Adalbert Stifter
Der Nachsommer
Adalbert Stifter

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ich ging nach dem Winter ziemlich spät im Frühlinge auf das Land. So erfreulich der letzte Sommer für mich gewesen war, so sehr er mein Herz gehoben hatte, so war doch etwas Unliebes in dem Grunde meines Innern zurück geblieben, was nichts anders schien als das Bewußtsein, daß ich in meinem Berufe nicht weiter gearbeitet habe und einer planlosen Beschäftigung anheim gegeben gewesen sei. Ich wollte das nun einbringen und den größten Teil des Sommers einer festen und angestrengten Tätigkeit weihen. Ich nahm alle Geräte und Werke mit, welche ich zur Fortsetzung meiner Arbeiten brauchte. Freie Stunden, die nach genauer Zeiteinteilung übrig blieben, wollte ich dann meinen Lieblingsdingen widmen.

Ich kam in das Ahornwirtshaus und bestellte mir dahin auch die Leute, die ich verwenden wollte, wenn sie sich nehmlich bereit erklärten, mir in entferntere Teile der Gebirge zu folgen, wohin mich heuer meine Arbeiten führen würden. Der alte Kaspar wollte mitgehen, zwei andere auch, und so hatte ich genug. Ich erkundigte mich nach meinem Zitherspiellehrer, er war fort und so gut wie verschollen. Kein Mensch wußte etwas von ihm. Ich ging in das Rothmoor, um nachzusehen, wie weit die Marmorarbeiten gediehen waren. Sie wurden heuer fertig, und ich konnte sie im Herbste nach Hause bringen lassen. Da das geschehen war, verließ ich für diesen Sommer das Ahornwirtshaus, in welchem ich nun so lange gewohnt hatte, um mich in die Bergabteilung zu begeben, die ich durchforschen wollte. Ich ging mit einem wehmütigen Gefühle von dem Hause fort.

An einer Stelle, wo das Gebirge weit verzweigt und wild verflochten, aber deßohngeachtet bei Weitem nicht so schön war wie das, welches ich verlassen hatte, setzte ich mich wie in einem Mittelpunkte meiner Bestrebungen fest. Ich vermißte das heitere, fensterschimmernde Ahornhaus, ich vermißte das ganze Tal, in dem ich beinahe heimisch geworden war. In einem Hause, das an der Öffnung dreier Täler lag und mir daher den geeignetsten Platz abgab, mietete ich mich ein. Schwarzer Tannenwald sah auf meine Fenster, schritt an den Bächen, welche aus den drei Tälern kamen, neben feuchten Wiesen und andern offenen Stellen in die Talgründe hinein und zog sich auf die Berge. Die höheren Kuppen oder gar die Schneeberge konnte man wegen der Enge des Tales über den finstern Tannen nicht sehen. Das mochte auch die Ursache sein, daß das Haus und die mehreren in den Waldlehnen zerstreuten und an den Bächen hingehenden Hütten die Tann hießen. Mauern, mit grünem Moose bewachsen, bildeten mein Haus und grenzten an ein zerfallenes Gärtchen, in welchem wenig mehr als Schnittlauch wuchs. Auf der Gasse war der Boden schwarz, und dieselbe Schwärze zog sich in das Gras hinein; denn das Einzige, welches häufig an diesem Wirtshause ankam und da hielt, damit sich Menschen und Tiere erquickten, waren Kohlenfuhren. In dem ganzen, bei näherer Besichtigung sich als ungeheuer zeigenden Waldgebiete waren die Kohlenbrennereien zerstreut, und ganze Züge von den schwarzen Fuhrwerken und den schwarzen Fuhrmännern zogen die düstere Straße hinaus, um die Kohlen gegen die Ebenen zu bringen, von wo sie sogar bis in unsere Stadt befördert wurden. Nur ein einziges Zimmer mit kleinen Fenstern und eisernen Kreuzen daran konnte ich haben. In demselben war ein Tisch, zwei Stühle, ein Bett und eine bemalte Truhe, in die ich Kleider und andere Dinge legen konnte. Für meine größeren Kisten wurde mir ein Verschlag in einem Schuppen eingeräumt. Kaspar und die andern schliefen, wenn wir uns in dem Hause befanden, in der Scheuer im Heu. Ich ließ mein Gepäcke größtenteils in meinen Koffern, hing nur das Nötige an Nägel, die in dem Zimmer waren, legte meine Schreibgeräte, meine wissenschaftlichen Bücher und meine Dichter auf den Tisch, füllte das Bettgestelle mit meinen von Hause mitgebrachten Bettstücken, stellte meine Bergstöcke in eine Ecke und war eingerichtet. Die Sonne, welche am späten Vormittage bei einem Fenster meines Zimmers hereinkam, streifte am Nachmittage das andere, um bald die Spitzen der Tannen zu vergolden und zu verschwinden. Ich war in manchen ähnlichen Herbergen schon gewesen, war daran gewöhnt, fügte mich und wurde mit dem Wirte, der Wirtin und einer rührigen Tochter, einfachen, gutmütigen Leuten, die einen kleinen Gedankenkreis hatten, bald bekannt. Sonst kam noch manches Mal ein Gebirgsjäger, ein seltener Wandersmann oder ein Hausierer in das Tannwirtshaus. Die größte Zahl der Gäste bestand außer den Kohlenführern in Holzknechten, welche in den großen Wäldern zerstreut waren und welche gerne an Samstagen oder an Tagen vor großen Festen heraus kamen, um zu den Ihrigen zu gehen. Da verweilten sie denn nun nicht selten gerne ein wenig in dem Tannwirtshause, um sich ein Gutes zu tun. Die Hauptbeschäftigung aller Bewohner der Tann war die Holzarbeit und ihr Hauptreichtum waren Kühe und Ziegen, welche täglich in die Wälder gingen und von welchen die jüngeren den ganzen Sommer hindurch auf der Höhe der Waldungen und der Holzschläge blieben.

