Adalbert Stifter
Der Nachsommer
Adalbert Stifter

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Mit dem Anbruche des nächsten Tages fuhren mein Gastfreund, Eustach, Roland, Gustav und ich auf dem Wege nach dem Rosenhause dahin.

Als ich in Hinsicht der eben zugebrachten Tage etwas über das Landleben sagte und die Annehmlichkeiten desselben berührte, und als wir eine Zeit über diesen Gegenstand gesprochen hatten, sagte mein Gastfreund: »Das gesellschaftliche Leben in den Städten, wenn man es in dem Sinne nimmt, daß man immer mit fremden Personen zusammen ist, bei denen man entweder mit andern zum Besuche ist, oder die mit andern bei uns sind, ist nicht ersprießlich. Es ist das nehmliche Einerlei wie das Leben in Orten, die den großen Städten nahe sind. Man sehnt sich, ein anderes Einerlei aufzusuchen; denn wohl ist jedes Leben und jede Äußerung einer Gegend ein Einerlei, und es gewährt einen Abschluß, von dem einen Einerlei in ein anderes über zu gehen. Aber es gibt auch ein Einerlei, welches so erhaben ist, daß es als Fülle die ganze Seele ergreift und als Einfachheit das All umschließt. Es sind erwählte Menschen, die zu diesem kommen und es zur Fassung ihres Lebens machen können.«

»In der Weltgeschichte kömmt wohl Ähnliches vor«, sagte ich.

»In der Weltgeschichte kömmt es vor«, antwortete er, »wo ein Mensch durch eine große Tat, die sein Leben erfüllt, diesem Leben eine einfache Gestalt geben kann, abgelöst von allem Kleinlichen – in der Wissenschaft, wo ein großartiges Feld höchsten Erringens vor dem Menschen liegt – oder in der Klarheit und Ruhe der Lebensanschauungen, die endlich Alles auf einige ausgedehnte, aber einfältige Grundlinien zurück führt. Jedoch sind auch hier Maße und Abstufungen wie in allen andern Dingen des Lebens.«

»Von den zwei Hauptzeiträumen, welche das menschliche Geschlecht betroffen haben«, erwiderte ich, »von dem sogenannten antiken und dem heutigen, dürfte wohl der griechisch-römische das Meiste von dem Gesagten aufzuweisen haben.«

»Wir wissen zuletzt gar nicht, welche Zeiträume es in der Geschichte gegeben hat«, antwortete er. »Die Griechen und Römer sind unserer Zeit am nächsten, wir sind aus ihnen hervor gegangen und wissen von ihnen auch das Meiste. Wer weiß, wie viele Völkerabschnitte es gegeben hat und wie viele unbekannte Geschichtsquellen noch verborgen sind. Wenn einmal ganze Reihen solcher Völkerzustände wie Griechen- und Römertum vorliegen, dann läßt sich eher über unsere Frage etwas sagen. Oder sind etwa solche Reihen nur dagewesen und vergessen worden, und werden überhaupt die hintersten Stücke der Weltgeschichte vergessen, wenn sich vorne neue ansetzen und ihrer Entwicklung entgegen eilen? Wer wird dann nach zehntausend Jahren noch von Hellenen oder von uns reden? Ganz andere Vorstellungen werden kommen, die Menschen werden ganz andere Worte haben, mit ihnen in ganz anderen Sätzen reden, und wir würden sie gar nicht verstehen, wie wir nicht verstehen würden, wenn etwas zehntausend Jahre vor uns gesagt worden wäre und uns vorläge, selbst wenn wir der Sprache mächtig wären. Was ist dann jeder Ruhm? Aber kehren wir zu unserem Gegenstande zurück und sehen wir von Ägyptern, Assyrern, Indern, Medern, Hebräern, Persern, von denen Kunde zu uns herüber gekommen ist, ab und vergleichen wir uns nur allein mit der griechisch-römischen Welt, so dürfte in ihr wirklich mehr einfache Lebensgröße gelegen sein als in der unsern liegt. Ich verwundere mich oft, wenn ich in der Lage bin, zu entscheiden, welchen von beiden ich den Preis geben soll, Cäsars Taten oder Cäsars Schriften, wie sehr ich im Schwanken begriffen bin und wie wenig ich es weiß. Beides ist so klar, so stark, so unbeirrt, daß wir wenig desgleichen haben dürften.«

»Jene alten Verhältnisse des Handelns und Denkens waren aber, wie ich glaube, auch weniger verwickelt als die unsrigen«, sagte ich.

