Adalbert Stifter
Der Nachsommer
Adalbert Stifter

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Nach dieser Rede waren alle aufgestanden.

»Du bist heuer zu sehr guter Zeit gekommen, Mathilde«, sagte mein Gastfreund, »keine einzige der Rosen ist noch aufgebrochen; aber alle sind bereit dazu.«

Wir hatten uns während dieser Rede der Tür genähert, und mein Gastfreund hatte mich gebeten, bei der Gesellschaft zu bleiben.

Wir gingen bei dem grünen Gitter hinaus und gingen auf den Sandplatz vor dem Hause. Die Leute mußten von diesem Vorgange schon unterrichtet sein; denn ihrer zwei brachten einen geräumigen Lehnsessel und stellten ihn in einer gewissen Entfernung mit seiner Vorderseite gegen die Rosen.

Die Frau setzte sich in den Sessel, legte die Hände in den Schoß und betrachtete die Rosen.

Wir standen um sie. Natalie stand zu ihrer Linken, neben dieser Gustav, mein Gastfreund stand hinter dem Stuhle und ich stellte mich, um nicht zu nahe an Natalie zu sein, an die rechte Seite und etwas weiter zurück.

Nachdem die Frau eine ziemliche Zeit gesessen war, stand sie schweigend auf, und wir verließen den Platz.

Wir gingen nun in das Schreinerhaus. Eustach war nicht bei der allgemeinen Bewillkommnung im Speisezimmer gewesen. Er mußte wohl als Künstler betrachtet werden, dem man einen Besuch zudenke. Ich erkannte aus dem ganzen Benehmen, daß das Verhältnis in der Tat so sei und als das richtigste empfunden werde. Eustach mußte das gewußt haben; denn er stand mit seinen Leuten ohne die grünen Schürzen vor der Tür, um die Angekommenen zu begrüßen. Die Frau dankte freundlich für den Gruß aller, redete Eustach herzlich an, fragte ihn um sein und seiner Leute Wohlbefinden, um ihre Arbeiten und Bestrebungen, und sprach von vergangenen Leistungen, was ich, da mir diese fremd waren, nicht ganz verstand. Hierauf gingen wir in die Werkstätte, wo die Frau jede der einzelnen Arbeiterstellen besah. In dem Zimmer Eustachs sprach sie die Bitte aus, daß er ihr bei ihrem längeren Aufenthalte manches Einzelne zeigen und näher erklären möge.

Von dem Schreinerhause gingen wir in die Gärtnerwohnung, wo die Frau ein Weilchen mit den alten Gärtnerleuten sprach.

Hierauf begaben wir uns in das Gewächshaus, zu den Ananas, zu den Cacteen und in den Garten.

Die Frau schien alle Stellen genau zu kennen; sie blickte mit Neugierde auf die Plätze, auf denen sie gewisse Blumen zu finden hoffte, sie suchte bekannte Vorrichtungen auf und blickte sogar in Büsche, in denen etwa noch das Nest eines Vogels zu erwarten war. Wo sich etwas seit früher verändert hatte, bemerkte sie es und fragte um die Ursache. So waren wir durch den ganzen Garten bis zu dem großen Kirschbaume und zu der Felderrast gekommen. Dort sprach sie noch etwas mit meinem Gastfreunde über die Ernte und über die Verhältnisse der Nachbarn.

Natalie sprach äußerst wenig.

Als wir in das Haus zurück gekommen waren, begaben wir uns, da das Mittagsmahl nahe war, auf unsere Zimmer. Mein Gastfreund sagte mir noch vorher, ich möge mich zum Mittagessen nicht umkleiden; es sei dieses in seinem Hause selbst bei Besuchen von Fremden nicht Sitte, und ich würde nur auffallen.

Ich dankte ihm für die Erinnerung.

Als ich, da die Hausglocke zwölf Uhr geschlagen hatte, in das Speisezimmer hinunter gegangen war, fand ich in der Tat die Gesellschaft nicht umgekleidet. Mein Gastfreund war in den Kleidern, wie er sie alle Tage hatte, und die Frauen trugen die nehmlichen Gewänder, in denen sie den Spaziergang gemacht hatten. Gustav und ich waren wie gewöhnlich.

Am oberen Ende des Tisches stand ein etwas größerer Stuhl und vor ihm auf dem Tische ein Stoß von Tellern. Mein Gastfreund führte, da ein stummes Gebet verrichtet worden war, die Frau zu diesem Stuhle, den sie sofort einnahm. Links von ihr saß mein Gastfreund, rechts ich, neben meinem Gastfreunde Natalie und neben ihr Gustav. Mir fiel es auf, daß er die Frau als ersten Gast zu dem Platze mit den Tellern geführt hatte, den in meiner Eltern Hause meine Mutter einnahm und von dem aus sie vorlegte. Es mußte aber hier so eingeführt sein; denn wirklich begann die Frau sofort die Teller der Reihe nach mit Suppe zu füllen, die ein junges Aufwartemädchen an die Plätze trug.