Von diesem Hause aus fingen wir nun an, unsere Beschäftigungen zu betreiben. Durch die langen und weithingestreckten Waldungen ging unser Hammer, und die Leute trugen die Zeugen der verschiedenen Bodenbeschaffenheiten, auf denen die ausgedehnten Waldbestände wuchsen, in der Gestalt der mannigfaltigen Gesteine in die Tann. Wenn auch von unserem Gasthause aus die Felsenberge oder gar das Eis nicht zu erblicken waren, so waren sie darum nicht weniger vorhanden. Weil hier Alles großartiger war, da wir uns tiefer im Gebirge und näher seinem Urstocke befanden, so dehnten sich auch die Wälder in mächtigeren Anschwellungen aus, und wenn man durch eine Reihe von Stunden in dem dunkeln Schatten der feuchten Tannen und Fichten gegangen war, so wurden endlich ihre Reihen lichter, ihr Bestand minderte sich, erstorbene Stämme oder solche, die durch Unfälle zerstört worden waren, wurden häufiger, das trockene Gestein mehrte sich, und wenn nun freie Plätze mit kurzem Grase oder Sandgrieß oder Knieholz folgten, so sah man dämmerige Wände in riesigen Abmessungen vor den Augen stehen, und blitzende Schneefelder waren in ihnen, oder zwischen auseinanderschreitenden Felsen schaute ein ganz in Weiß gehüllter Berg hervor. Die Gesteinwelt folgte nun in noch größeren Ausdehnungen auf die Waldwelt. Uns führte unsere Absicht oft aus der Umschließung der Wälder in das Freie der Berge hinaus. Wenn die Bestandteile eines ganzen Gesteinzuges ergründet waren, wenn alle Wässer, die der Gesteinzug in die Täler sendet, untersucht waren, um jedes Geschiebe, das der Bach führt, zu betrachten und zu verzeichnen, wenn nun nichts Neues nach mehrfacher und genauer Untersuchung sich mehr ergab, so wurde versucht, sich des Zuges selbst zu bemächtigen und seine Glieder, so weit es die Macht und Gewalt der Natur zuließ, zu begehen. In die wildesten und abgelegensten Gründe führte uns so unser Plan, auf die schroffsten Grate kamen wir, wo ein scheuer Geier oder irgend ein unbekanntes Ding vor uns aufflog und ein einsamer Holzarm hervor wuchs, den in Jahrhunderten kein menschliches Auge gesehen hatte; auf lichte Höhen gelangten wir, welche die ungeheure Wucht der Wälder, in denen unser Wirtshaus lag, und die angebauteren Gefilde draußen, in denen die Menschen wohnten, wie ein kleines Bild zu unsern Füßen legten. Meine Leute wurden immer eifriger. Wie überhaupt der Mensch einen Trieb hat, die Natur zu besiegen und sich zu ihrem Herrn zu machen, was schon die Kinder durch kleines Bauen und Zusammenfügen, noch mehr aber durch Zerstören zeigen und was die Erwachsenen dadurch dartun, daß sie die Erde nicht nur zur nahrungsprossenden machen, wie der Dichter des Achilleus so oft sagt, sondern sie auch vielfach zu ihrem Vergnügen umgestalten, so sucht auch der Bergbewohner seine Berge, die er lieb hat, zu zähmen, er sucht sie zu besteigen, zu überwinden und sucht selbst dort hinan zu klettern, wohin ihn ein weiterer, wichtigerer Zweck gar nicht treibt. Die Erzählung solcher bestandener Züge bildet einen Teil der Würze des Lebens der Bergbewohner. Meine Leute waren in einer gesteigerten Freude und Empfindung, wenn wir mit dem Hammer und Meißel teils Stufen in die glatten Wände schlugen, teils Löcher machten, unsere vorrätigen Eisen eintrieben, auf solche Weise Leitern verfertigten und auf einen Standort gelangten, auf den zu gelangen eine Unmöglichkeit schien.

