Adalbert Stifter
Der Nachsommer
Adalbert Stifter

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Der Besuch

Ich blieb ziemlich lange in meinem neuen Aufenthaltsorte. Es entwickelte sich aus den Arbeiten ein Weiteres und Neues und hielt mich fest. Ich drang später noch tiefer in das Gebirgstal ein und begann Dinge, die ich mir für diesen Sommer gar nicht einmal vorgenommen hatte.

Im späten Herbste kehrte ich zu den Meinigen zurück. Es erging mir auf dieser Reise, wie es mir auf jeder Heimreise ergangen war. Als ich das Gebirge verließ, waren die Bergahornblätter und die der Birken und Eschen nicht nur schon längst abgefallen, sondern sie hatten auch bereits ihre schöne gelbe Farbe verloren und waren schmutzig schwarz geworden, was nicht mehr auf die Kinder der Zweige erinnerte, die sie im Sommer gewesen waren, sondern auf die befruchtende Erde, die sie im Winter für den neuen Nachwuchs werden sollten; die Bewohner der Bergtäler und der Halden, die wohl gelegentlich in jeder Jahreszeit Feuer machen, unterhielten es schon den ganzen Tag in ihrem Ofen, um sich zu wärmen, und an heiteren Morgen glänzte der Reif auf den Bergwiesen und hatte bereits das Grün der Farrenkräuter in ein dürres Rostbraun verwandelt: da ich aber in die Ebene gelangt war und die Berge mir am Rande derselben nur mehr wie ein blauer Saum erschienen, und da ich endlich gar auf dem breiten Strome zu unserer Hauptstadt hinabfuhr, umfächelten mich so weiche und warme Lüfte, daß ich meinte, ich hätte die Berge zu früh verlassen. Es war aber nur der Unterschied der Himmelsbeschaffenheit in dem Gebirge und in den entfernten Niederungen. Als ich das Schiff verlassen hatte und an den Toren meiner Heimatstadt angekommen war, trugen die Akazien noch ihr Laub, warmer Sonnenschein legte sich auf die Umfassungsmauern und auf die Häuser, und schöngekleidete Menschen lustwandelten in den Stunden des Nachmittages. Die liebliche rötliche und dunkelblaue Farbe der Weintrauben, die man an dem Tore und auf dem Platze innerhalb desselben feil bot, brachte mir manchen freundlichen und fröhlichen Herbsttag meiner Kindheit in Erinnerung.

Ich ging die gerade Gasse entlang, ich bog in ein paar Nebenstraßen und stand endlich vor dem wohlbekannten Vorstadthause mit dem Garten.

Da ich die Treppe hinangegangen war, da ich die Mutter und die Schwester gefunden hatte, war die erste Frage nach Gesundheit und Wohlbefinden aller Angehörigen. Es war alles im besten Stande, die Mutter hatte auch meine Zimmer ordnen lassen, alles war abgestaubt, gereinigt und an seinem Platze, als hätte man mich gerade an diesem Tage erwartet.

Nach einem kurzen Gespräche mit der Mutter und der Schwester kleidete ich mich, ohne meinen Koffer zu erwarten, von meinen zurückgelassenen Kleidern auf städtische Weise an, um in die Stadt zu gehen und den Vater zu begrüßen, der noch auf seiner Handelsstube war. Das Gewimmel der Leute in den Gassen, das Herumgehen geputzter Menschen in den Baumgängen des grünen Platzes zwischen der Stadt und den Vorstädten, das Fahren der Wägen und ihr Rollen auf den mit Steinwürfeln gepflasterten Straßen und endlich, als ich in die Stadt kam, die schönen Warenauslagen und das Ansehnliche der Gebäude befremdeten und beengten mich beinahe als ein Gegensatz zu meinem Landaufenthalte; aber ich fand mich nach und nach wieder hinein, und es stellte sich als das Langgewohnte und Allbekannte wieder dar. Ich ging nicht zu meinen Freunden, an deren Wohnung ich vorüberkam, ich ging nicht in die Buchhandlung, in der ich manche Stunde des Abends zuzubringen gewohnt war und die an meinem Wege lag, sondern ich eilte zu meinem Vater. Ich fand ihn an dem Schreibtische und grüßte ihn ehrerbietig und wurde auch von ihm auf das Herzlichste empfangen. Nach kurzer Unterredung über Wohlbefinden und andere allgemeine Dinge sagte er, daß ich nach Hause gehen möchte, er habe noch Einiges zu tun, werde aber bald nachkommen, um mit der Mutter, der Schwester und mir den Abend zuzubringen.

