgarten. Ihr Gemahl, der Überwältiger, weilte fern im Speerhause, wo er letzte Anordnungen traf, die Kriegsausrüstung besichtigte und der Verteilung von Pfeilen, Lanzen und Wurfbrettern an die hunderttausend Schildträger beiwohnte, deren Aufbruch bei Sonnenaufgang erfolgen sollte. Mehrere Oberfeldherren im Range von Vorstehern des Hauses der Spiegelschlange standen bei ihm, berieten mit ihm, entwarfen mit ihm den Feldzugsplan. Schon die vierte Nacht machte er so zum Tage, mit starkem Willen seine Müdigkeit niederzwingend wie ebenfalls den Schmerz seiner nie heilenden Beinwunde, die das Pfeilgift eines südlichen Volkes ihm verursacht hatte.

Maisblüte empfand es bitter, daß er auch heute sich die Muße für ein Zusammensein mit ihr nicht gönnte und – offenbar im Bewußtsein seiner Schuld gegen sie – es vermied, ihr Auge in Auge gegenüberzutreten. Sie hatte gehofft, ihn in der Nacht sprechen, ihr volles Herz ausschütten, ihn zur Rede stellen zu können wegen seines unrühmlichen Verrates an den Manen Montezumas. Und doch mußte sie sich sagen, daß ihr Groll gegen ihn nichts anderes war als ihr eigener Selbstvorwurf. Im Haus der Fledermäuse hatte sie geschwiegen wie er, statt den Priestern und dem Volk entgegenzuschreien, daß kein angedrohter Tod sie hindern könne, die Ehrfurchtspfiicht gegen ihren Vater zu erfüllen. Noch war kein Entschluß gereift in ihr, noch sah sie die Richtung nicht, die der Wirbelsturm in ihrem Innern nehmen werde – aber reif, überreif war ihr Lebensüberdruß, war ihre wehmütige, sanft tönende Todessehnsucht.

Ihre Frauen, die ihr in den Garten des Huei-Tecpan folgen wollten, hieß sie am Palasttor zurückbleiben, und sie schritt allein der Lagune zu. Sie kam am kleinen teichartigen Bootshafen und der Steinbrüstung vorbei, wo sie den knabengesichtägen Ruderknecht des Vom-Himmel-Gestiegenen küssend erdolcht hatte. Kein Reuegefühl weckte die Erinnerung an die Tat: der Verschwörer in Tezcotzinco wegen, deren einer der Herabstofiende Adler gewesen war, hatte sie dem Knaben den Mund für immer geschlossen ...

Ohne Mauer glitt der Garten sanft in die Lagune hinab. Das niedrige Ufer war felsig. Eine Treppe aus gelbem, weinrot geflecktem Onyx führte hinunter in die nachtblauen Gefilde des Königs der Fische.

Auf einer der glitzernd umplätscherten Treppenstufen blieb Maisblüte stehen, und blicklos blickte sie ins Grenzenlose über die finstere, sich wellende Schilfseefläche hinweg. Sie beachtete es nicht, daß ihre mit Facetten von Türkis und schwarzem Spiegelstein ausgelegten Sandalen sich näßten. Der Widerschein der blinkenden Mondsichel – dünn wie ein gebogener metallischer Faden über den Schneebrüsten der Weißen Frau – bildete eine meilenlange, schwankende Silberstange auf dem Wasser, – doch Maisblüte sah es nicht, und sie sah auch über dem Rauchenden Berge den blaßroten Rauchfaden nicht, dessen Abbild in der Lagune sich bauschend schlängelte. Auf innere Gesichte waren ihre Augen gerichtet, und tief bedrückt lauschte sie der leise klagenden Stimme des Beraters in ihrem Herzen. Sie konnte seine Mahnung nicht verstehen, aber sie wußte, daß sie ausführen werde, was auch immer er rate.

Allmählich senkten sich ihre Blicke, versanken im tiefen Wellengrunde, als sehnten sie sich nach den Wohnstätten der Acihuatin, der Wassermädchen.

Und plötzlich wurden ihre Augen sehend. Einen herannahenden weißen Lichtschimmer gewahrte sie unterhalb des Wassers. Des Mondes gespiegelte Silberstange verblaßte vor diesem neuen Lichtschein. Näher und immer näher sah sie es herankommen, und bald konnte sie unterscheiden, was der weißliche Glimmer war. Eine große königliche Galeere schwamm dort in der Seetiefe, und sie war bemannt mir Gespenstern. Tote Ruderknechte mit schönen Knabengesichtern ruderten, tote Hauserleuchter hielten Fackeln aus Perlmutter, deren milchiges Licht die Galeere erhellte. Vorn am Steven des Geisterschiffes aber hockte auf einem geschnitzten Holzstuhl ihr Vater, der Zornige Herr.

Auf dem Stuhl, den kein Jaguarfell bedeckte, hockte er nackt, aller seiner königlichen Insignien entkleidet, so wie sie ihn tags zuvor erblickt hatte, als er aus dem Mumienbündel herausgewickelt worden war. Er winkte ihr und zeigte mit der Hand auf die Erdrosselungsmale an seinem Halse und auf die langen blutigen Striemen an seinem Körper. Da sah sie, daß seine Wunden sich grün gefärbt, daß sein Blut sich in Smaragd verwandelt hatte. Und sie sah, daß er den Mund öffnete und zu ihr sprach. Doch bevor sie eines seiner Worte erhaschen konnte, war die Galeere vorbeigeschwommen und schwand einem Riesenfisch gleich in der blauen Wasserfinsternis.

