Adalbert Stifter
Der Nachsommer
Adalbert Stifter

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Am anderen Morgen, als ich aufgestanden war und das beginnende Licht einen Ausblick durch die Fenster gestattete, sah ich frischen Schnee über alle Gefilde ausgebreitet, und in dichten Flocken, die um das Glas der Fenster spielten, fiel er noch immer von dem Himmel herunter. Der Wind hatte etwas nachgelassen, die Kälte mußte gestiegen sein.

Wir machten an diesem Tage alle zusammen einen ziemlich großen Spaziergang. Im Garten wurde herumgegangen, ob etwas zu richten sei, die Gewächshäuser wurden besucht, in dem Meierhofe wurde nachgesehen und Abends wurde in dem Buche, welches von der Seidenweberei handelte, weiter gelesen. Der Schneefall hatte bis in die Dämmerung gedauert, dann kamen heitere Stellen an dem Himmel zum Vorscheine.

Wie diese zwei Tage vergangen waren, so vergingen nun mehrere, und mein Gastfreund begann nicht, seine Mitteilungen, welche er versprochen hatte, zu machen. Wir hatten außer der Zeit, die jeder in seiner Wohnung bei seinen Arbeiten zubrachte, manche Gänge durch die Gegend gemacht, was um so angenehmer war, als nach den stürmischen Tagen bei meiner Ankunft sich heiteres, stilles und kaltes Wetter eingestellt hatte. Ich war zu mancher Zeit in der Gesellschaft meines Gastfreundes, ich sah ihm zu, wenn er seine Vögel vor dem Fenster fütterte oder wenn er für Ernährung der Hasen außerhalb der Grenze seines Gartens sorgte, was des tiefen Schnees willen, der gefallen war, doppelt notwendig wurde, wir hatten weitere Fahrten in dem Schlitten gemacht, um Nachbarn zu besuchen, Manches zu besprechen oder die freie Luft und die Bewegung zu genießen, einmal war ich mit meinem Gastfreunde zu einer Brücke gefahren, die er mit mehreren Männern beschauen sollte, weil man vorhatte, sie im Frühlinge neu zu bauen – man hatte meinen Gastfreund nicht verschont und ihn mit Gemeindeämtern betraut -, mehrere Male waren wir in verschiedenen Teilen der Wälder gewesen, um bei dem Fällen der Hölzer nachzusehen, welche zum Bauen und zur Verarbeitung in dem Schreinerhause verwendet werden sollten, welche Fällung in dieser Jahreszeit vor sich gehen mußte; wir waren auch einmal im Inghofe gewesen und hatten die dortigen Gewächshäuser besehen. Der Hausverwalter und der Gärtner hatten uns bereitwillig und freundlich herum geführt. Der Herr des Besitztums war mit seiner Familie in der Stadt.

Eines Tages kam mein Gastfreund in meine Wohnung, was er öfter tat, teils um mich zu besuchen, teils um nach zu sehen, ob es mir nicht an etwas Notwendigem gebreche. Nachdem das Gespräch über verschiedene Dinge eine Weile gedauert hatte, sagte er: »Ihr werdet wohl wissen, daß ich der Freiherr von Risach bin.«

»Lange wußte ich es nicht«, antwortete ich, »jetzt weiß ich es schon eine geraume Zeit.«

»Habt ihr nie gefragt?«

»Ich habe nach der ersten Nacht, die ich in eurem Hause zugebracht habe, einen Bauersmann gefragt, welcher mir die Antwort gab, ihr seiet der Aspermeier. An demselben Tage forschte ich auch in weiterer Entfernung, ohne etwas Genaues zu erfahren. Später habe ich nie mehr gefragt.«

»Und warum habt ihr denn nie gefragt?«

»Ihr habt euch mir nicht genannt; daraus schloß ich, daß ihr nicht für nötig hieltet, mir euren Namen zu sagen, und daraus zog ich für mich die Maßregel, daß ich euch nicht fragen dürfe, und wenn ich euch nicht fragen durfte, durfte ich es auch einen andern nicht.«

»Man nennt mich hier in der ganzen Gegend den Asperherrn«, antwortete er, »weil es bei uns gebräuchlich ist, den Besitzer eines Gutes nach dem Gute, nicht nach seiner Familie zu benennen. Jener Name erbt in Hinsicht aller Besitzer bei dem Volke fort, dieser ändert sich bei einer Änderung des Besitzstandes, und da müßte das Volk stets wieder einen neuen Namen erlernen, wozu es viel zu beharrend ist. Einige Landleute nennen mich auch den Aspermeier, wie mein Vorgänger geheißen hat.«

»Ich habe einmal zufällig euren richtigen Namen nennen gehört«, sagte ich.