Ich ging wieder gerades Weges nach Hause. Dort machte ich einen Gang durch den Garten, sprach einige liebkosende Worte zu dem Hofhunde, der mich mit Heulen und Freudensprüngen begrüßte, und brachte dann noch eine Weile bei der Mutter und der Schwester zu. Hierauf ging ich in alle Zimmer unserer Wohnung, besonders in die mit den alten Geräten, den Büchern und Bildern. Sie kamen mir beinahe unscheinbar vor.

 

Nach einiger Zeit kam auch der Vater. Es war heute in dem Stübchen, in welchem die alten Waffen hingen und um welches der Epheu rankte, zum Abendessen aufgedeckt worden. Man hatte sogar bis gegen Abend die Fenster offen lassen können. Da während meines Ganges in die Stadt mein Koffer und meine Kisten von dem Schiffe gekommen waren, konnte ich die Geschenke, welche ich von der Reise mitgebracht hatte, in das Stübchen schaffen lassen: für die Mutter einige seltsame Töpfe und Geschirre, für den Vater ein Amonshorn von besonderer Größe und Schönheit, andere Marmorstücke und eine Uhr aus dem siebenzehnten Jahrhunderte, und für die Schwester das gewöhnliche Edelweiß, getrockneten Enzian, ein seidenes Bauertüchlein und silberne Brustkettlein, wie man sie in einigen Teilen des Gebirges trägt. Auch was man mir als Geschenke vorbereitet hatte, kam in das Stüblein: von der Mutter und Schwester verfertigte Arbeiten, darunter eine Reisetasche von besonderer Schönheit, dann sämtliche Arten guter Bleifedern, nach den Abstufungen der Härte in einem Fache geordnet, besonders treffliche Federkiele, glattes Papier, und von dem Vater ein Gebirgsatlas, dessen ich schon einige Male Erwähnung getan und den er für mich gekauft hatte. Nachdem alles mit Freuden gegeben und empfangen worden war, setzte man sich zu dem Tische, an dem wir heute Abend nur allein waren, wie es nach und nach bei jeder meiner Zurückkünfte nach einer längeren Abwesenheit der Gebrauch geworden war. Es wurden die Speisen aufgetragen, von denen die Mutter vermutete, daß sie mir die liebsten sein könnten. Die Vertraulichkeit und die Liebe ohne Falsch, wie man sie in jeder wohlgeordneten Familie findet, tat mir nach der längeren Vereinsamung außerordentlich wohl.

 

Als die ersten Besprechungen über alles, was zunächst die Angehörigen betraf und was man in der jüngsten Zeit erlebt hatte, vorüber waren, als man mir den ganzen Gang des Hauswesens während meiner Abwesenheit auseinandergesetzt hatte, mußte ich auch von meiner Reise erzählen. Ich erklärte ihren Zweck und sagte, wo ich gewesen sei und was ich getan habe, ihn zu erreichen. Ich erwähnte auch des alten Mannes und erzählte, wie ich zu ihm gekommen sei, wie gut ich von ihm aufgenommen worden sei und was ich dort gesehen habe. Ich sprach die Vermutung aus, daß er, seiner Sprache nach zu urteilen, aus unserer Stadt sein könnte. Mein Vater ging seine Erinnerungen durch, konnte aber auf keinen Mann kommen, der dem von mir beschriebenen ähnlich wäre. Die Stadt ist groß, meinte er, es könnten da viele Leute gelebt haben, ohne daß er sie hätte kennen lernen können. Die Schwester meinte, vielleicht hätte ich ihn auch der Umgebung zufolge, in welcher ich ihn gefunden habe, schon in einem anderen und besonderen Lichte gesehen und in solchem dargestellt, woraus er schwerer zu erkennen sei. Ich entgegnete, daß ich gar nichts gesagt habe, als was ich gesehen hätte und was so deutlich sei, daß ich es, wenn ich mit Farben besser umzugehen wüßte, sogar malen könnte. Man meinte, die Zeit werde die Sache wohl aufklären, da er mich auf einen zweiten Besuch eingeladen habe und ich gewiß nicht anstehen werde, denselben abzustatten. Daß ich ihn nicht geradezu um seinen Namen gefragt habe, billigten alle meine Angehörigen, da er weit mehr getan, nehmlich mich aufgenommen und beherbergt habe, ohne um meinen Namen oder um meine Herkunft zu forschen.