Maisblüte sank ohnmächtig auf der Steintreppe hin. Lange Zeit lag sie, der Sinne beraubt, bis an den Gürtel in den sanft sie umschmeichelnden Wellen.


Als sie erwachte, befand sie sich auf einer Rasenfläche unweit des Ufers, und neben ihr kniete besorgt der Alte Wickelbär.

Im Begriffe, nach Iztapalapan zu rudern, um sich dem nach Chalco ziehenden Herabstoßenden Adler anzuschließen, war der Zauberer am Garten des Huei-Tecpan vorbeigekommen, hatte Maisblüte, ein Spiel der Wellen, erblickt, hatte sie aus dem Wasser gezogen und aufs Gras gebettet.

Nachdem sie zu sich gekommen war, stellte er voll Besorgnis Fragen, und sie gab ihm ohne Hinterhalt Auskunft. Als sie die unter Wasser schwimmende lichterhellte Galeere und ihres Vaters Schauererscheinung beschrieben hatte, sagte der Alte Wickelbär:

»O Königin! Eine schwere Last legen dir die Sterngötter auf den Rücken. Denn von den Sterngöttern ward dir dieser Traum gesandt I«

Demütig erwiderte Maisblüte:

»Wer bin ich, daß der Himmel mich zur Blume macht? daß der Himmel mich aufknospen macht? Doch ich bin bereit I Morgen werde ich es tun!«

Der Zauberer erschrak, mitleidsvoll blickte er sie an.

»O meine Tochter, warte noch – bis die Zeit Blut in Smaragd verwandelt!«

Maisblüte schüttelte unwillig den Kopf.

»Seine Wunden waren grün!« sagte sie. »Meine Augen sahen es!«

»O meine Tochter, du reiche Kotinga-Feder! Nur deine Augen sahen es! Warte, bis es alle sehen! Auch das Volk Mexicos hat Wunden, die noch nicht vernarbten. Warte ab, daß Mexicos Wunden smaragden werden – dann magst du den Zornigen Herrn bestatten, weil dein Herz es dir befiehlt!«

Sie entgegnete:

»O Zacatzin, o alter Zauberer! Der Gott befiehlt es mir! Ihm gehorche ich – aber nicht dem König, meinem Gemahl, welcher dem Zornigen Herrn nicht beistand und auch mir nicht beistehen wird, wenn ich zur Adlerschale schreite! Doch heiter ist mein Herz! Der Himmel macht mich zur Blume, der Himmel macht mich aufknospen! ...«

Traurig nahm der Alte Wickelbär Abschied von ihr und bestieg seinen Einbaum.


Er war noch nicht weit fortgerudert, als plötzlich der Überwältiger neben Maisblüte stand.

Ob dort im fortrudernden Boot der Herabstoßende Adler sitze? fragte er. Ob sie mit seinem Vetter eine Zusammenkunft gehabt habe?

Ohne Schroffheit, mit schwermütigem Tonfall hatte er die Frage gestellt. Doch Maisblüte war durch sein eifersüchtiges Mißtrauen zutiefst verletzt.

Es sei nicht Guatemoc gewesen, sagte sie kalt.

Der Überwältiger drang mit höflicher Hartnäckigkeit darauf, daß sie den Mann nenne. Sie verweigerte es. Schließlich erklärte sie sich bereit, ihr Geheimnis preiszugeben, wenn er sein Gefolge herbeirufe.

Er tat es. Und in Gegenwart aller Höflinge verkündete sie:

»Ein Gott redete mit mir und zeigte mir das Traumbild meines Vaters, des Zornigen Herrn. Und nun schmerzt mich mein Herz, und ich tue das Gelübde, daß ich ihn bestatten werde, so bald ich kann!«

»Sie fiebert!« sagte der Überwältiger zu den Höflingen. »Das Räuchergefäß der Nacht streut giftige Dünste aus. Vergeßt, was sie sprach!«

Und liebevoll faßte er sie an der Schulter, führte sie ihren Frauen zu, übergab sie ihren Frauen.

Dann ging er lange schweigsam auf und ab. Und er beschloß, sein Weib mit in die Schlacht zu nehmen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren.


Im kleinen Tepanekendorf Popotla am westlichen Seeufer (wo nach der Nacht der Schrecken Cortes unter einer Zeder sitzend geweint hatte) war es dank der Fahrlässigkeit der nach Beutestücken suchenden, Siegesfeste und Totenfeste feiernden Mexikaner den Kastiliern möglich gewesen, ihre Wunden zu verbinden, sich zu sammeln und unbehindert den Rückzug nach Norden anzutreten. Nur einige aztekische Schildträger blieben ihnen auf den Fersen, wagten sich jedoch nicht in Gefechtsnähe und begnügten sich damit, den Mut der Abziehenden mit einem infernalischen, nie abreißenden Gebrüll zu ermüden.