»Sie hatten einen nicht so ausgedehnten Schauplatz wie wir«, erwiderte er, »obwohl auch der Platz der Taten zu Cäsars Zeit – Britannien, Gallien, Italien, Asien, Afrika -, oder zu Alexanders Zeit – Griechenland und Orient – nicht ganz klein war. Ihre Verhältnisse nach Außen gestalteten sich daher leichter; aber im Innern dürften sie bei der großen Zahl der mithandelnden Personen, von denen die meisten Stimme und Gewalt in Staatsdingen hatten, nicht so leicht gewesen sein, und die Macht, diese Gemüter durch Wort, Erscheinung und Handlung zu gewinnen und zu leiten, dürfte schwierig zu erwerben gewesen sein und dürfte eben dem Wesen eines Mannes die feste Gestalt aufgedrückt haben, die wir so oft an ihm bewundern. Unsere Zeit ist eine ganz verschiedene. Sie ist auf den Zusammensturz jener gefolgt und erscheint mir als eine Übergangszeit, nach welcher eine kommen wird, von der das griechische und römische Altertum weit wird übertroffen werden. Wir arbeiten an einem besondern Gewichte der Weltuhr, das den Alten, deren Sinn vorzüglich auf Staatsdinge, auf das Recht und mitunter auf die Kunst ging, noch ziemlich unbekannt war, an den Naturwissenschaften. Wir können jetzt noch nicht ahnen, was die Pflege dieses Gewichtes für einen Einfluß haben wird auf die Umgestaltung der Welt und des Lebens. Wir haben zum Teile die Sätze dieser Wissenschaften noch als totes Eigentum in den Büchern oder Lehrzimmern, zum Teile haben wir sie erst auf die Gewerbe, auf den Handel, auf den Bau von Straßen und ähnlichen Dingen verwendet, wir stehen noch zu sehr in dem Brausen dieses Anfanges, um die Ergebnisse beurteilen zu können, ja wir stehen erst ganz am Anfange des Anfanges. Wie wird es sein, wenn wir mit der Schnelligkeit des Blitzes Nachrichten über die ganze Erde werden verbreiten können, wenn wir selber mit großer Geschwindigkeit und in kurzer Zeit an die verschiedensten Stellen der Erde werden gelangen, und wenn wir mit gleicher Schnelligkeit große Lasten werden befördern können? Werden die Güter der Erde da nicht durch die Möglichkeit des leichten Austauschens gemeinsam werden, daß Allen Alles zugänglich ist? Jetzt kann sich eine kleine Landstadt und ihre Umgebung mit dem, was sie hat, was sie ist und was sie weiß, absperren: bald wird es aber nicht mehr so sein, sie wird in den allgemeinen Verkehr gerissen werden. Dann wird, um der Allberührung genügen zu können, das, was der Geringste wissen und können muß, um Vieles größer sein als jetzt. Die Staaten, die durch Entwicklung des Verstandes und durch Bildung sich dieses Wissen zuerst erwerben, werden an Reichtum, an Macht und Glanz vorausschreiten und die andern sogar in Frage stellen können. Welche Umgestaltungen wird aber erst auch der Geist in seinem ganzen Wesen erlangen? Diese Wirkung ist bei Weitem die wichtigste. Der Kampf in dieser Richtung wird sich fortkämpfen, er ist entstanden, weil neue menschliche Verhältnisse eintraten, das Brausen, von welchem ich sprach, wird noch stärker werden, wie lange es dauern wird, welche Übel entstehen werden, vermag ich nicht zu sagen; aber es wird eine Abklärung folgen, die Übermacht des Stoffes wird vor dem Geiste, der endlich doch siegen wird, eine bloße Macht werden, die er gebraucht, und weil er einen neuen menschlichen Gewinn gemacht hat, wird eine Zeit der Größe kommen, die in der Geschichte noch nicht dagewesen ist. Ich glaube, daß so Stufen nach Stufen in Jahrtausenden erstiegen werden. Wie weit das geht, wie es werden, wie es enden wird, vermag ein irdischer Verstand nicht zu ergründen. Nur das scheint mir sicher, andere Zeiten und andere Fassungen des Lebens werden kommen, wie sehr auch das, was dem Geiste und Körper des Menschen als letzter Grund inne wohnt, beharren mag.«

Wir gingen nun in manches Einzelne dieses Stoffes ein, behandelten es im Fahren und suchten die möglichen Folgen anzugeben. Besonders wurden Zweige der Naturwissenschaften genannt, welche vorzugsweise vorgeschritten waren und Einfluß zu gewinnen schienen, wie die Chemie und andere. Roland war entschieden für Neuerung, wenn sie auch Alles umstürzte, mein Gastfreund und Eustach hegten den Wunsch, daß jenes Neue, welches bleiben soll, weil es gut ist – denn wie vieles Neue ist nicht gut -, nur allgemach Platz finden und ohne zu große Störung sich einbürgern möchte. So ist der Übergang ein längerer, aber er ist ein ruhigerer und seine Folgen sind dauernder.