Der Vater erkundigte sich im Laufe des Gespräches genauer nach manchen Gegenständen in dem Hause des alten Mannes, deren ich Erwähnung getan hatte, besonders fragte er nach den Marmoren, nach den alten Geräten, nach den Schnitzarbeiten, nach den Bildsäulen, nach den Gemälden und den Büchern.

Die Marmore konnte ich ihm fast ganz genau beschreiben, die alten Geräte beinahe auch. Der Vater geriet über die Beschreibung in Bewunderung und sagte, es würde für ihn eine große Freude sein, einmal solche Dinge mit eigenen Augen sehen zu können. Über Schnitzarbeiten konnte ich schon weniger sagen, über die Bücher auch nicht viel, und das wenigste, beinahe gar nichts, über Bildsäulen und Gemälde. Der Vater drang auch nicht darauf und verweilte nicht lange bei diesen letzteren Gegenständen – die Mutter meinte, es wäre recht schön, wenn er sich einmal aufmachte, eine Reise in das Oberland unternähme und die Sachen bei dem alten Manne selber ansähe. Er sitze jetzt immer wieder zu viel in seiner Schreibstube, er gehe in letzter Zeit auch alle Nachmittage dahin und bleibe oft bis in die Nacht dort. Eine Reise würde sein Leben recht erfrischen, und der alte Mann, der den Sohn so freundlich aufgenommen habe, würde ihn gewiß herzlich empfangen und ihm als einem Kenner seine Sammlungen noch viel lieber zeigen als einem andern. Wer weiß, ob er nicht gar auf dieser Reise das eine oder andere Stück für seine Altertumszimmer erwerben könnte. Wenn er immer warte, bis die dringendsten Geschäfte vorüber wären und bis er sich mehr auf die jüngeren Leute in seiner Arbeitsstube verlassen könne, so werde er gar nie reisen; denn die Geschäfte seien immer dringend, und sein Mißtrauen in die Kräfte der jüngeren Leute wachse immer mehr, je älter er werde und je mehr er selber alle Sachen allein verrichten wolle.

Der Vater antwortete, er werde nicht nur schon einmal reisen, sondern sogar eines Tages sich in den Ruhestand setzen und keine Handelsgeschäfte weiter vornehmen.

Die Mutter erwiderte, daß dies sehr gut sein und daß ihr dieser Tag wie ein zweiter Brauttag erscheinen werde.

Ich mußte dem Vater nun auch die einzelnen Holzgattungen angeben, aus denen die verschiedenen Geräte in dem Rosenhause eingelegt seien, aus denen die Fußböden beständen, und endlich aus welchen geschnitzt würde. Ich tat es so ziemlich gut, denn ich hatte bei der Betrachtung dieser Dinge an meinen Vater gedacht und hatte mir mehr gemerkt, als sonst der Fall gewesen sein würde. Ich mußte ihm auch beschreiben, in welcher Ordnung diese Hölzer zusammengestellt seien, welche Gestalten sie bildeten und ob in der Zusammenstellung der Linien und Farben ein schöner Reiz liege. Ebenso mußte ich ihm auch noch mehr von den Marmorarten erzählen, die in dem Gange und in dem Saale wären, und mußte darstellen, wie sie verbunden wären, welche Gattungen an einander grenzten und wie sie sich dadurch abhöben. Ich nahm häufig ein Stück Papier und die Bleifeder zur Hand, um zu versinnlichen, was ich gesehen hätte. Er tat auch weitere Fragen, und durch ihre zweckmäßige Aufeinanderfolge konnte ich mehr beantworten, als ich mir gemerkt zu haben glaubte.

Als es schon spät geworden war, mahnte die Mutter zur Ruhe, wir trennten uns von dem Waffenhäuschen und begaben uns zu Bette.

Am anderen Tage begann ich meine Wohnung für den Winter einzurichten. Ich packte nach und nach die Sachen, welche ich von meiner Reise mitgebracht hatte, aus, stellte sie nach gewohnter Art und Weise auf und suchte sie in die vorhandenen einzureihen. Diese Beschäftigung nahm mehrere Tage in Anspruch.