Wir kamen oft eine Reihe von Tagen nicht in unser Tannwirtshaus hinab.

Ich suchte auch gerne auf die Gipfel hoher Berge zu gelangen, wenn mich selbst eben meine Beschäftigung nicht dahin führte. Ich stand auf dem Felsen, der das Eis und den Schnee überragte, an dessen Fuß sich der Firnschrund befand, den man hatte überspringen müssen oder zu dessen Überwindung wir nicht selten Leitern verfertigten und über das Eis trugen, ich stand auf der zuweilen ganz kleinen Fläche des letzten Steines, oberhalb dessen keiner mehr war, und sah auf das Gewimmel der Berge um mich und unter mir, die entweder noch höher mit den weißen Hörnern in den Himmel ragten und mich besiegten oder die meinen Stand in anderen Luftebenen fortsetzten oder die einschrumpften und hinab sanken und kleine Zeichnungen zeigten, ich sah die Täler wie rauchige Falten durch die Gebilde ziehen und manchen See wie ein kleines Täfelchen unten stehen, ich sah die Länder wie eine schwache Mappe vor mir liegen, ich sah in die Gegend, wo gleichsam wie in einen staubigen Nebel getaucht die Stadt sein mußte, in der alle lebten, die mir teuer waren, Vater, Mutter und Schwester, ich sah nach den Höhen, die von hier aus wie blauliche Lämmerwolken erschienen, auf denen das Asperhaus sein mußte und der Sternenhof, wo mein lieber Gastfreund hauste, wo die gute, klare Mathilde wohnte, wo Eustach war, wo der fröhliche, feurige Gustav sich befand und wo Nataliens Augen blickten.

Alles schwieg unter mir, als wäre die Welt ausgestorben, als wäre das, daß sich Alles von Leben rege und rühre, ein Traum gewesen. Nicht einmal ein Rauch war auf die Höhe hinauf zu sehen, und da wir zu solchen Besteigungen stets schöne Tage wählten, so war auch meistens der Himmel heiter und in der dunkelblauen Finsternis hin eine endlosere Wüste, als er in der Tiefe und in den mit kleinen Gegenständen angefüllten Ländern erscheint. Wenn wir hinab stiegen, wenn Kaspar hinter uns die Eisen aus den Steinen zog und in den Sack tat, den er an einem Stricke um die Schultern hängen hatte, wenn wir nun die Leiter über den Firnschrund zurückzogen oder im Falle, daß wir keine Leiter gebraucht hatten, über den Spalt gesprungen waren, so zeigte sich in dem Ernste von Kaspars harten Zügen oder in den Angesichtern der Andern, die uns begleiteten, eine gewisse Veränderung, so daß ich schloß, daß der Stand, auf dem wir gestanden waren, einen Eindruck auf sie gemacht haben mußte.

Die Stunden oder Tage, die ich mir von meiner Arbeit abdingen konnte, weil ich Ruhe brauchte oder das Wetter mich hinderte, wendete ich zur Entwerfung leichter Landschaftsgebilde an, und die Tiefe der Nacht wurde, ehe sich die Augen schlossen, durch die großen Worte eines, der schon längst gestorben war und der sie uns in einem Buche hinterlassen hatte, erhellt, und wenn die Kerze ausgelöscht war, wurden die Worte in jenes Reich mit hinüber genommen, das uns so rätselhaft ist und das einen Zustand vorbildet, der uns noch unergründlicher erscheint.