Kläglich zusammengeschmolzen war das Christenheer, das erst kürzlich um dreizehnhundert Mann und achtzig Pferde des Panfilo de Narvaez vermehrt worden war. Wie vor Jahresfrist, als es die Sanddünen verließ, um den Weg über Sempoalla ins Goldland zu suchen, war es wieder ein winziges Häuflein von kaum fünfhundert Landsknechten, dreiundzwanzig Pferden und weniger als tausend indianischen Bundesgenossen. Und fehlte es damals schon an Krüppeln nicht unter den Abenteurern, so war jetzt keiner unter ihnen, der nicht blutigen Zoll gezahlt hatte, sei es in der nächtlichen Schlacht gegen Narvaez, sei es bei den Kämpfen am Hauptportal des alten Tecpan und an den Dammdurchstichen. Von tlascaltekischen Lastträgern wurden die Todwunden auf Bahren inmitten des Heeres getragen, andere Kranke waren an die Kruppen der Pferde geschnallt. Und wie vor Jahresfrist ritt Diego de Ordas an der Spitze und zog mit der Vorhut in die Stadt Tlacopan ein, wo er mit seinen fünfundvierzig Begleitern vom Gros des Heeres abgeschnitten wurde. Er schlug sich nach Norden durch.

Inzwischen hatte Cortes, von einigen aus einem Maisfeld aufgetauchten Otomis gewarnt, einen seitlichen, ins Hügelland abbiegenden Weg eingeschlagen. Beim Scharmützel mit den Adlern und Jaguaren Tlacopans vor den Toren der Stadt war Montezumas ältester Sohn, der Vom-Himmel-Gestiegene, von einer Obsidianlanze tödlich getroffen worden, auch drei Kastilier waren gefallen, und Cortes selbst trug eine tiefe und schwer heilende Kopfwunde davon. Den Weg fortsetzend, merkte Cortes bald, daß die Zahl seiner Verfolger lawinenartig anwuchs. Um sein kleines Heer nicht noch mehr dezimieren zu lassen, und da ihm bekannt war, daß die Indianer nachts nicht kämpften, beschloß er, fortan bloß bei nächtlicher Dunkelheit zu marschieren. Von Otomis geführt, erreichte er den otomitischen Flecken Teocalhuiacan, wo er bei einem aufragenden Tempelturm haltmachen und teils in den wenigen Häusern, teils in der Savanne ringsher das Nachtlager aufschlagen ließ. Die freundlichen Otomis bewirteten ihre tlascaltekischen Landsleute und deren christliche Freunde mit Maiskuchen, gebratenen Truthennen und kühlenden Getränken. Als um Mitternacht das Heer weiterzog, verbot Cortes, die Lagerfeuer zu löschen, in der Absicht, die Azteken irrezuführen. Und er tröstete die über die schweren Abgaben und Kriegslasten klagenden Otomis mit den Worten:

»Nur für kurze Zeit verlasse ich euch. Und wenn ich wiederkehre, will ich euch befreien vom Druck Mexicos. Denn ich werde Mexico zerstören. Dann sollt ihr die Herrschenden sein und werdet keinem Mexikaner mehr zu gehorchen brauchen 1«

Je größer die Not, je größer wurde seine Zuversicht.

Der eingeschlagene Weg durch die Hügelkette zog sich weit nach Westen hin. Erst in der dritten Nacht gelangten die Christen wieder in die Ebene und übernachteten in der dicht beim nördlichen Xaltocan-See gelegenen kleinen Stadt Tepozotlan, der »Stadt der Buckligen« (berühmt in der Geschichte der Tolteken, weil hier zuerst der Türkis gefunden und bearbeitet wurde). Die Häuser und der Tecpan des dortigen Kaziken waren leer: die geflüchteten Einwohner hatten alle Nahrungsmittel mit fortgeschleppt oder vernichtet. Gastfreundliche Otomis gab es in der Umgegend nicht. Das Heer litt grausamen Hunger.

Von Tepozotlan aus standen zwei Wege nach Tlascala offen. Der nordöstliche, am Zumpanco-See vorbei, war der weitere, dafür aber verhältnismäßig gefahrlos. Der nähere südöstliche Weg verlor sich in einer Wirrnis von Morästen. Cortes beriet mit seinen Feldobristen und konnte lange zu keinem Entschluß kommen. Wählte er den südöstlichen Weg, so hatte er die Möglichkeit, sich bald wieder mit der abgesprengten Vorhut zu vereinen. Die Möglichkeit indes war keine Gewißheit, und wenn auch gewöhnt an Himmelswunder, durfte Cortes damit nicht rechnen – wie nicht einmal damit, daß die Vorhut dem geplanten Überfall in Tlacopan entkommen sei. Gewiß hingegen war, daß ohne geeignete Führer die Sumpfwüsteneien am südlichen Xaltocan-Ufer ungangbar waren.

Pedro d'Ircio, Pero Trujillo und Valladolid der Dicke schlachteten heimlich eins der dreiundzwanzig Pferde und verzehrten einen Roßschenkel roh – aus Furcht, sie könnten beim Schmoren und Zubereiten des Fleisches ertappt werden. Indes, der Frevel wurde ruchbar. Der Eigentümer des Pferdes, Martin de Gamba, und die Feldobristen–Olid vor allem – wüteten, schrien nach dem Henker, doch Cortes zuckte nur die Achseln. Und er gab Befehl, noch ein zweites lahmendes Pferd abzustechen, das Fleisch beider Tiere in kleinen Rationen an die Mannschaft zu verteilen. Er selbst nahm am traurigen Festmahl teil.