»Ihr werdet dann auch wissen, daß ich in Staatsdiensten gestanden bin«, erwiderte er.

»Ich weiß es«, sagte ich.

»Ich war für dieselben nicht geeignet«, antwortete er.

»Dann sagt ihr etwas, dem alle Leute, die ich bisher über euch gehört habe, widersprechen. Sie loben eure Staatslaufbahn insgesammt«, erwiderte ich.

»Sie sehen vielleicht auf einige einzelne Ergebnisse«, antwortete er, »aber sie wissen nicht, mit welchem Ungemache des Entstehens diese aus meinem Herzen gekommen sind. Sie können auch nicht wissen, wie die Ergebnisse geworden wären, wenn ein Anderer von gleicher Begabung, aber von größerer Gemütseignung für den Staatsdienst, oder wenn gar einer von auch noch größerer Begabung sie gefördert hätte.«

»Das kann man von jedem Dinge sagen«, erwiderte ich.

»Man kann es«, antwortete er, »dann soll man aber das, was nicht gerade mißlungen ist, auch nicht sogleich loben. Hört mich an. Der Staatsdienst oder der Dienst des allgemeinen Wesens überhaupt, wie er sich bis heute entwickelt hat, umfaßt eine große Zahl von Personen. Zu diesem Dienste wird auch von den Gesetzen eine gewisse Ausbildung und ein gewisser Stufengang in Erlangung dieser Ausbildung gefordert und muß gefordert werden. Je nachdem nun die Hoffnung vorhanden ist, daß einer nach Vollendung der geforderten Ausbildung und ihres Stufenganges sogleich im Staatsdienste Beschäftigung finden und daß er in einer entsprechenden Zeit in jene höheren Stellen empor rücken werde, welche einer Familie einen anständigen Unterhalt gewähren, widmen sich mehr oder wenigere Jünglinge der Staatslaufbahn. Aus der Zahl derer, welche mit gutem Erfolge den vorgeschriebenen Bildungsweg zurückgelegt haben, wählt der Staat seine Diener und muß sie im Ganzen daraus wählen. Es ist wohl kein Zweifel, daß auch außerhalb dieses Kreises Männer von Begabung für den Staatsdienst sind, von großer Begabung, ja von außerordentlicher Begabung; aber der Staat kann sie, jene ungewöhnlichen Fälle abgerechnet, wo ihre Begabung durch besondere Zufälle zur Erscheinung gelangt und mit dem Staate in Wechselwirkung gerät, nicht wählen, weil er sie nicht kennt und weil das Wählen ohne nähere Kenntnis und ohne die vorliegende Gewähr der erlangten vorgeschriebenen Ausbildung Gefahr drohte und Verwirrung und Mißleitung in die Geschäfte bringen könnte.