Mich erfüllte das mit großer Behaglichkeit. Es war mir, als wenn das immer bisher gefehlt hätte. Es war nun etwas wie eine Familie in dieses Haus gekommen, welcher Umstand mir die Wohnung meiner Eltern immer so lieb und angenehm gemacht hatte.

Das Essen war so einfach, wie es in allen Tagen gewesen war, die ich in dem Rosenhause zugebracht hatte.

Die Gespräche waren klar und ernst, und mein Gastfreund führte sie mit einer offenen Heiterkeit und Ruhe.

Nach dem Essen kam ein großer Korb, welchen Arabella, das Dienstmädchen Mathildens, welches mit den Frauen gekommen war, welches ich aber nicht mehr hatte aussteigen gesehen, herein gebracht hatte. Außer dem Korbe wurde auch ein Pack in grauem Papiere und mit schönen Schnüren zugeschnürt gebracht und auf zwei Sessel gelegt, die an der Wand standen. In dem Korbe befanden sich die Geschenke, welche Mathilde den Leuten mitgebracht hatte und welche jetzt ausgepackt waren. Ich sah, daß diese Geschenkausteilung gebräuchlich war und öfter vorkommen mußte. Das Gesinde kam herein, und jede der Personen erhielt etwas Geeignetes, sei es ein schwarzes seidnes Tuch für ein Mädchen oder eine Schürze oder ein Stoff auf ein Kleid, oder sei es für einen Mann eine Reihe Silberknöpfe auf eine Weste oder eine glänzende Schnalle auf das Hutband oder eine zierliche Geldtasche. Der Gärtner empfing etwas, das in sehr feine Metallblätter gewickelt war. Ich vermutete, daß es eine besondere Art von Schnupftabak sein müsse.

 

Als schon alles ausgeteilt war, als sich schon alle auf das beste bedankt und aus dem Zimmer entfernt hatten, wies Mathilde auf den Pack, der noch immer auf den Sesseln lag, und sagte: »Gustav, komme her zu mir.«

Der Jüngling stand auf und ging um den Tisch herum zu ihr. Sie nahm ihn freundlich bei der Hand und sagte: »Was noch da liegt, gehört dir. Du hast mich schon lange darum gebeten, und ich habe es dir lange versagen müssen, weil es noch nicht für dich war. Es sind Goethes Werke. Sie sind dein Eigentum. Vieles ist für das reifere Alter, ja für das reifste. Du kannst die Wahl nicht treffen, nach welcher du diese Bücher zur Hand nehmen oder auf spätere Tage aufsparen sollst. Dein Ziehvater wird zu den vielen Wohltaten, die er dir erwies, auch noch die fügen, daß er für dich wählt, und du wirst ihm in diesen Dingen ebenso folgen, wie du ihm bisher gefolgt hast.«

»Gewiß, liebe Mutter, werde ich es tun, gewiß«, sagte Gustav.

»Die Bücher sind nicht neue und schön eingebundene, wie du vielleicht erwartest«, fuhr sie fort. »Es sind dieselben Bücher Goethes, in welchen ich in so mancher Nachtstunde und in so mancher Tagesstunde mit Freude und mit Schmerzen gelesen habe und die mir oft Trost und Ruhe zuzuführen geeignet waren. Es sind meine Bücher Goethes, die ich dir gebe. Ich dachte, sie könnten dir lieber sein, wenn du außer dem Inhalte die Hand deiner Mutter daran fändest, als etwa nur die des Buchbinders und Druckers.«

»O lieber, viel lieber, teure Mutter, sind sie mir«, antwortete Gustav, »ich kenne ja die Bücher, die mit dem feinen braunen Leder gebunden sind, die feine Goldverzierung auf dem Rücken haben und in der Goldverzierung die niedlichen Buchstaben tragen, die Bücher, in denen ich dich so oft habe lesen gesehen, weshalb es auch kam, daß ich dich schon wiederholt um solche Bücher gebeten habe.«

»Ich dachte es, daß sie dir lieber sind«, sagte die Frau, »und darum habe ich sie dir gegeben. Da ich aber auch wohl noch gerne für den Überrest meines Lebens ein Wort von diesem merkwürdigen Manne vernehmen möchte, werde ich mir die Bücher neu kaufen, für mich haben die neuen die Bedeutung wie die alten. Du aber nimm die deinigen in Empfang und bringe sie an den Ort, der dir dafür eingeräumt ist.«

Gustav küßte ihr die Hand und legte seinen Arm wie in unbeholfener Zärtlichkeit auf die Schulter ihres Gewandes. Er sprach aber kein Wort, sondern ging zu den Büchern und begann, ihre Schnur zu lösen.