Da wurde ihm ein Otomi gemeldet. Dieser erbot sich, das Heer durch die südliche Morastgegend nach der von Otomis bewohnten Stadt Otompan unweit der Grenze Tlascalas zu führen. Mit Dank wurde sein Anerbieten angenommen.

Selbst Marina schöpfte keinen Verdacht und erkannte im vermeintlichen Otomi den Annalenschreiber Feuer-Juwel nicht, obgleich sie ihn öfters in der Umgebung Montezumas gesehen hatte. Feuer-Juwel war allerdings ganz unkenntlich, da er sich das Haupthaar – bis auf den im Nacken herabhängenden Piochtli-Schopf – abrasiert, die Zähne bunt gefärbt und das Gesicht mit einer rot und grünen Gitterbemalung entstellt hatte.


Inzwischen drang die Vorhut weit nach Osten vor. Wie durch ein Wunder hatten die fünfundvierzig Mann in der Falle von Tlacopan keinen Schaden genommen. Und ein nicht geringeres Wunder war es, daß sie – nachdem sie die gepflasterte Reichsstraße am Nordufer der Lagune verlassen –, fast ohne Mundvorrat und eines einheimischen Führers ermangelnd, in den Sümpfen nicht umgekommen waren. Ein Führer, und zwar der Spinner, gleichfalls als Otomi verkleidet, stellte sich erst ein, als sie sich in einem Zedernwald in der Nähe der Sonnenund-Mond-Pyramide von Teotihuacan – Wo-die-Götter-anlangen – verirrt hatten.

Bei anbrechender Dunkelheit, nach vielen vergeblichen Versuchen hinauszufinden, waren sie im Walddickicht erschöpft ins Gras niedergesunken, von düsterer Hoffnungslosigkeit befallen. Zum Hunger gesellte sich der Durst: auf keine Quelle waren sie im Walde gestoßen. Die Hoffnung, sich mit Cortes wieder zu vereinigen, hegte keiner mehr.

Als eine der Tapfersten in dieser Drangsal erwies sich Isabel de Ojeda. Sie hatte in der Nacht der Schrecken wie ein Mann gekämpft und sich nicht weniger an den Dammdurchstichen hervorgetan als Maria de Estrada, die Amazone. Und sie war, in der Rüstung und auf dem Pferd eines gefallenen Kameraden reitend, in Tlacopan eingezogen, weil ihr Mann, Antonio de Villareal, des Diego de Ordas Fähnrich und steter Begleiter war. So kam es, daß auch sie der Abgesprengten furchtbares Los teilen mußte. Was dies Los war und zu werden drohte, begriff sie nicht; oder vielmehr, sie sträubte sich, es zu begreifen. Und während ihr sonst so eitler und hochfahrender Gatte den Kopf sinken ließ, trug sie den Kopf hoch, blickte herab auf ihn, zu dem sie bisher emporgeblickt hatte, und setzte seiner dumpfen Verzweiflung eine trotzige Zuversicht entgegen. Wie um ihn zu strafen, hielt sie ihm als Vorbild den Gleichmut ihres Betreuers und Liebhabers Ordas vor. Doch in seiner Todesfurcht fühlte Villareal nicht einmal den Stachel der Eifersucht. Und der Hauptmann Francisco de Lugo (der ebenfalls unter den Verirrten war) bemerkte sarkastisch;

»Laßt uns auf Ritter Ordas vertrauen, Senora! Denn ganz gewiß wird er, wenn wir alle tot sind, uns mit dem Wasser des Lebens anspritzen und wieder lebendig machen!«

Und krampfhaft lachte Lugo, um seine Beklommenheit zu ersticken.

»Ihr wißt nicht, wie wahr Ihr redet!« rief Ordas, der eben mit dem Spinner zu ihnen herantrat. »In unserer Lage ist jedes Wasser ein Wasser des Lebens. Seht, dieser Otomi will uns zu einem Quell führen!«


Nach halbstündigem Marsch knieten und drängten sich die Soldaten um einen kleinen Tümpel, als wäre es ein Wasserheiligtum, einige leckten wie Hunde tief hinabgebeugt das Wasser von der Oberfläche, andere schöpften es mit den Händen, und andere schlürften es vom Eisenrand ihrer triefenden, rinnenden Sturmhauben. Die Gier hatte sie alle für eine Weile stumm gemacht. Nachdem sie aber ihren brennenden Durst gestillt und sich der Gefahr, verschmachten zu müssen, entronnen sahen, schlug ihre Verzweiflung in laute Heiterkeit um. Ribadeo, der Weinschlauch, fällte zum drittenmal seine Sturmhaube, schwang sie wie einen Pokal und forderte alle auf, ein Gleiches zu tun und mit ihm anzustoßen auf das Wohl des Ritters Ordas, dessen Ziel, den Quell des Lebens, den verjüngenden Quell, zu finden, nun endlich erreicht sei – wie sie alle ja bezeugen könnten. Ribadeo hielt seinen vielbelachten Toast, als wäre er trunken vom Wasser. Da erkundigte sich der Otomi bei einem der Tlascalteken nach dem Grunde des Gelächters und erhielt zur Antwort: die Christen spotteten, weil der Hauptmann Ordas einst aus Tenuchtitlan ausgezogen sei, das Wasser der Verjüngung zu suchen ...

Sie übernachteten bei der Quelle. Nach kurzer Rast wurde Ordas geweckt. Der Otomi hatte ihm eine wichtige Mitteilung zu machen.