Wie nun diejenigen, welche die Vorbereitungsjahre zurückgelegt haben, beschaffen sind, so muß sie der Staat nehmen. Oft sind selbst große Begabungen in größerer Zahl darunter, oft sind sie in geringerer, oft ist im Durchschnitte nur Gewöhnlichkeit vorhanden. Auf diese Beschaffenheit seines Personenstoffes mußte nun der Staat die Einrichtung seines Dienstes gründen. Der Sachstoff dieses Dienstes mußte eine Fassung bekommen, die es möglich macht, daß die zur Erreichung des Staatszweckes nötigen Geschäfte fortgehen und keinen Abbruch und keine wesentliche Schwächung erleiden, wenn bessere oder geringere einzelne Kräfte abwechselnd auf die einzelnen Stellen gelangen, in denen sie tätig sind. Ich könnte ein Beispiel gebrauchen und sagen, jene Uhr wäre die vortrefflichste, welche so gebaut wäre, daß sie richtig ginge, wenn auch ihre Teile verändert würden, schlechtere an die Stelle besserer, bessere an die Stelle schlechterer kämen. Aber eine solche Uhr dürfte kaum möglich sein. Der Staatsdienst mußte sich aber so möglich machen oder sich nach der Entwicklung, die er heute erlangt hat, aufgeben. Es ist nun einleuchtend, daß die Fassung des Dienstes eine strenge sein muß, daß es nicht erlaubt sein könne, daß ein Einzelner den Dienstesinhalt in einer andern Fassung als in der vorgeschriebenen anstrebe, ja daß sogar mit Rücksicht auf die Zusammenhaltung des Ganzen ein Einzelnes minder gut verrichtet werden muß, als man es, von seinem Standpunkte allein betrachtet, tun könnte. Die Eignung zum Staatsdienste von Seite des Gemütes, abgesehen von den andern Fähigkeiten, besteht nun auch in wesentlichen Teilen darin, daß man entweder das Einzelne mit Eifer zu tun im Stande ist, ohne dessen Zusammenhang mit dem großen Ganzen zu kennen, oder daß man Scharfsinn genug hat, den Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen zum Wohle und Zwecke des Allgemeinen einzusehen und daß man dann dieses Einzelne mit Lust und Begeisterung vollführt. Das letztere tut der eigentliche Staatsmann, das erste der sogenannte gute Staatsdiener. Ich war keins von beiden. Ich hatte von Kindheit an, freilich ohne es damals oder in den Jugendjahren zu wissen, zwei Eigenschaften, die dem Gesagten geradezu entgegen standen. Ich war erstens gerne der Herr meiner Handlungen. Ich entwarf gerne das Bild dessen, was ich tun sollte, selbst und vollführte es auch gerne mit meiner alleinigen Kraft. Daraus folgte, daß ich schon als Kind, wie meine Mutter erzählte, eine Speise, ein Spielzeug und dergleichen lieber nahm als mir geben ließ, daß ich gegen Hilfe widerspenstig war, daß man mich als Knaben und Jüngling ungehorsam und eigensinnig nannte, und daß man in meinen Männerjahren mir Starrsinn vorwarf. Das hinderte aber nicht, daß ich dort, wo mir ein Fremdes durch Gründe und hohe Triebfedern unterstützt gegeben wurde, dasselbe als mein Eigenes aufnahm und mit der tiefsten Begeisterung durchführte. Das habe ich einmal in meinem Leben gegen meine stärkste Neigung, die ich hatte, getan, um der Ehre und der Pflicht zu genügen. Ich werde es euch später erzählen. Daraus folgt, daß ich eigensinnig in der Bedeutung des Wortes, wie man es gewöhnlich nimmt, nicht gewesen bin und es auch im Alter, in dem man überhaupt immer milder wird, gewiß nicht bin. Eine zweite Eigenschaft von mir war, daß ich sehr gerne die Erfolge meiner Handlungen abgesondert von jedem Fremdartigen vor mir haben wollte, um klar den Zusammenhang des Gewollten und Gewirkten überschauen und mein Tun für die Zukunft regeln zu können. Eine Handlung, die nur gesetzt wird, um einer Vorschrift zu genügen oder eine Fassung zu