Wie in der jüngstvergangenen Zeit konnte ich auch jetzt nicht mehr mit der bloßen Sammlung des Stoffes meiner Wissenschaft mich begnügen, ich konnte nicht mehr das Vorgefundene bloß einzeichnen, daß ein Bild entstehe, wie Alles über einander und neben einander gelagert ist – ich tat dieses zwar jetzt auch sehr genau -, sondern ich mußte mich stets um die Ursache fragen, warum etwas sei, um die Art, wie es seinen Anfang genommen habe. Ich baute in diesen Gedanken fort und schrieb, was durch meine Seele ging, auf. Vielleicht wird einmal in irgend einer Zukunft etwas daraus.

 

Zur Zeit der Rosenblüte machte ich einen Abschnitt in meinem Beginnen, ich wollte mir eine Unterbrechung gönnen und den Asperhof besuchen.

Ich lohnte meine Leute ab, gab ihnen das Versprechen, daß ich sie in Zukunft wieder verwenden werde, legte zu ihrem Lohne noch ein kleines Heimreisegeld und entließ sie. In dem Tannhause verpackte ich Alles wohl, was mein Eigentum war, berichtigte das, was ich schuldig geworden, sagte, daß ich wiederkommen werde, daß man mir das Dagelassene unterdessen gut bewahren möge und fuhr in einem einspännigen Gebirgswäglein durch den tiefen Weg, der von dem rauschenden Bache des Tannwirtshauses waldaufwärts führt, davon. Als ich die Heerstraße erreicht hatte, sendete ich meinen Fuhrmann zurück und wählte für die weitere Fahrt einen Platz im Postwagen. Die Strecke von der letzten Post zu meinem Freunde legte ich zu Fuße zurück. Für Nachsendung meines Gepäckes trug ich Sorge.

Ich war später gekommen, als ich eigentlich beabsichtigt hatte. In der tiefen Abgeschiedenheit und in der hohen kühlen Lage der Tann hatte ich mich über das, was draußen geschah, getäuscht. In dem freieren Lande war ein warmer Frühling und ein sehr warmer Frühsommer gewesen, was ich in den Bergen nicht so genau hatte ermessen können. Darum blühten schon die Rosen mit freudiger Fülle in allen Gärten, an denen ich vorüber kam. In schöner Vollkommenheit schauten die untadeligen Laubkronen meines Gastfreundes über das dunkle Dach des Hauses und standen an den beiden Flügeln des Gartengitters, als ich den Hügel hinan stieg. Die Fenstervorhänge, welche teils ein wenig geöffnet, teils der Hitze willen geschlossen waren, luden mich gastlich ein, und der Schmelz des Gesanges der Vögel und mancher lautere vereinzelte Ruf grüßte mich wie einen, der hier schon lange bekannt ist.

Da ich die Einrichtung des Gittertores kannte, drückte ich an der Vorrichtung, der Flügel öffnete sich und ich trat in den Garten.

Mein Gastfreund war bei den Bienen. Ich erfuhr das von dem Gärtner, welcher der erste war, den ich zu sehen bekam. Er ordnete etwas an einem Geranienbeete in der Nähe des Einganges. Ich schlug den Weg zu den Bienen ein. Mein Gastfreund stand vor der Hütte und erwartete das Erscheinen einer jungen Familie, die schwärmen wollte. Er sagte mir dieses, als ich hinzutrat, ihn zu begrüßen. Der Empfang war beinahe bewegt, wie zwischen einem Vater und einem Sohne, so sehr war meine Liebe zu ihm schon gewachsen, und eben so mochte auch er schon eine Zuneigung zu mir gewonnen haben.

Da er doch wohl von seinem Vorhaben nicht weggehen konnte, sagte ich, ich wolle die andern auch begrüßen, und er billigte es. Er hatte mir erzählt, daß Mathilde und Natalie in dem Asperhofe seien.

Ich ging gegen das Haus. Gustav hatte es schon erfahren, daß ich da sei, er flog die Treppe herunter und auf mich zu. Gruß, Gegengruß, Fragen, Antworten, Vorwürfe, daß ich so spät gekommen sei und daß ich in dem Frühlinge doch nicht einige Tage benützt habe, um in den Asperhof zu gehen. Er sagte, daß er mir sehr viel zu erzählen habe, daß er mir alles erzählen wolle und daß ich recht lange, lange da bleiben müsse.