»O großer Krieger«, sagte der Spinner, »du suchst das Wasser der Erneuerung, den Quell der Jugend, der im versunkenen Tula floß. Doch welches Tula suchst du? Eins liegt im Süden, im Land der Dornen, eins im Westen, wo die Blumen stehen, eins im Norden, im Land der Wolkenschlangen, und eins im Osten, der Sonne entgegen. Das Tula aber, wo Quetzalcoatl um Mitternacht badete, lag in keiner der vier Himmelsrichtungen.«

»Wo lag es denn?« fragte Ordas. (Er war jetzt ein Jahr auf mexikanischem Boden und konnte sich notdürftig – auch ohne Dofia Elviras Hilfe – verständigen.)

»Die Binsenstadt Tula, die Urheimat«, erwiderte der Dichter, »lag in der fünften Himmelsrichtung!«

»Wo?« fragte Ordas verdutzt. »In der fünften Himmelsrichtung? Wo ist die? Die kenne ich nichtl«

»Sie befindet sich«, sprach der Spinner »in der Mitte zwischen Süden, Westen, Norden und Osten. Sie befindet sich in deinem Herzen und in meinem und in jedes Menschen Herzen, der sie sucht. Freilich, nur wenige suchen sie.«

Der krause Geist des alten Ritters war empfänglich für solcher Art Mystik.

»Dann also ist das Tula der Silberpaläste nichts als ein Traum?« bemerkte er enttäuscht.

Auf diese Enttäuschung hatte der Otomi gelauert. Und er setzte auseinander: Dieses Tula liege unter der Erde, und nur ein Traum vermöge es sichtbar zumachen. Aber er kenne im Walde eine Lichtung, da steige wie ein Dunst die Stadt Tula mit ihren Palästen und Türmen aus der Erde und schwebe als eine Spiegelung in der Luft. Und wer das erblicke, den führe eine goldgelbe Hirschkuh zur Quelle der Jugend Bebend vor Erregung, stellte Ordas die Frage: ob es weit sei bis zu jener Lichtung?

Der Spinner verneinte und forderte Ordas auf, ihm zu folgen.

Während sie zwischen den nachtschwarzen Zederstämmen hinschritten, erzählte der Dichter vom König Himmelspfeil, wie er mehrere Zauberer ins Land der ewigen Jugend sandte und was sie dort erlebten ...

Plötzlich fühlte sich Ordas am Kopf und an den Armen gepackt, niedergeworfen, mit Stricken gefesselt. Zehn dunkle Gestalten umheulten ihn. Der Otomi war verschwunden. Aber ebenso schnell wie seine Gefangennahme erfolgte seine Befreiung. Europäische Panzer und Schwerter erklirrten. Ein kurzes Handgemenge – dann Flucht der Indianer. Ordas wurde losgebunden.

Freudig und vorwurfsvoll standen sein Fähnrich Villareal und die Armbrustschützen Juan Benitez (den man das Auge des Heeres nannte), Peñaloa, Arroyuelo und der alte Santisteban vor ihm und führten ihn zu den Kameraden zurück. Sie waren ihm gefolgt, da sein heimliches Entweichen mit dem Otomi nicht unbemerkt geblieben war.

Den Hauptmann zu schelten, wie er es verdiente, scheuten sich seine Untergebenen. Und Francisco de Lugo, der ihm gleichgestellt war, unterließ es aus Mitleid. Bloß sein Mündel, die olivenbleiche Isabel, kannte kein Erbarmen und hatte das Herz, ihm vorzuhalten:

»Wahrlich, Don Diego, Ihr seid ein unverbesserlicher Narr! Ponce de Güelva (Gott habe ihn selig!) hatte recht, als er behauptete: man müsse Euch den Schädel aufsägen und Euer Gehirn mit Seife waschen!«

Es gehörte zu den Lebensbedürfnissen des alten Ritters, sich von Isabel mißhandeln zu lassen. Hätte sie ihn geschlagen, er hätte es mit ebenso hündischer Ergebenheit hingenommen wie ihre peitschenden Worte.


Von Selbstanklagen zerpeinigt, fand Ordas keinen Schlaf. Die Vorwürfe Isabels versengten ihm die Seele. Er sah ein, daß er ein Narr sei, daß er phantastischen Träumen nachgeeilt war, während seine Gefährten – nicht ohne Schuld – dem Hungertod unter die Augen traten. In seiner Zerknirschung faßte er den Vorsatz, nie wieder einen so einfältigen Streich zu machen. Unmittelbar darauf aber beschloß er, noch einmal heimlich davonzuschleichen, um seine Schar vor dem Hungertode zu retten. Denn er entsann sich plötzlich, daß er vorhin, mit dem Otomi zur Lichtung schreitend, einen Hirsch aufgescheucht hatte.

Vielleicht dachte er – im Unterbewußtsein – auch an die goldgelbe Hirschkuh, die zum Quell der Jugend weisen konnte. Geschwächt durch Strapazen, Schlaflosigkeit, Nahrungsmangel, verwirrten sich bereits seine Sinne.

Er rüstete sich als Jäger aus, nahm einem schlummernden Arkebusier die Armbrust, einem Pikenier den Spieß fort und schritt bei Morgengrauen in den Wald. Obgleich die Posten verdoppelt waren, wurde sein Davonschleichen diesmal nicht bemerkt.