Als ihm dies gelungen war, als er die Bücher aus den Umschlagpapieren gelöst und in mehreren geblättert hatte, kam er plötzlich mit einem in der Hand zu uns und sagte: »Aber siehst du, Mutter, da sind manche Zeilen mit einem feinen Bleistifte unterstrichen und mit demselben feingespitzten Stifte sind Worte an den Rand geschrieben, die von deiner Hand sind. Diese Dinge sind dein Eigentum, sie sind in den neugekauften Büchern nicht enthalten, und ich darf dir dein Eigentum nicht entziehen.«

»Ich gebe es dir aber«, antwortete sie, »ich gebe es dir am liebsten, der du jetzt schon von mir entfernt bist und in Zukunft wahrscheinlich noch viel weiter von mir entfernt leben wirst. Wenn du in den Büchern liesest, so liesest du das Herz des Dichters und das Herz deiner Mutter, welches, wenn es auch an Werte tief unter dem des Dichters steht, für dich den unvergleichlichen Vorzug hat, daß es dein Mutterherz ist. Wenn ich an Stellen lesen werde, die ich unterstrichen habe, werde ich denken, hier erinnert er sich an seine Mutter, und wenn meine Augen über Blätter gehen werden, auf welche ich Randbemerkungen niedergeschrieben habe, wird mir dein Auge vorschweben, welches hier von dem Gedruckten zu dem Geschriebenen sehen und die Schriftzüge von Einer vor sich haben wird, die deine beste Freundin auf der Erde ist. So werden die Bücher immer ein Band zwischen uns sein, wo wir uns auch befinden. Deine Schwester Natalie ist bei mir, sie hört öfter als du meine Worte, und ich höre auch oft ihre liebe Stimme und sehe ihr freundliches Angesicht.«

»Nein, nein, Mutter«, sagte Gustav, »ich kann die Bücher nicht nehmen, ich beraube dich und Natalie.«

»Natalie wird schon etwas anderes bekommen«, antwortete die Mutter. »Daß du mich nicht beraubst, habe ich dir schon erklärt, und es war seit längerer Zeit mein wohldurchdachter Wille, daß ich dir diese Bücher geben werde.«

Gustav machte keine Einwendungen mehr. Er nahm ihre Rechte in seine beiden Hände, drückte sie, küßte sie und ging dann wieder zu den Büchern.

Als er alle ausgepackt hatte, holte er einen Diener und ließ sie durch ihn in seine Wohnung tragen.

 

Nach dem Essen war es im Plane, daß wir uns zerstreuen sollten und jeder sich nach seinem Sinne beschäftige.

Ich hatte es während des Vorganges mit den Büchern nicht vermocht, auf das Angesicht Nataliens zu schauen, was etwa in ihr vorgehen möge und was sich in den Zügen spiegle. Ich mußte mir nur denken, sie werde von dem höchsten Beifalle über die Handlung ihrer Mutter durchdrungen sein. Als wir uns aber von dem Tische erhoben, als wir das stumme Gebet gesprochen und uns wechselweise verneigt hatten, wobei ich meine Augen immer nur auf meinen alten Gastfreund und auf die Frau gerichtet hatte, und als wir uns jetzt anschickten, das Zimmer zu verlassen, und Natalie den Arm Gustavs nahm und beide Geschwister sich umkehrten, um der Tür zuzugehen, wagte ich es, den Blick zu dem Spiegel zu erheben, in dem ich sie sehen mußte. Ich sah aber fast nichts mehr als die vier ganz gleichen schwarzen Augen sich in dem Spiegel umwenden.

Wir traten alle in das Freie.

Mein Gastfreund und die Frau begaben sich in eine Wirtschaftstube.

Natalie und Gustav gingen in den Garten, er zeigte ihr Verschiedenes, das ihm etwa an dem Herzen lag oder worüber er sich freute, und sie nahm gewiß den Anteil, den die Schwester an den Bestrebungen des Bruders hat, den sie liebt, auch wenn sie die Bestrebungen nicht ganz verstehen sollte und sie, wenn es auf sie allein ankäme, nicht zu den ihrigen machen würde. So tut es ja auch Klotilde mit mir in meiner Eltern Hause.

