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Elftes Buch

Grausig einsam, unheimlich und finster kreist ein Weltkörper um seine weißleuchtende Schwestersonne, einem unsichtbaren schwarzen Dämon ähnlich, bis er – vernichtend und vernichtet zugleich – beim Zusammenprall aufflammt in purpurner Schönheit.

Nicht nur Doppelsterne kreisen so umeinander. Auch Menschenseelen. Auch Völkerseelen. Erst ihres Endes Feuerbrunst kündet der Welt von ihrer Schönheit.

Das Zeichen des Schicksals auf der Stirn eines Menschen – wer erkannte es je? Sah er sich selbst so gezeichnet im Spiegel, bevor die Stunde kam?

Und doch ist uns Zukunft – wie ebenfalls Vergangenheit – gegenwärtiger als die Gegenwart, wirklicher als die nie bleibende Wirklichkeit (deren Gewirk, kaum gewebt, sich löst).

In ein goldenes Zeitalter träumen sich die Schwachen zurück oder voraus. Andere – und nicht die Schlechtesten sind es – leben einer Götterdämmerung, einem Jüngsten Tag entgegen, dem Tod in purpurner Schönheit. Die Mexikaner wußten, daß der Jaguar einst die Sonne frißt.

Die Neue Welt war um die alte gekreist wie ein unsichtbarer schwarzer Dämon: als er sichtbar wurde, erblickte man seinen flammenden, grauenvollen, herrlichen Untergang.

Denn Schönheit und Leid gehören zusammen wie Liebe und Tod. Und selbst das Grausigste kann, wenn es auf dem Passionswege der Menschheit sich zeigt, im Gestrahl der untergehenden Sonne juwelenhaft erschimmern wie die Schädel von Golgatha.


Der König der Fische war überreich geworden. Goldbeschwerte Menschen lagen auf dem Grunde des Schilfsees. Da war Atzung genug für des Königs Untertanen, für die Barben, Aschen und Seeforellen, für die Kaimane und Schildkröten, für die Krebse und Wasserschlangen. Habgierig weideten sich nachtschwarze Glotzaugen an Montezumas versenktem Hort, der phosphoreszierend zu brennen schien und mit grünlich-gelben wehmütigen Flammen die unterseeische Landschaft – einem hinabgetauchten Monde gleich – erleuchtete.

Doch kaum einen Tag lang war es dem König der Fische vergönnt, sich seines Reichstums zu erfreuen. Die Mexikaner bargen ihre Ertrunkenen, ja, sie bargen auch die erschlagenen Feinde, um ihre Stadt und ihren See vor Verpestung zu bewahren. So sehr am Herzen lag ihnen das Fest der Totenbestattung, das große Dankfest für den Beistand des wunderbaren Huitzilopochtli, sowie die Reinigung der Gassen, Kanäle und der Lagune, daß sie es unterließen, dem kleinen Haufen weißer Männer nachzueilen. Gebannt war ja alle Gefahr: der Weg der Flüchtenden führte nordwärts nach Tlacopan, und die Garnison des Drei-Städte-Bundes daselbst genügte vollauf, sie aufzureiben. Der junge König, der Durch-Zauber-Verführende, hatte sich eilends zu seiner Hauptstadt hinrudern lassen und hatte sich verbürgt dafür, daß keiner der Gelbhaarigen über Tlacopan hinausgelangen werde.

Nicht nur die Toten mußte der See wieder hergeben. Perlenfischer stiegen beim zweiten Dammdurchstich in die Fluten, den Goldschatz Montezumas zu heben. Der Überwältiger selbst, der neue Herr der Welt, hatte die Wahl getroffen unter den Tauchern Mexicos. Denn das war den Azteken bekannt, daß es Perlenfischer gab, welche die Perlen in Schreck versetzten, so daß sie fliehend vor ihnen davonschwammen. Andere aber gab es, zu denen die Perlen und Kleinode sich freiwillig einfanden.

Nur solche durften hinabtauchen. Und sie hoben den Reichtum Mexicos aus der Tiefe, brachten ihn zurück in die königlichen Schatzkammern.