Keine fünfzig Schritt war er gegangen, als er hinter sich ein Knistern im Unterholz hörte. Rasch wandte er sich um, schußbereit. Nicht ein Mensch, ein mächtiges Tier war es, das sich ihm näherte. Ein Glück, daß er gezögert, daß er den Bolzen von der Armbrust nicht abgeschnellt hatte. Becerrico, Francisco de Lugos Heldenhund, sprang wedelnd an ihm hoch.

Zufrieden klopfte Ordas dem Hunde die Flanke. Er schickte ihn nicht heim, er ließ sich seine Begleitung gern gefallen. Bei der Jagd konnte ihm das behende Tier von Nutzen sein.

Und weiter schritt Ordas in den Wald hinein. Hirsche fand er nicht. Nach einer Stunde kehrte er enttäuscht ohne Beute zurück.

Schon war er nicht mehr weit vom Nachtlager. Da trat ihm ein großer schwarzer Bär entgegen. Nach wenigen Augenblicken lag Becerrico mit aufgeschlitztem Bauch reglos am Boden. Und aufrecht ging der Bär auf Ordas los.

Bolzen zu verschießen, hatte keinen Zweck mehr. Zu nahe standen sich Mensch und Bär gegenüber. Mit aller Wucht bohrte Ordas den Spieß in das zottige Fell. Der tödlich verwundete Bär hatte noch Zeit, mit der Pranke Ordas am Scheitel zu treffen, ihm ein beträchtliches Stück der Kopfhaut abzustreifen. Dann sank er tot neben Becerrico hin.

Auch Ordas sank blutüberströmt auf den moosbewachsenen Waldboden. Seltsam frei und leicht war ihm zumute. Nun hatten alle Mühen ein Ende. Nun war er aller freiwillig erwählten Ziele und Pflichten los und ledig. Mochten andere sich abplagen, das Wasser des Lebens zu finden, – seine Sorge war das nicht mehr ...

Die Sinne schwanden ihm. Ehe sie ganz schwanden, wandelte sich seine Heiterkeit urplötzlich in eine qualvolle Beängstigung, und diese steigerte sich zum unerträglichen Alpdruck. Er hörte Stimmen nahebei, Indianergeheul, Waffenklirren, Hilferufe. Er glaubte den Schreckensschrei seiner vergötterten Isabel de Ojeda zu hören. Sich erheben wollte er, ihr und den Kameraden zu Hilfe eilen. Doch er vermochte sich nicht zu erheben. Und während er verzweifelt mit seiner Schwäche rang, senkte sich eine schwarze Nacht auf seine ermatteten Augen ...

Grausame Wirklichkeit – nicht eine Fieberphantasie – hatte sich in sein schwindendes Bewußtsein gedrängt. Die Rufe und der Waffenlärm tönten eine Weile noch fort, obgleich Ordas sie nicht mehr hörte. Vom Spinner benachrichtigt, hatte Ohrring-Schlange mit einem Trupp Adler und Jaguare aus Tezcuco die schlafende Vorhut am Waldtümpel überrumpelt. Fast sämtliche Christen – auch der Hauptmann Lugo und Isabel de Ojeda – waren den Indianern lebend in die Hände gefallen und wurden nach Tezcuco geführt, um dort in Holzkäfigen gemästet und dann auf den Opferblutschalen Tezcucos und Tenuchtitlans den Göttern geschenkt zu werden. Der alte Büchsenspanner Santisteban war glücklich zu preisen: hatte er doch beim Überfall den Tod gefunden.


Cortes und sein Heer hatten das Moorland und das daran stoßende Gebiet dichter Waldungen unversehrt durchquert und gelangten am 7. Juli – eine Woche nach der Nacht der Schrecken – in das weite Flachland von Otompan und Tepepulco. Diese Ebene – Micotli, der Weg-der-Toten genannt – zog sich von der Nordwestecke des Schilfsees von Mexico nordwärts hin, im Osten begrenzt von der Quauhtepan-Kordillere – dem Adlergebirge –, einem Ausläufer der beiden Vulkanriesen Anahuacs. Während das Heer an der altheiligen Priesterstadt Teotihuacan vorüberzog, ließ sich Cortes von Feuer-Juwel den Ursprung der Stadt, ihrer beiden rotbemalten, vierstufigen Pyramiden – des Mondes und der Sonne – berichten.

Die Vorfahren der Totonaken galten als die Erbauer. Nachdem sie zugleich mit den Olmeken die sieben Höhlen des Reiherlandes verlassen, hatten sie, nach langen Wanderungen Anahuac betretend, hier auf dem Weg-der-Toten ein Königreich gegründet – viele Jahrhunderte bevor die Meeresküste und Sempoalla ihr Wohnsitz wurden.