vollenden, konnte mir Pein erregen. Daraus folgte, daß ich Taten, deren letzter Zweck ferne lag oder mir nicht deutlich war, nur lässig zu vollführen geneigt war, während ich Handlungen, wenn ihr Ziel auch sehr schwer und nur durch viele Mittelglieder zu erreichen war, mit Eifer und Lust zu Ende führte, sobald ich mir nur den Hauptzweck und die Mittelzwecke deutlich machen und mir aneignen konnte. Im ersten Falle vermochte ich es mir nur durch die Vorstellung, daß der Zweck wenn auch dunkel, doch ein hoher sei, abzuringen, daß ich mit aller Kraft an das Werk ging, wobei ich aber immer zum Eilen geneigt war, weshalb man mich auch ungeduldig schalt: im zweiten Falle gingen die Kräfte von selber an das Werk, und es wurde mit der größten Ausdauer und mit Verwendung aller gegebenen Zeit zu Stande gebracht, weshalb man mich auch wieder hartnäckig nannte. Ihr werdet in diesem Hause Dinge gesehen haben, aus denen euch klar geworden ist, daß ich Zwecke auch mit großer Geduld verfolgen kann. Sonderbar ist es überhaupt und dürfte von größerer Bedeutung sein, als man ahnt, daß mit dem zunehmenden Alter die Weitaussichtigkeit der Pläne wächst, man denkt an Dinge, die unabsehliche Strecken jenseits alles Lebenszieles liegen, was man in der Jugend nicht tut, und das Alter setzt mehr Bäume und baut mehr Häuser als die Jugend. Ihr seht, daß mir zwei Hauptdinge zum Staatsdiener fehlen, das Geschick zum Gehorchen, was eine Grundbedingung jeder Gliederung von Personen und Sachen ist, und das Geschick zu einer tätigen Einreihung in ein Ganzes und kräftiger Arbeit für Zwecke, die außer dem Gesichtskreise liegen, was nicht minder eine Grundbedingung für jede Gliederung ist. Ich wollte immer am Grundsätzlichen ändern und die Pfeiler verbessern, statt in einem Gegebenen nach Kräften vorzugehen, ich wollte die Zwecke allein entwerfen und wollte jede Sache so tun, wie sie für sich am besten ist, ohne auf das Ganze zu sehen und ohne zu beachten, ob nicht durch mein Vorgehen anderswo eine Lücke gerissen werde, die mehr schadet als mein Erfolg nützt. Ich wurde, da ich noch kaum mehr als ein Knabe war, in meine Laufbahn geführt, ohne daß ich sie und mich kannte, und ich ging in derselben fort, so weit ich konnte, weil ich einmal in ihr war und mich schämte, meine Pflicht nicht zu tun. Wenn einiges Gute durch mich zu Stande kam, so rührt es daher, daß ich einerseits in Betrachtung meines Amtes und seiner Gebote meinen Kräften eine mögliche Tätigkeit abrang und daß andererseits die Zeitereignisse solche Aufgaben herbei führten, bei denen ich die Pläne des Handelns entwerfen und selber durchführen konnte. Wie tief aber mein Wesen litt, wenn ich in Arten des Handelns, die seiner Natur entgegengesetzt sind, begriffen war, das kann ich euch jetzt kaum ausdrücken, noch wäre ich damals im Stande gewesen, es auszudrücken. Mir fiel in jener Zeit immer und unabweislich die Vergleichung ein, wenn etwas, das Flossen hat, fliegen, und etwas, das Flügel hat, schwimmen muß. Ich legte deshalb in einem gewissen Lebensalter meine Ämter nieder. Wenn ihr fragt, ob es denn notwendig sei, daß sich in der Gliederung des Staatsdienstes eine so große Anzahl von Personen befinde, und ob man nicht einen Teil der allgemeinen Geschäfte, wie sie jetzt sind, zu besonderen Geschäften machen und sie besonderen Körperschaften oder Personen, die sie hauptsächlich angehen, überlassen könnte, wodurch eine größere Übersicht in den Staatsdienst käme und wodurch es möglich würde, daß sich hervorragende Begabungen mehr im Entwerfen und Vollführen von Plänen zu allgemeinem Besten geltend machen könnten: so antworte ich: diese Frage ist allerdings eine wichtige und ihre richtige Beantwortung von der größten Bedeutung; aber eben die richtige Beantwortung in allen ihren Einzelnheiten dürfte eine der schwersten Aufgaben sein, und ich getraue mir nicht, von mir zu behaupten, daß ich diese richtige Beantwortung zu geben im Stande wäre. Auch liegt dieser Gegenstand unserem heutigen Gespräche zu ferne, und wir können ein anderes Mal von ihm reden, so weit wir im Urteile über ihn zu kommen vermögen. Das ist gewiß: wenn auch im gegenwärtigen Staatsdienste Veränderungen notwendig sein sollten, und wenn die Veränderungen in dem früher angeführten Sinne vor sich gehen werden, so hat der gegenwärtige Zustand doch in den allgemeinen Umwandlungen, denen der Staat so wie jedes menschliche Ding und die Erde selbst unterworfen ist, sein Recht, er ist ein Glied der Kette und wird seinem Nachfolger so weichen, wie er selber aus seinem Vorläufer hervor gegangen ist. Wir haben schon vielmal über Lebensberuf gesprochen, und daß es so schwer ist, seine Kräfte zu einer Zeit zu kennen, in welcher man ihnen ihre Richtung vorzeichnen, das heißt, einen Lebensweg wählen muß. Wir hatten bei unsern Gesprächen hauptsächlich die Kunst im Auge, aber auch von jeder andern Lebensbeschäftigung gilt dasselbe. Selten sind die Kräfte so groß, daß sie sich der Betrachtung aufdrängen und die Angehörigen eines jungen Menschen zur Ergreifung des rechten Gegenstandes für ihn führen, oder daß sie selber mit großer Gewalt ihren Gegenstand ergreifen. Ich hatte außer den Eigenschaften meines Geistes, die ich euch eben darlegte, noch eine besondere, deren Wesenheit ich erst sehr spät erkannte. Von Kindheit an hatte ich einen Trieb zur Hervorbringung von Dingen, die sinnlich wahrnehmbar sind. Bloße Beziehungen und Verhältnisse sowie die Abziehung von Begriffen hatten für mich wenig Wert, ich konnte sie in die Versammlung der Wesen meines Hauptes nicht einreihen. Da ich noch klein war, legte ich allerlei Dinge aneinander und gab dem so Entstandenen den Namen einer Ortschaft, den ich etwa zufällig öfter gehört hatte, oder ich bog eine Gerte, einen Blumenstengel und dergleichen zu einer Gestalt und gab ihr einen Namen, oder ich machte aus einem Fleckchen Tuch den Vetter, die Muhme; ja sogar jenen abgezogenen Begriffen und Verhältnissen, von denen ich sprach, gab ich Gestalten und konnte sie mir merken. So erinnere ich mich noch jetzt, daß ich als Kind öfter das Wort Kriegswerbung hörte. Wir bekamen damals einen neuen Ahorntisch, dessen Plattenteile durch dunkelfarbige Holzkeile an einander gehalten wurden. Der Querschnitt dieser Keile kam als eine dunkle Gestalt an der Dicke der Platte quer über die Fuge zum Vorscheine, und diese Gestalt hieß ich die Kriegswerbung. Diese sinnliche Regung, die wohl alle Kinder haben, wurde bei mir, da ich heran wuchs, immer deutlicher und stärker. Ich hatte Freude an allem, was als Wahrnehmbares hervorgebracht wurde, an dem Keimen des ersten Gräsleins, an dem Knospen der Gesträuche, an dem Blühen der Gewächse, an dem ersten Reife, der ersten Schneeflocke, an dem Sausen des Windes, dem Rauschen des Regens, ja an dem Blitze und Donner, obwohl ich beide fürchtete. Ich ging zusehen, wenn die Zimmerleute Holz aushauten, wenn eine Hütte gezimmert, ein Brett angenagelt wurde. Ja, die Worte, die einen Gegenstand sinnlich vorstellbar bezeichneten, waren mir weit lieber als die, welche ihn nur allgemein angaben. So zum Beispiele traf es mich viel mächtiger, wenn jemand sagte: der Graf reitet auf dem Schecken, als: er reitet auf einem Pferde. Ich zeichnete mit einem Rotstifte