Da suchte der Überwältiger unter den Zieraten den kostbarsten heraus: eine inkrustierte Goldmaske – der Überlieferung nach einstmals der Besitz eines toltekischen Herrschers in sagengrauer Vorzeit. Und er stieg den Schlangenberg empor, weihte die Goldmaske dem Kriegsgott als ein Wahrzeichen der wiedererlangten Freiheit Mexicos. Nie hinfort sollte dies Palladium vom Altar des Wundersamen schwinden. Mit unmenschlichen Strafen und grauenerregendem Fluch war vom König und vom Gott bedroht, wer sich jemals unterfangen sollte, die Hand nach der Maske auszustrecken.

Siegestrunken beweinte Mexico seine toten Söhne. Der König der Fische aber grollte. Sein war der Goldhort gewesen einen Tag lang – und nun sann er darauf, seines Eigentums wieder habhaft zu werden.


An christlichen Heiligenbildern und Kruzifixen sättigten die Mexikaner ihre Rachegier. Auch eine Bronzeglocke, welche Cortes von aztekischen Handwerkern für die Pyramidenkapelle hatte gießen lassen – auch die Glocke wurde gemartert wie ein fühlendes Wesen, wurde geschlagen mit steinernen Hämmern, wurde zerschlagen, zertrümmert, in einen Kanal gestoßen. Ein Pöbelhaufe drang in den alten Tecpan ein, sich am toten Freund der Fremdlinge zu vergreifen. Die Weherufe und Flüche der Prinzessin Papan schreckten die Wütenden nicht. Sie schleppten die Königsleiche auf das zinnenumragte Dach eines hohen Palastturmes und warfen sie hinab auf die Straße – so wie nachts zuvor Kastilier die erdrosselten Könige von Tezcuco und Coyoacan hinabgeworfen hatten. Aus Granitporphyr gehauen, reckte sich eine riesenhafte Schildkröte unterhalb des Turmes aus dem gepflasterten und noch pfeilübersäten Platz empor, gleichsam als Schutzgeist und Wächter neben dem Palasteingang aufgestellt. Über den dunkelroten, von eingesprengten Glimmerplättchen glitzernden Knochenpanzer der Schildkröte hingestreckt, lag nun Montezuma mit zerschmetterten Knochen, wächsern gelb, ungelenk und haltlos wie eine zu Boden gefallene Gliederpuppe. Und wenig andachtsvoll sammelten sich Neugierige um ihn, zeigten mit Fingern auf den ermordeten Herrn der Welt.

Nur kurze Zeit schlief Montezuma auf der Schildkröte den Schlaf des Vergessens. Eine Volksmenge wälzte sich heran und umjohlte die Leiche. Seile wurden an des Königs Hände gebunden, sein geheiligter Körper wurde durch die Gassen geschleift.

Der ruchlosen Entweihung machte ein Trupp der königlichen Leibwache ein Ende und entriß nach kurzem Kampf dem Volk seine Beute. Die Krieger waren von Coxtemexi herbeigerufen worden – jenem prinzlichen Lustgenossen und Schönling, den der Herabstoßende Adler der Nase beraubt hatte.

Coxtemexi ließ Montezuma nach der Südspitze Tenuchtitlans, in das vom Schilfsee umspülte Tzinacancalli, das Haus der Fledermäuse, tragen. Dies war ein mit hohen kahlen Mauern eingehegter Hof, ungepflastert, von Unkraut durchwuchert, wüst und leer, wo die Leichen der Adligen fürstlichen Geblütes dem Himmel und der Erde preisgegeben lagen, bevor ein Boot sie nach einer der auf Laguneninseln befindlichen Begräbnisstätten überführte.

Gunst und Lohn für seine gute Tat am Königshofe einzuheimsen, verschob Coxtemexi. Er wußte, daß die Töchter Montezumas – Königin Maisblüte und Königin Silber-Reiher, die Witwe des Edlen Traurigen –, abgeschlossen in den Frauengemächern des Huei-Tecpans, inmitten ihrer Mädchen auf schwarzen Matten am Boden hockend und von berufsmäßigen Klageweibern umheult, die Toten beweinten, unzugänglich für jedermann. Und er war klug genug, sich zu sagen, daß der Überwältiger – jetzt unmittelbar nach seiner Erwählung zum König – wohl Zeit haben mochte, vor den Altären Mexicos zu opfern und großmächtige Priester und Adlerkrieger zu empfangen, jedoch nimmermehr, ihm, dem geringen Höfling, Gehör und Teilnahme zu schenken.