Er führte mich nun zu seiner Mutter. Diese saß an einem Tische im Gebüsche und las. Sie stand auf, da sie mich nahen sah, und ging mir entgegen. Sie reichte mir die Hand, die ich, wie es in unserer Stadt Sitte war, küssen wollte. Sie ließ es nicht zu. Ich hatte wohl schon früher bemerkt, daß sie nicht zugab, daß ihr die Hand geküßt werde; aber ich hatte in dem Augenblicke nicht daran gedacht. Sie sagte, daß ich ihr sehr willkommen sei, daß sie mich schon früher erwartet habe und daß ich nun eine nicht zu kurze Zeit meinen hiesigen Freunden schenken müsse. Wir gingen unter diesen Worten wieder zu dem Tische zurück, auf den sie ihr Buch gelegt hatte, und sie hieß mich an ihm Platz nehmen. Ich setzte mich auf einen der dastehenden Stühle. Gustav blieb neben uns stehen. Ihr Angesicht war so heiter und freundlich, daß ich meinte, es nie so gesehen zu haben. Oder es war wohl immer so, nur in meiner Erinnerung war es ein wenig zurück getreten. Wirklich, so oft ich Mathilden nach längerer Trennung sah, erschien sie mir, obwohl sie eine alternde Frau war, immer lieblicher und immer anmutiger. Zwischen den Fältchen des Alters und auf den Zügen, welche auf eine Reihe von Jahren wiesen, wohnte eine Schönheit, welche rührte und Zutrauen erweckte. Und mehr als diese Schönheit war es, wie ich wohl jetzt erkannte, da ich so viele Angesichter so genau betrachtet hatte, um sie nachzubilden, die Seele, welche gütig und abgeschlossen sich darstellte und auf die Menschen, die ihr naheten, wirkte. Um die reine Stirne zog sich das Weiß der Haubenkrause, und ähnliche weiße Streifen waren um die feinen Hände.

Auf dem Tische stand ein Blumentopf mit einer dunkeln, fast veilchenblauen Rose. Sie lehnte sich in dem Rohrstuhle, auf dem sie saß, zurück, faltete die Hände auf ihrem Schooße und sagte: »Wir werden in dem Sternenhofe ein kleines Fest feiern. Ihr wißt, daß wir begonnen haben, die Tünche, womit die großen Steinflächen, die die Mauern unsers Hauses bekleiden, in früheren Jahren überstrichen worden sind, wegzunehmen, weil unser Freund meinte, daß dieselbe das Haus entstelle und daß es sich weit schöner zeigen würde, wenn sie weggenommen und der bloße Stein sichtbar wäre. Heuer ist nun die ganze vordere Fläche des Hauses fertig geworden, die Gerüste werden eben abgebrochen, und da werden, wenn die Spuren auch auf dem Boden vor dem Hause vertilgt sind, wenn der Sand geebnet ist, wenn der Rasen gereinigt und gewaschen ist, daß er keine Kalkflecke, sondern das reine Grün zeigt, wir alle hinausfahren, um die Sache zu betrachten und ein Urteil abzugeben, ob das Haus den Gewinn gemacht habe, der sich uns versprochen hat.

Es werden auch andere Menschen kommen, es werden wahrscheinlich sich einige Nachbarn einfinden, und da ihr zu unsern Freunden aus dem Asperhofe gehört, und da wir alle euer Urteil in Anschlag bringen möchten, so seid ihr gebeten, auch dabei zu sein und die Gesellschaft zu vermehren.«

»Mein Urteil ist wohl sehr geringe«, antwortete ich, »und wenn es nicht ganz verwerflich ist, und wenn ich mir einige Kenntnisse und eine bestimmte Empfindung des Schönen erworben habe, so danke ich Alles dem Besitzer dieses Hauses, der mich so gütig aufgenommen und Manches in mir hervor gezogen hat, das wohl sonst nie zu irgend einer Bedeutung gekommen wäre. Ich werde also kaum zur Feststellung der Sache auf dem Sternenhofe etwas beitragen können, und meine Ansicht wird gewiß die meines Gastfreundes und Eustachs sein; aber da ihr mich so freundlich einladet und da es mir eine Freude macht, in eurem Hause sein zu können, so nehme ich die Einladung gerne an, vorausgesetzt, daß die Zeit nicht zu spät bestimmt ist, da ich doch wohl noch in diesem Sommer in den Ort meiner jetzigen Tätigkeit zurückkehren und Einiges vor mich bringen möchte.«

»Die Zeit ist sehr nahe«, erwiderte sie, »es ist ohnehin schon seit länger her gebräuchlich, daß nach der Rosenblüte, zu welcher ich immer in diesem Hause eingeladen bin, unsere hiesigen Freunde auf eine Weile in den Sternenhof hinüber fahren. Das wird auch heuer so sein.