Ich stand an dem Eingange des Hauses und sah den beiden Geschwistern nach, so lange ich sie sehen konnte. Einmal erblickte ich sie, wie sie vorsichtig in ein Gebüsch schauten. Ich dachte mir, er werde ihr ein Vogelnest gezeigt haben und sie sehe mit Teilnahme auf die winzige befiederte Familie. Ein anderes Mal standen sie bei Blumen und schauten sie an. Endlich sah ich nichts mehr. Das lichte Gewand der Schwester war unter den Bäumen und Gesträuchen verschwunden, manche schimmernde Stellen wurden zuweilen noch sichtbar und dann nichts mehr. Ich ging hierauf in meine Zimmer.

Mir war, als müsse ich dieses Mädchen schon irgendwo gesehen haben; aber da ich mich bisher viel mehr mit leblosen Gegenständen oder mit Pflanzen beschäftigt hatte als mit Menschen, so hatte ich keine Geschicklichkeit, Menschen zu beurteilen, ich konnte mir die Gesichtszüge derselben nicht zurecht legen, sie mir nicht einprägen und sie nicht vergleichen; daher konnte ich auch nicht ergründen, wo ich Natalie schon einmal gesehen haben könnte.

Ich blieb den ganzen Nachmittag in meiner Wohnung.

Als die Hitze des Tages, welcher ganz heiter war, sich ein wenig gemildert hatte, wurde ich aufgefordert, einen Spaziergang mit zu machen. An demselben nahmen mein Gastfreund, Mathilde, Natalie, Gustav und ich Teil. Wir gingen durch eine Strecke des Gartens. Mein Gastfreund, Mathilde und ich bildeten eine Gruppe, da sie mich in ihr Gespräch gezogen hatten, und wir gingen, wo es die Breite des Sandweges zuließ, neben einander. Die andere Gruppe bildeten Natalie und Gustav, und sie gingen eine ziemliche Anzahl Schritte vor uns. Unser Gespräch betraf den Garten und seine verschiedenen Bestandteile, die sich zu einem angenehmen Aufenthalte wohltuend ablösten, es betraf das Haus und manche Verzierungen darin, es erweiterte sich auf die Fluren, auf denen wieder der Segen stand, der den Menschen abermals um ein Jahr weiter helfen sollte, und es ging auf das Land über, auf manche gute Verhältnisse desselben und auf anderes, was der Verbesserung bedürfte. Ich sah den zwei hohen Gestalten nach, die vor uns gingen. Gustav ist mir heute plötzlich als völlig erwachsen erschienen. Ich sah ihn neben der Schwester gehen und sah, daß er größer sei als sie. Dieser Gedanke drängte sich mir mehrere Male auf. War er aber auch größer, so war ihre Gestalt feiner und ihre Haltung anmutiger. Gustav hatte wie sein Ziehvater nichts auf dem Haupte als die Fülle seiner dichten braunen Locken, und als Natalie den sanft schattenden Strohhut, den sie wie ihre Mutter auf hatte, abgenommen und an den Arm gehängt hatte, so zeigten ihre Locken genau die Farbe wie die Gustavs, und wenn die Geschwister, die sich sehr zu lieben schienen, sehr nahe an einander gingen, so war es von ferne, als sähe man eine einzige braune, glänzende Haarfülle und als teilen sich nur unten die Gestalten.

Wir gingen bei der Pforte hinaus, die gegen den Meierhof führt, gingen aber nicht in den Meierhof, sondern machten einen großen Bogen durch die Felder und kamen dann schief über den südlichen Abhang des Hügels wieder zu dem Hause hinauf.

Da die Tage sehr lang waren, so leuchtete noch die Abendröte, wenn wir von unserem Abendessen, das pünktlich immer zur gleichen Zeit sein mußte, aufstanden. Wir gingen daher heute auch noch nach dem Abendessen in den Garten. Wir gingen zu dem großen Kirschbaume empor. Dort setzten wir uns auf das Bänklein. Mein Gastfreund und Mathilde saßen in der Mitte, so daß ihre Angesichter gegen den Garten hinab gerichtet waren. Links von meinem Gastfreunde saß ich, rechts von der Mutter saßen Natalie und Gustav. Die Lüfte dunkelten immer mehr, ein blasser Schein war über die Wipfel des Gartens, der jetzt schwieg, und über das Dach des Hauses gebreitet. Das Gespräch war heiter und ruhig, und die Kinder wendeten oft ihr Angesicht herüber, um an dem Gespräche Anteil zu nehmen und gelegentlich selber ein Wort zu reden.

Da sich der eine und der andere Stern an dem Himmel entzündete und in den Tiefen der Gartengesträuche schon die völlige Dunkelheit herrschte, gingen wir in das Haus und in unsere Zimmer.


 << zurück weiter >>