Nachdem Montezuma auf einem herbeigeschafften königlichen Tragsessel neben die bereits aufgebahrten Mumienbündel der Königin Acatlan, des Edlen Traurigen und vieler Prinzen und Großen niedergesetzt worden war, verließen die Krieger und Coxtemexi das Haus der Fledermäuse. Keine Wache beschützte die schmuckbehängten Kriegsopfer. Wohl waren dicke Mäntel über Montezuma gebreitet, damit Aasvögel seine Glieder nicht zerfetzten, sonst aber lag er unbeschirmt da vor Himmel und Erde. Wirksamer als eine Kriegerwache war der Schutz der Gespenster im Hause der Fledermäuse und hielt den Pöbel sowohl wie die Diebe in Schranken.

Der schallende Tritt der Adler und Jaguare hatte manche Vorstadtbewohner aus ihren Wohnungen gelockt. Vor der Tür eines der ersten an den Leichenhof grenzenden Häuser gewahrte Coxtemexi eine nicht mehr junge beleibte Frau, und er blieb stehen, sich mit ihr zu begrüßen, als wäre sie eine Freundin. Der Ausdruck ihres behäbigen, breiten, plattnasigen Gesichtes war sanft und überaus gutherzig, man hätte sie für die Gattin oder Witwe eines Kaufherrn halten können – so gewählt und peinlich sauber blinkte ihre Tracht. Und doch war diese Frau eine der berüchtigtsten Giftmischerinnen Tenuchtitlans.

Indes ihr Beruf war nicht bloß die Giftmischerei. Sie gab sich auch mit Kristallbeschauen ab und wußte Arzeneien zu reiben für wunderbare Kuren. Vor einem halben Jahr hatte sie eines Abends Coxtemexi auf einer Kanalbrücke angeredet und ihn flüsternd in ihr Haus geladen: sie wollte ihm seine Schönheit wiedergeben! Und auf die Frage, wie sie das vermöchte, hatte sie gesagt: sie wolle ihm die häßliche Narbe im Gesicht wegschneiden und auf die blutfeuchte Wunde die Nase eines eben getöteten Opfersklaven legen, sie mit einem langen Frauenhaar annähen – so daß sie anwachse, als wäre sie sein eigenes Fleisch. Schon einmal sei ihr solch eine Heilung gelungen.

Doch Coxtemexi hatte damals gezaudert, sich das Gesicht noch einmal zerschneiden zu lassen. Seitdem hatte er die Frau nicht wiedergesehen.

Xiuhxahualli, »die Blaubemalte« – so hieß die Giftmischerin –, lächelte ihr gutherziges Lächeln, als der Höfling sie unter dem strohbedeckten Vordach ihrer Haustür begrüßte.

Ob er komme, sich seine Schönheit wiedergeben zu lassen? fragte sie. Doch er verneinte. Heute noch nicht. Ein andermal werde er kommen, sobald die Kriegstrommel verstummt sei. Heute habe er ein anderes Anliegen.

Sie sah ihn gütig lächelnd an. Er solle es nur aussprechen, ermunterte sie ihn.

Nein. Auf der Gasse könne er davon nicht reden ...

Sie hielt ihn zurück, da er in ihr Haus eintreten wollte.

Im Hause habe die Luft Ohren ... Denn eine Verwandte sei bei ihr zu Besuch ...

Vorsichtig schaute sich die Blaubemalte um. Die königliche Leibwache war abgezogen, die Gasse war leer.

»Komm!« sagte sie. Und ihn am Arm fassend, zog sie ihn mit sich fort zum Eingang des Hauses der Fledermäuse. Als sie durchs Portal geschritten waren, lächelte sie:

»Kein Lauscher wagt sich hierher! Die Toten aber lauschen nicht!«


Der Höfling ließ den Blick über die verwunschene Stätte gleiten. Die Reihen der Aufgebahrten füllten bloß die Mitte des wüsten Hofes. Rings um sie her, den Mauern entlang, lagen andere, ältere, teils noch heile, teils zerfetzte Mumienbündel, überflattert und überhüpft von Geiern, umwogt von Fliegenwolken, umraschelt von allerhand haschendem lichtscheuem Getier. Ein Tribunal war dieser Ort: hier wurde das Totengericht gehalten. Und wem durch den Einspruch der Priesterschaft oder des Volkes der erbetene Nachen für die Überfahrt ins Land des Vergessens verweigert wurde, der mußte ausharren bei den Aasgeiern und Fledermäusen, mußte darauf harren, daß seine Sünden vergeben würden. Verstreute bleichende Gebeine zeigten, wie lange manche der Verdammten hier umsonst auf das Boot geharrt hatten.