Während hier die feinen Blätter dieser Blumen sich vollkommen entwickeln und endlich welken und abfallen, wird unser Hausverwalter in dem Sternenhofe Alles in Ordnung bringen, daß keine Verwirrung mehr zu sehr sichtbar ist, er wird uns hierüber einen Brief schreiben und wir werden den Tag der Zusammenkunft bestimmen. Von dem Urteile, wenn irgend eines mit einem überwiegenden Gewichte zu Stande kömmt, wird es abhängen, ob auch die Kosten zu der Reinigung der andern Teile des Hauses verwendet werden oder ob der jetzige Zustand, daß eine Seite von der Tünche befreit ist, die übrigen aber damit behaftet sind, der gewiß weniger schön ist, als wenn Alles übertüncht geblieben wäre, fortbestehen oder ob gar das Befreite wieder übertüncht werden solle. Daß ihr übrigens eure Ansichten geringe achtet, daran tut ihr Unrecht. Wenn in der Nähe unsers Freundes Einiges an euch früher zur Blüte kam, so ist dies wohl sehr natürlich; es ist ja Alles an uns Menschen so, daß es wieder von andern Menschen groß gezogen wird, und es ist das glückliche Vorrecht bedeutender Menschen, daß sie in andern auch das Bedeutende, das wohl sonst später zum Vorscheine gekommen wäre, früher entwickeln. Wie sicher in euch die Anlage zu dem Höheren und Größeren vorhanden war, zeigt schon die Wahl, mit der ihr aus eigenem Antriebe auf eine wissenschaftliche Beschäftigung gekommen seid, die sonst unsere jungen Leute in den Jahren, in denen ihr euch entschieden habt, nicht zu ergreifen pflegen, und daß euer Herz dem Schönen zugewendet war, geht daraus hervor, daß ihr schon bald begannet, die Gegenstände eurer Wissenschaft abzubilden, worauf der, dem der bildende Sinn mangelt, nicht so leicht verfällt, er macht sich eher schriftliche Verzeichnisse, und endlich habt ihr ja in Kurzem die Abbildung anderer Dinge, menschlicher Köpfe, Landschaften, versucht und habt euch auf die Dichter gewendet. Daß es aber auch nicht ein unglücklicher Tag war, an welchem ihr über diesen Hügel herauf ginget, zeigt sich in einer Tatsache: ihr liebt den Besitzer dieses Hauses, und einen Menschen lieben können ist für den, der das Gefühl hat, ein großer Gewinn.«

Gustav hatte während dieser Rede die Mutter stets freundlich angesehen.

Ich aber sagte: »Er ist ein ungewöhnlicher, ein ganz außerordentlicher Mensch.«

Sie erwiderte auf diese Worte nichts, sondern schwieg eine Weile. Später fing sie wieder an: »Ich habe mir diese Rosenpflanze auf den Tisch gestellt, gewissermaßen als die Gesellschafterin meines Lesens – gefällt euch die Blume?«

»Sie gefällt mir sehr«, antwortete ich, »wie mir überhaupt alle Rosen gefallen, die in diesem Hause gezogen werden.«

»Sie ist eine neue Art«, sagte sie, »ich habe aus England einen Brief bekommen, in welchem eine Freundin mit Auszeichnung von einer Rose sprach, die sie in Kew gesehen habe und deren Namen sie hinzu fügte. Da ich in dem Verzeichnisse unserer Rosen den Namen nicht fand, dachte ich, daß dies eine Art sein dürfte, welche unser Freund nicht hat. Ich schrieb an die Freundin, ob sie mir eine solche Rosenpflanze verschaffen könne. Mit Hilfe eines Mannes, der uns beide kennt, erhielt sie die Pflanze, und in diesem Frühlinge wurde sie mir in einem Topfe, sehr wohl und sinnreich verpackt, aus England geschickt. Ich pflegte sie, und da die Blumen sich entwickeln wollten, brachte ich sie unserm Freunde. Die Rosen öffneten sich hier vollends, und wir sahen – besonders er, der alle Merkmale genau kennt -, daß diese Blume sich in der Sammlung dieses Hauses noch nicht befindet. Eustach bildete sie ab, daß wir sie festhalten und ob die, welche in Zukunft kommen werden, ihr gleichen. Mein Freund schrieb nach England um Pfropfreiser für den nächsten Frühling, diese Pflanze bleibt indessen in dem Topfe und wird hier besorgt werden.«


 << zurück weiter >>