Hirsche, Reiter, Hunde, Blumen, mit Vorliebe aber Städte, von denen ich ganz wunderbare Gestalten zusammensetzte. Ich machte aus feuchtem Lehm Palläste, aus Holzrinde Altäre und Kirchen. Ich nenne diesen Trieb Schaffungslust. Er ist bei vielen Menschen mehr oder minder vorhanden. Eine noch größere Zahl aber hat die Bewahrungslust, von der der Geiz eine häßliche Abart ist. Selbst in späteren Jahren trat diese Lust nicht zurück. Da ich einmal an unserem schönen Strome zu wohnen kam und im ersten Winter zum ersten Male das Treibeis sah, konnte ich mich nicht satt sehen an dem Entstehen desselben und an dem gegenseitigen Anstoßen und Abreiben der mehr oder minder runden Kuchen. Selbst in den nächstfolgenden Wintern stand ich oft stundenlange an dem Ufer und sah den Eisbildungen zu, besonders der Entstehung des Standeises. Das, was Vielen so unangenehm ist, das Verlassen einer Wohnung und das Beziehen einer andern, machte mir Lust. Mich freute das Einpacken, das Auspacken und die Instandsetzung der neuen Räume. In den Jünglingsjahren trat eine weitere Seite dieses Triebes hervor. Ich liebte nicht bloß Gestalten, sondern ich liebte schöne Gestalten. Dies war wohl auch schon in dem Kindertriebe vorhanden. Rote Farben, sternartige oder vielverschlungene Dinge sprachen mich mehr an als andere. Es kam aber diese Eigenschaft damals weniger zum Bewußtsein. Als Jüngling begehrte ich die Gestalten wie sie als Körper aus der Bildhauerei und Baukunst hervor gehen, als Flächen, Linien und Farben aus der Malerei, als Folge der Gefühle in der Musik, der menschlich sittlichen und der irdisch merkwürdigen Zustände in der Dichtkunst. Ich gab mich diesen Gestalten mit Wärme hin und verlangte Gebilde, die ihnen ähnlich sind im Leben. Felsen, Berge, Wolken, Bäume, die ihnen glichen, liebte ich, die entgegengesetzten verachtete ich. Menschen, menschliche Handlungen und Verhältnisse, die ihnen entsprachen, zogen mich an, die andern stießen mich ab. Es war, ich erkannte es spät, im Grunde die Wesenheit eines Künstlers, die sich in mir offenbarte und ihre Erfüllung heischte. Ob ich ein guter oder ein mittelmäßiger Künstler geworden wäre, weiß ich nicht. Ein großer aber wahrscheinlich nicht, weil dann nach allem Vermuten doch die Begabung durchgebrochen wäre und ihren Gegenstand ergriffen hätte. Vielleicht irre ich mich auch darin, und es war mehr bloß die Anlage des Kunstverständnisses, was sich offenbarte, als die der Kunstgestaltung. Wie das aber auch ist: in jedem Falle waren die Kräfte, die sich in mir regten, dem Wirken eines Staatsdieners eher hinderlich als förderlich. Sie verlangten Gestalten und bewegten sich um Gestalten. So wie aber der Staat selber die Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen ist, also nicht eine Gestalt, sondern eine Fassung: so beziehen sich die Ergebnisse der Arbeiten der Staatsmänner meist auf Beziehungen und Verhältnisse der Staatsglieder oder der Staaten, sie liefern daher Fassungen, nicht Gestalten. So wie ich in der Kindheit oft den abgezogenen Begriffen eine Gestalt leihen mußte, um sie halten zu können, so habe ich oft in gereiften Jahren im Staatsdienste, wenn es sich um Staatsbeziehungen, um Forderungen anderer Staaten an uns oder unseres Staates an andere handelte, mir die Staaten als einen Körper und eine Gestalt gedacht und ihre Beziehungen dann an ihre Gestalten angeknüpft. Auch habe ich nie vermocht, die bloßen eigenen Beziehungen oder den Nutzen unseres Staates allein als das höchste Gesetz und die Richtschnur meiner Handlungen zu betrachten. Die Ehrfurcht vor den Dingen, wie sie an sich sind, war bei mir so groß, daß ich bei