Den Namen Teotihuacan – Wo-die-Götter-anlangen – erhielt die Priesterstadt (die damals die Hauptstadt Anahuacs war), weil nach Erdbeben und Weltkatastrophen die Himmelsgötter in die Sanktuare ihrer Tempel niederzusteigen und dort, auf Richterstühlen thronend, Rat zu halten pflegten. Noch finster, nur von Sternbildern erleuchtet war die Erde damals, denn mit der gesamten ersten Schöpfung und den in Fische verwandelten ersten Menschen war auch die erste Sonne – die Wassersonne – von der Sintflut hinweggespült worden. Und als nun die Götter das erstemal in Teotihuacan versammelt thronten, berieten sie, wer von ihnen die Welt erleuchten solle. Der Gott Tecciztecatl – der Träger-des-Meerschneckengehäuses – erbot sich dazu, und nach ihm ein kleiner, mißachteter, ausschlagbedeckter Gott, Nanahuatzin, »der Syphilitische«. Verlacht wurde der Ehrgeiz des kleinen Gottes der Syphilis, da aber kein anderer der Götter sich meldete, wurde ihm gestattet, ein Himmelslicht zu werden. Und die Götter errichteten zwei hügelhohe Erdhaufen und setzten auf deren Spitzen je einen der Erwählten, auf daß er dort vier Tage lang Bußübungen verrichte, am Fuße der Erdhaufen aber entzündeten sie Reisigbündel und schürten sie zu hellen Flammen empor. Am vierten Tage, sobald die Kasteiungen beendet waren, stellten sich in langer Reihe die sechzehnhundert Götter und Göttinnen als Zuschauer auf. Der Träger-des-Meerschneckengehäuses brachte dem Himmel Kostbarkeiten dar: einen Blumenstrauß aus Edelsteinen und blutige Büßerdornen aus roter Koralle. Der kleine Syphilitische jedoch besaß nichts, was als Opfergabe hätte dienen können» darum schenkte er dem Himmel den Schorfseiner Eiterblasen ... Und als beide Totenschmuck erhielten, wurde der Träger-des-Meerschneckengehäuses reicher und besser gekleidet, denn das Schneckengehäuse war – gleich der Muschel – ein Sinnbild jungfräulicher Reinheit ...

Als erster hatte sich der Jungfräuliche gemeldet, und zuerst wurde er jetzt von den Göttern aufgefordert, ins Feuer zu springen. Er nahm einen Anlauf, schreckte aber dicht vor der baumhohen Lohe zurück. Viermal wiederholte er vergebens den Versuch. Da fragten die Götter den Syphilitischen, ob er mehr Mut habe. Und sofort stürzte sich der kleine Gott in die Flammen. Der Beifall der himmlischen Zuschauer beschämte den Träger-des-Meerschneckengehäuses so sehr, daß er, die Furcht überwindend, ebenfalls den Feuertod suchte und fand.

Nicht sofort wurden die Verbrannten wiedergeboren. Lange warteten die sechzehnhundert Götter, und als ein Frührot den Himmel zu färben begann, knieten sie – um die Sonne zu begrüßen – nieder nach allen Windrichtungen, denn einige glaubten, sie werde sich im Süden oder Norden erheben, andere erwarteten sie im Osten oder Westen. Schließlich stieg der Syphilitische als Tonatiuh – der Sonnenherr – im Osten auf und gleich hernach der Herr-des-Schneckengehäuses als Meztli, der Mond. Aber sie bewegten sich nicht fort, sie blieben regungslos am Himmel, und die Sonne gefährdete durch ihre Glut die Welt. Und da sie verhöhnt worden war, schoß die Sonne Pfeile nach den Göttern und verwundete ihrer viele. Die Götter waren ratlos. »Laßt uns alle freiwillig sterben«, beschlossen sie, »nur durch unsern Tod können wir die Welt vor dem Untergang bewahren.« Und sie gaben dem Windgott Quetzalcoatl den Auftrag, sie alle zu töten. Das tat Quetzalcoatl. Und nachdem er alle sechzehnhundert Götter und Göttinnen umgebracht hatte, verursachte er einen so gewaltigen Sturm, daß Sonne und Mond ihm nicht standhalten konnten und, vom Wirbel fortgerissen, getrennt voneinander anfingen, um die Erde zu kreisen.

Etliche Jahre nach dem Göttergemetzel, als ein neues Göttergeschlecht den Himmel bewohnte, bekleideten die totonakischen Bewohner Teotihuacans die beiden künstlichen Hügel mit Steinquadern und wandelten sie um in herrliche Stufenpyramiden, die der von Cholula an Pracht und Umfang wenig nachstanden.

Den ersten Königen der Totonaken – Omeacatl, Zwei-Rohr, der aus seinem Badehause rätselhaft entrückt worden war, ohne zu sterben, und seinem Sohne und Nachfolger Xatontan – wurden die zwei mächtigen Bauwerke als Grabtempel geweiht; und zum Gedächtnis an die Apotheose wurde die kleinere das Haus-des-Mondes, die größere das Sonnenhaus benannt.

»Wenn ich solche Ammenmärchen von Quetzalcoatl höre«, bemerkte Cortes zu der neben ihm in einer Sänfte getragenen Marina, »so überkommt mich ein Gefühl der Sicherheit. Ich sehe meinen Weg vorgezeichnet. Quetzalcoatl erschlug sämtliche Götter und Göttinnen. Auch ich werde den sechzehnhundert Teufeln den Garaus machen. Ich bin Quetzalcoatl – das habe ich nie so stark empfunden wie jetzt im Unglück. Und jetzt erst verstehe ich, daß ich in Tenuchtitlan gegen Tezcatlipoca gekämpft habe, daß ich, Quetzalcoatl – diesmal noch–, Tezcatlipoca unterlegen bin. Beim kommenden Endkampf werde aber ich den Fuß auf Tezcatlipocas Nacken setzen ...«

Aguilar schritt neben der Sänfte, zuweilen verstohlen auf die rührende bräunliche Madonnengestalt Marinas blickend, die ihr Kind säugte. Der Inbegriff der Königin, der Mutter, der Heiligen war sie ihm. Aus erdfernen Träumereien fuhr er auf, erschreckt durch die Hybris des General-Kapitäns. Er fürchtete Marinas wegen die Strafe der Vorsehung.