 

Am ersten Sonntage nach meiner Ankunft war ein Bewillkommungsmahl. Alle Leute von dem Handelsgeschäfte meines Vaters waren besonders eingeladen worden, und es wurden bessere Speisen und besserer Wein auf den Tisch gesetzt. Auch die zwei alten Leute, die in dem dunkeln Stadthause unsere Wohnungsnachbarn gewesen waren, sind zu diesem Mahle geladen worden, weil sie mich sehr lieb hatten und weil die Frau gesagt hatte, daß aus mir einmal große Dinge werden würden. Diese Mahle waren schon seit ein paar Jahren Sitte, und die alten Leute waren jedesmal Gäste dabei.

Als ich mit dem Hauptsächlichsten in der Anordnung meiner Zimmer fertig war, besuchte ich auch meine Freunde in der Stadt und brachte wieder manche Abenddämmerung in der Buchhandlung zu, welche mir ein lieber Aufenthalt geworden war. Wenn ich durch die Gassen der Stadt ging, war es mir, als hätte ich das, was ich von dem alten Manne wußte, in einem Märchenbuche gelesen; wenn ich aber wieder nach Hause kam und in die Zimmer mit den altertümlichen Gegenständen und mit den Bildern ging, so war er wieder wirklich und paßte hieher als Vergleichsgegenstand.

Die Spuren, welche mit einer Ankunft nach einer längeren Reise in einer Wohnung immer unzertrennlich verbunden sind, namentlich wenn man von dieser Reise viele Gegenstände mitgebracht hat, welche geordnet werden müssen, waren endlich aus meinem Zimmer gewichen, meine Bücher standen und lagen zum Gebrauche bereit, und meine Werkzeuge und Zeichnungsgerätschaften waren in der Ordnung, wie ich sie für den Winter bedurfte. Dieser Winter war aber auch schon ziemlich nahe. Die letzten schönen Spätherbsttage, die unserer Stadt so gerne zu Teil werden, waren vorüber, und die neblige, nasse und kalte Zeit hatte sich eingestellt.

In unserem Hause war während meiner Abwesenheit eine Veränderung eingetreten. Meine Schwester Klotilde, welche bisher immer ein Kind gewesen war, war in diesem Sommer plötzlich ein erwachsenes Mädchen geworden. Ich selber hatte mich bei meiner Rückkehr sehr darüber verwundert, und sie kam mir beinahe ein wenig fremd vor.

Diese Veränderung brachte für den kommenden Winter auch eine Veränderung in unser Haus. Unser Leben war für die Hauptstadt eines großen Reiches bisher ein sehr einfaches und beinah ländliches gewesen. Der Kreis der Familien, mit denen wir verkehrten, hatte keine große Ausdehnung gehabt, und auch da hatten sich die Zusammenkünfte mehr auf gelegentliche Besuche oder auf Spiele der Kinder im Garten beschränkt. Jetzt wurde es anders. Zu Klotilden kamen Freundinnen, mit deren Eltern wir in Verbindung gewesen waren, diese hatten wieder Verwandte und Bekannte, mit denen wir nach und nach in Beziehungen gerieten. Es kamen Leute zu uns, es wurde Musik gemacht, vorgelesen, wir kamen auch zu anderen Leuten, wo man sich ebenfalls mit Musik und ähnlichen Dingen unterhielt. Diese Verhältnisse übten aber auf unser Haus keinen so wesentlichen Einfluß aus, daß sie dasselbe umgestaltet hätten. Ich lernte außer den Freunden, die ich schon hatte und an deren Art und Weise ich gewöhnt war, noch neue kennen. Sie hatten meistens ganz andere Bestrebungen als ich und schienen mir in den meisten Dingen überlegen zu sein. Sie hielten mich auch für besonders, und zwar zuerst darum, weil die Art der Erziehung in unserem Hause eine andere gewesen war als in anderen Häusern, und dann, weil ich mich mit anderen Dingen beschäftigte als auf die sie ihre Wünsche und Begierden richteten. Ich vermutete, daß sie mich wegen meiner Sonderlichkeit geringer achteten als sich unter einander selbst.

Sie erwiesen meiner Schwester große Aufmerksamkeiten und suchten ihr zu gefallen. Die jungen Leute, welche in unser Haus kommen durften, waren nur lauter solche, deren Eltern zu uns eingeladen waren, die wir auch besuchten und an deren Sitten sich kein Bedenken erhob. Meine Schwester wußte nicht, daß ihr die Männer gefallen wollten, und sie achtete nicht darauf. Ich aber kam in jenen Tagen, wenn mir einfiel, daß meine Schwester einmal einen Gatten haben werde, immer auf den nehmlichen Gedanken, daß dies kein anderer Mann sein könne als der so wäre wie der Vater.


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