Verwicklungen, streitigen Ansprüchen und bei der Notwendigkeit, manche Sachen zu ordnen, nicht auf unsern Nutzen sah, sondern auf das, was die Dinge nur für sich forderten und was ihrer Wesenheit gemäß war, damit sie das wieder werden, was sie waren, und das, was ihnen genommen wurde, erhalten, ohne welchem sie nicht sein können, was sie sind. Diese meine Eigenschaft hat mir manchen Kummer bereitet, sie hat mir hohen Tadel zugezogen; aber sie hat mir auch Achtung und Anerkennung eingebracht. Wenn meine Meinung angenommen und ins Werk gesetzt worden war, so hatte die neue Ordnung der Dinge, weil sie auf das Wesentliche ihrer Natur gegründet war, Bestand, sie brachte in so ferne, weil wir vor erneuerten Unordnungen, also vor wiederholter Kraftanstrengung geschützt waren, unserem Staate einen größeren Nutzen, als wenn wir früher den einseitigen angestrebt hätten, und ich erhielt Ehrenzeichen, Lob und Beförderung. Wenn ich in jenen Tagen der schweren Arbeit eine Ruhezeit hatte und auf einer kleinen Reise die erhabene Gestalt eines Berges sah oder eine Hügelreihe sich türmender Wolken oder die blauen Augen eines freundlichen Landmädchens oder den schlanken Körper eines Jünglings auf einem schönen Pferde – oder wenn ich auch nur in meinem Zimmer vor meinen Gemälden stand, deren ich damals schon manche sammelte, oder vor einer kleinen Bildsäule, so verbreitete sich eine Ruhe und ein Wohlbehagen über mein Inneres, als wäre es in seine Ordnung gerückt worden. Wenn ein künstlerisches Gestaltungsvermögen in mir war, so war es das eines Baumeisters oder eines Bildhauers oder auch noch das eines Malers, gewiß aber nicht das eines Dichters oder gar eines Tonsetzers. Die ersteren Gegenstände zogen mich immer mehr an, die letzteren standen mir ferner. Wenn es aber mehr eine Kunstliebe war, was sich in mir äußerte, nicht eine Schöpfungskraft, so war es immerhin auch ein Vermögen der Gestalten, aber nur eines, die Gestalten aufzunehmen. Wenn diese Art von Eigentümlichkeit den Besitzer zunächst beglückt, wie ja jede Kraft, selbst die Schaffungskraft, zuerst ihres Besitzers willen da ist, so bezieht sie sich doch auch auf andere Menschen, wie in zweiter Hinsicht jede Kraft, selbst die eigenste eines Menschen, nicht in ihm verschlossen bleiben kann, sondern auf andere übergeht. Es ist eine sehr falsche Behauptung, die man aber oft hört, daß jedes große Kunstwerk auf seine Zeit eine große Wirkung hervorbringen müsse, daß ferner das Werk, welches eine große Wirkung hervor bringt, auch ein großes Kunstwerk sei, und daß dort, wo bei einem Werke die Wirkung ausbleibt, von einer Kunst nicht geredet werden kann. Wenn irgend ein Teil der Menschheit, ein Volk, rein und gesund am Leibe und an der Seele ist, wenn seine Kräfte gleichmäßig entwickelt, nicht aber nach einer Seite unverhältnismäßig angespannt und tätig sind, so nimmt dieses Volk ein reines und wahres Kunstwerk treu und warm in sein Herz auf, wozu es keiner Gelehrsamkeit, sondern nur seiner schlichten Kräfte bedarf, die das Werk als ein ihnen Gleichartiges aufnehmen und hegen. Wenn aber die Begabungen eines Volkes, und seien sie noch so hoch, nach einer Richtung hin in weiten Räumen voraus eilen, wenn sie gar auf bloße Sinneslust oder auf Laster gerichtet sind, so müssen die Werke, welche eine große Wirkung hervor bringen sollen, auf jene Richtung, in der die Kräfte vorzugsweise tätig sind, hinzielen, oder sie müssen Sinneslust und Laster darstellen. Reine Werke sind einem solchen Volke ein Fremdes, es wendet sich von ihnen. Daher rührt die Erscheinung, daß edle Werke der Kunst ein Zeitalter rühren und begeistern