»Don Hernando«, sagte er zaghaft, »vergeßt nicht, daß wir Flüchtlinge sind! Noch sind wir in Feindesland, noch haben wir Tlascala nicht erreicht ... Und der Allmächtige mag wissen, was uns in Tlascala erwartet!«

Cortes entgegnete ernst:

»Ein Gegengift ist beides – der Hochmut sowohl wie die Demut. Als ich Montezuma gefangen hatte, lag ich im Staub vor meinem Schöpfer. Jetzt bin ich ein Flüchtling, und darum bin ich und will ich Quetzalcoatl sein! Auch er mußte vor Tezcatlipoca an die östliche Meeresküste zurückweichen. Und nichts soll mich im Glauben beirren an die Weissagung: Quetzalcoatl wird wiederkehren und in Mexico sein Reich aufrichten!«

Olid, der dicht hinter Cortes ritt, drängte seinen Hellbraunen an Romos Flanke heran.

»Verstand ich Euch recht, Don Hernando? Ihr habt Euch vorgenommen, in Mexico ein Reich aufzurichten?«

Im bartlosen, narbenbedeckten, prachtvoll häßlichen Gesicht des einstigen Galeerensträflings war jeder Muskel gespannt. Seine harten, stechenden, grünen Augen bohrten sich voll frecher Neugier in die Seele des Gefragten. Cortes ertrug den inquisitorischen Blick gleichmütig und gab einen abweisenden, staunenden, nicht schuldbewußten Blick zurück, da er nichts Verfängliches gemeint hatte. Sein behender Geist erfaßte sofort, daß seine Worte vieldeutig gewesen waren, daß sie schicksalvoll werden konnten, wenn ein Angeber sie an den Hof nach Madrid meldete. Dem unberechenbaren Olid war alles zuzutrauen. Neben Avila der unbotmäßigste der Feldobristen, haßte er seit einem Jahre Cortes, nicht etwa, weil er es mit dem Gobernador von Kuba hielt: Untreue war ihm natürlicher als Treue, aber sein Haßgefühl mußte immer einen Gegenstand haben. Seit der Nacht der Schrecken liebte er Cortes, beteuerte es bei jeglicher Gelegenheit und glaubte scheinbar selbst an seine Anhänglichkeit, die nicht frei von gönnerhaftem Wohlwollen war. Der Nimbus der Unbesiegbarkeit war ja – keineswegs bloß in den Augen der Mexikaner – von Cortes gewichen, seiner Gottähnlichkeit entkleidet, war er Nachsicht eher als Neid und Eifersucht wert ...

»Ihr habt meine Worte mißverstanden!« sagte Cortes.

»O nein, Don Hernando! Ich habe Eure Worte gut verstanden – vielleicht besser als Ihr selbst! Müßig mag es sein, davon zu reden, da vielleicht heute abend schon keiner von uns am Leben ist. Müßig mag es auch sein, da selbst, wenn wir nach Tlascala und Vera Cruz entkommen, es fraglich sein mag, ob – außer Euch und mir – sich Kastilier finden werden, die diese Straße noch einmal ziehen ... Doch nehmt an, es gelänge, nehmt an, Ihr würdet den Fuß auf Tezcatlipocas Nacken setzen. Was dann?«

»Ich bin ein treuer Diener meines kaiserlichen Herrn!« erwiderte Cortes.

»Das wart Ihr bisher, Don Hernando. Und eben darum hat sich Euer Freund Velazquez de Leon gescheut, Euch vorzuhalten, was er anderen mehr als einmal vorgehalten hat ...«

»Wart Ihr sein Vertrauter?« höhnte Cortes.

»Nein. Aber Tapia und Lugo. Von denen weiß ich, was Don Juan sagte ...«

»Was?«

»Daß Tenuchtitlan mehr wert sei als das Goldene Vließ oder ein Marquisat oder das Schafott. Des großen Admirals Lohn waren Ketten. Vasco Nuñez de Baiboa starb auf dem Blutgerüst. Und jüngst erst hat Don Panfilo Euch zum Tode verurteilt.«

»Seine Majestät ist kein Narr wie Narvaez!«

»Mag sein ... Dann wird er Euch mit einer gnädigen Audienz, einem Adelswappen oder einem Hofrang kaltstellen ... Mir aber scheint, nicht so unrecht hatte Velazquez de Leon, wenn er behauptete, daß Ihr, Don Hernando, mehr Anrecht auf den Thron Montezumas habt als der Kaiser.«

»Ich? Wie meint Ihr das?«

»Ei, habt Ihr schon vergessen, daß Montezuma nach Doña Marinas Mutter suchen ließ, daß er Marina für seine Tochter hielt?«

»Drei Tage lang!« entgegnete Cortes mißmutig. »Drei Tage lang spielte er mit dem Gedanken, sie könne seine Tochter sein – um andere Gedanken zu verscheuchen. Länger hat er an das Ammenmärchen nicht geglaubt!«

»Vorhin spracht Ihr weniger verächtlich von Ammenmärchen, Don Hernando! Bedenkt auch, daß Völker sich nur durch Ammenmärchen bändigen lassen!«


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