Nach dem Mittagsessen kam das Gespräch auf die Brunnennymphe im Sternenhofe, und mein Gastfreund erzählte mir, wie sie erworben worden war. Ein Mann, der entfernt mit Mathilden verwandt war, hatte zu seinem großen Vermögen noch Erbschaften gemacht. Er verlegte sich auf Sammlungen. Er hatte Münzen, er hatte Siegel, er hatte keltische und römische Altertümer, Musikgeräte, Tulpen und Georginen, Bücher, Gemälde und Bildsäulen. Er baute in seinem Garten an sein Haus, welches etwas erhöht stand, eine große Fläche, die er mit Steinen pflasterte und von welcher künstliche steinerne Stufen in mehreren Richtungen nach dem Garten hinab gingen. Auf die Brüstungen dieser Fläche und auf die Einfassungen der Treppen wurden Bildsäulen gesetzt. Es gehörte zu den größten Vergnügungen des Mannes, auf der Fläche hin und her zu gehen. Das tat er auch oft, wenn die heißeste Sonne am Himmel stand und das Pflaster in die Sohlen brannte. Außerdem hatte er auch noch Bildsäulen auf den Treppen des Hauses und in den Zimmern. Die Nymphe, welche jetzt Mathilde besitzt, hatte er in einem Brunnentempel im Garten. Er hatte sie von seinem Großoheime geerbt. Sie soll zu den Jugendzeiten desselben von einem italienischen Bildhauer für einen Fürsten verfertigt worden sein, dessen schneller Todfall das Übergehen an ihre Bestimmung vereitelte. So kam sie nach mehreren Zufällen an den Großoheim, der Verbindungen mit dem Künstler hatte. Man sagt, diese Bildsäule sei der Anfang zu der Bildsäulenliebhaberei des Vetters Mathildens gewesen. Als dieser Mann starb, fand sich ein letzter Wille geschrieben vor, daß alle Kunstwerke an Kunstkenner oder Kunstliebhaber, nicht aber an Händler verkauft werden und daß das Geld dafür und die anderen Dinge, die er hinterlassen, und zwar letztere nach einem Schätzungswerte, unter seine entfernten Verwandten verteilt werden sollten; denn Kinder oder nähere Verwandte hatte er nicht. Da nun die Nymphe weitaus das schönste Kunstwerk war, welches er besaß, da Mathilde es immer bewundert hatte, da sie schon im Besitze des Sternenhofes war und in demselben schon schöne Gemälde untergebracht hatte: so war es ihr nicht schwer, sich als eine Kunstliebhaberin auszuweisen und das Bildwerk anzukaufen. Man gönnte es ihr mehr als einem Fremden, weil auf diese Weise das Kunstwerk gewissermaßen in der Familie blieb und sie überdies auch mehr in die gemeinschaftliche Erbschaft zahlte, als ein Fremder getan haben würde.

Sie brachte das ihr so liebe Werk in den Sternenhof und stellte es dort in einem Saale auf. Erst lange darnach wurde durch Eustachs und meines Gastfreundes Bemühungen zwischen den Eichen, die schon standen, die Eppichwand und die Quellengrotte gebaut und so der Gestalt ein würdiger und wirkungsvollerer Aufenthaltsort gegeben, da sie für den Saal doch immer zu groß und ihre Stellung und ihre Beschäftigung unpassend gewesen war. Den Krug, aus welchem das Wasser rann, hatte sie schon, das Becken und die Bank sind neu gemacht worden, die Alabasterschale hat Mathilde aus ihrem Besitztume dazu gegeben.

Wir kamen am Abende im Rosenhause an. Am andern Tage bat ich meinen Gastfreund, er möge erlauben, daß ich eine Nachzeichnung von der Zeichnung des Kerberger Altares, die er besitze, mache, und diese Zeichnung meinem Vater zum Geschenke bringe. Er erlaubte es sehr gerne. Die Zeichnung war nach dem Vorschlage, welcher auf der Reise in das Hochland gemacht worden war, von Roland verbessert worden, und so wurde sie mir übergeben.

Ich schloß mich in mein Zimmer ein und arbeitete mehrere Tage fleißig von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, bis ich mit der Zeichnung fertig war. Ich verpackte sie nun sehr wohl und gab meinem Gastfreunde die Urzeichnung zurück.


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