können, und daß dann ein Volk kömmt, dem sie nicht mehr sprechen. Sie verhüllen ihr Haupt und harren bis andere Geschlechter an ihnen vorüber wandeln, die wieder reines Sinnes sind und zu ihnen empor blicken. Diesen lächeln sie und von diesen werden sie wieder wie herübergerettete Heiligtümer in Tempel gebracht. In entarteten Völkern blüht zuweilen, aber sehr selten, ein reines Werk wie ein vereinsamter Strahl hervor, es wird nicht beachtet und wird später von einem Menschenforscher entdeckt, wie jener Gerechte in Sodoma. Damit aber der Dienst der Kunst leichter werde, sind in jedem Zeitalter solche, denen ein tieferer Sinn für Kunstwerke gegeben ward, sie sehen mit klarerem Auge in ihre Teile, nehmen sie mit Wärme und Freude in ihr Herz und übergeben sie so ihren Mitmenschen. Wenn man die Erschaffenden Götter nennt, so sind jene die Priester dieser Götter. Sie verzögern den Schritt des Unheiles, wenn der Kunstdienst zu verfallen beginnt, und sie tragen, wenn es nach der Finsternis wieder hell werden soll, die Leuchte voran. Wenn ich nun ein solcher war, wenn ich bestimmt war, durch Anschauung hoher Gestalten der Kunst und der Schöpfung, die mir ja immer mit freundlichen Augen zugewinkt haben, Freude in mein Herz zu sammeln, und Freude, Erkenntnis und Verehrung der Gestalten auf meine Mitmenschen zu übertragen, so war mir meine Staatslaufbahn in diesem Berufe wieder sehr hinderlich, und dürftige Spätblüten können den Sommer, dessen kräftige Lüfte und warme Sonne unbenützt vorüber gingen, nicht ersetzen. Es ist traurig, daß man sich nicht so leicht den Weg, der der vorzüglichste in jedem Leben sein soll, wählen kann. Ich wiederhole, was wir oft gesagt haben und womit euer ehrwürdiger Vater auch übereinstimmt, daß der Mensch seinen Lebensweg seiner selbst willen zur vollständigen Erfüllung seiner Kräfte wählen soll. Dadurch dient er auch dem Ganzen am Besten, wie er nur immer dienen kann. Es wäre die schwerste Sünde, seinen Weg nur ausschließlich dazu zu wählen, wie man sich so oft ausdrückt, der Menschheit nützlich zu werden. Man gäbe sich selber auf und müßte in den meisten Fällen im eigentlichen Sinne sein Pfund vergraben. Aber was ist es mit der Wahl? Unsere gesellschaftlichen Verhältnisse sind so geworden, daß zur Befriedigung unserer stofflichen Bedürfnisse ein sehr großer Aufwand gehört. Daher werden junge Leute, ehe sie sich selber bewußt werden, in Laufbahnen gebracht, die ihnen den Erwerb dessen, was sie zur Befriedigung der angeführten Bedürfnisse brauchen, sichern. Von einem Berufe ist da nicht die Rede. Das ist schlimm, sehr schlimm, und die Menschheit wird dadurch immer mehr eine Herde. Wo noch eine Wahl möglich ist, weil man nicht nach sogenanntem Broderwerbe auszugehen braucht, dort sollte man sich seiner Kräfte sehr klar bewußt werden, ehe man ihnen den Wirkungskreis zuteilt. Aber muß man nicht in der Jugend wählen, weil es sonst zu spät ist? Und kann man sich in der Jugend immer seiner Kraft bewußt werden? Es ist schwierig, und mögen, die beteiligt sind, darüber wachen, daß weniger leichtsinnig verfahren werde. Lasset uns über diesen Gegenstand abbrechen. Ich wollte euch das, was ich gesagt habe, sagen, ehe ich euch erzähle, wie ich mit den Angehörigen eurer künftigen Braut zusammenhänge. Ich sagte es euch, damit ihr ungefähr den Stand beurteilen könnt, auf dem ich nun stehe. Wir wollen zur Fortsetzung eine andere Zeit bestimmen.«

Nach diesen Worten ging das Gespräch auf andere Gegenstände über, wir machten dann auch einen Spaziergang, dem sich auch Gustav zugesellte.


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