Und weiter schweiften die Blicke Coxtemexis und blieben haften am Schädeldach des nahen, pittoresk im Südosten der Stadt über die Häuserterrassen ragenden Yopico-Tempels. Dort auf der Plattform vor der hautentblößten Schreckensgestalt Unseres Herrn des Geschundenen und auf der steilen Doppeltreppe kämpfte noch immer ein Haufe verlorener Christen – der klägliche Überrest jener bei der fliegenden Brücke abgeschnittenen Begleiter des Velazquez de Leon –, kämpfte todessüchtig den aussichtslosen Verzweiflungskampf. Ohne Feuerwaffen, ohne Bolzen für ihre Armbrüste erwehrten sie sich mit zerscharteten Degen nie ablassender Angriffe. Und im Vorkämpfer der Mexikaner erkannte Coxtemexi seinen Widersacher, den Herabstoßenden Adler ...

»Verkaufe mir ein Gift, das in die Ferne wirkt!« sagte er dringlich zur Blaubemalten.

»So weit wie der Adler dort von uns entfernt ist, wirkt kein Gifthauch!« versetzte sie mit freundlichem Lächeln. »Nur die furchtbare Schlange, die der ›Gelbe Fürst‹ genannt wird, kann ihr Todesgift auf so große Entfernungen hinausschleudern ... «

»Schaffe mir die Schlange – ich muß sie haben! ... Eine Speise, die ich reiche, einen Trank, den ich einschenke, wird mein Bedränger nie genießen ...«

»Er bedrängt dich nicht mehr, seit er erfuhr, daß nicht durch dich, sondern durch den Tempel-Feger Maisblüte dem Vom-Himmel-Gestiegenen verfiel ... Schon vergaß dich dein Feind, und er wird dich noch mehr vergessen. Gedulde dich, bis das Leben ihm wertvoller sein wird als jetzt!«

»Ja, er wird Mexicos König werden!« murmelte Coxtemexi. »Der Überwältiger ist ein kranker Mann ... Maisblüte wird des Herabstoßenden Adlers Weib werden – denn der Zornige Herr starb erdrosselt von den Gelbhaarigen ... Dann–oh! nicht lange mehr wird meine Rache zu schlummern haben! – dann wird das Leben für Guatemoc nicht wertlos sein, und dann, ja dann bedarf ich des Giftes, zu dem du mir verhelfen mußt ...!«

Blitzschnell wandte sich die Blaubemalte um. Ein Geräusch – das leise Zwitschern neuer Ledersandalen – hatte ihr überwaches Ohr vernommen. Durch das Portal war ein Mädchen von großer Schönheit in das Haus der Fledermäuse getreten.

Schon seit mehreren Augenblicken stand die Fremde unbemerkt im Hof.

Sie mochte siebzehn Jahre alt sein. Schlicht war sie gekleidet: nichts als ein Hemd trug sie, ein kostbar gesticktes freilich, mit zwei handbreiten violetten Streifen in der Hüftgegend wie auch am unteren silberbefransten Rande. Und violett leuchteten unterhalb der Silberfransen an den schlanken Waden, hinabreichend bis zu den Fußknöcheln, ganz eng anliegende strumpfähnliche Beinkleider. Das mit Indigo gefärbte Haar rahmte schmal die länglichen gelbgepuderten Wangen ein. Ihr dunkel brennender, herrlich gemeißelter Mund hatte die völkische Schwermut, wie sie dem Gesichtsausdruck der jugendlichen Zapotekenfrauen eigen war. Von langen Wimpern beschattet, glitzten ihre schmerzdunklen Augen, gleich zwei schwarzen Opalen, mit tiefroten und grünen Lichtern.

Die Güte auf dem Antlitz der Giftmischerin schwand und wich einer drohenden Strenge.

»Kamst du, um zu horchen?« fuhr sie das Mädchen an. »Begib dich ins Haus zurück, Blutfeuerstein!«

Ohne eine Antwort zu geben, wandte sich das Mädchen dem Portal zu und verließ mit gesenktem Kopf das Haus der Fledermäuse.


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