Adalbert Stifter
Der Nachsommer
Adalbert Stifter

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Eines Tages, da ich selber einen weiten Weg gemacht hatte und gegen Abend in das Rosenhaus zurück kehrte, sah ich, da ich von dem Erlenbache hinauf eine kürzere Richtung eingeschlagen hatte, auf bloßem Rasen zwischen den Feldern gegangen, auf der Höhe angekommen war und nun gegen die Felderrast zuging, auf dem Bänklein, das unter der Esche derselben steht, eine Gestalt sitzen. Ich kümmerte mich nicht viel um sie und ging meines Weges, welcher gerade auf den Baum zuführte, weiter. Ich konnte, wie nahe ich auch kam, die Gestalt nicht erkennen; denn sie hatte nicht nur den Rücken gegen mich gekehrt, sondern war auch durch den größten Teil des Baumstammes gedeckt. Ihr Angesicht blickte nach Süden. Sie regte sich nicht und wendete sich nicht. So kam ich fast dicht gegen sie heran. Sie mußte nun meinen Tritt im Grase oder mein Anstreifen an das Getreide gehört haben; denn sie erhob sich plötzlich, wendete sich um, damit sie mich sähe, und ich stand vor Natalien. Kaum zwei Schritte waren wir von einander entfernt. Das Bänklein stand zwischen uns. Der Baumstamm war jetzt etwas seitwärts. Wir erschraken beide. Ich hatte nehmlich nicht – auch nicht im Entferntesten – daran gedacht, daß Natalie auf dem Bänklein sitzen könne, und sie mußte erschrocken sein, weil sie plötzlich Schritte hinter sich gehört hatte, wo doch kein Weg ging, und weil sie, da sie sich umwendete, einen Mann vor sich stehen gesehen hatte. Ich mußte annehmen, daß sie nicht gleich erkannt habe, daß ich es sei.

Ein Weilchen standen wir stumm gegenüber, dann sagte ich: »Seid ihr es, Fräulein, ich hatte nicht gedacht, daß ich euch unter dem Eschenbaume sitzend finden würde.«

»Ich war ermüdet«, antwortete sie, »und setzte mich auf die Bank, um zu ruhen. Auch dürfte es wohl an der Zeit später geworden sein, als man gewohnt ist, mich nach Hause kommen zu sehen.«

»Wenn ihr ermüdet seid«, sagte ich, »so will ich nicht Ursache sein, daß ihr steht, ich bitte, setzet euch, ich will, so schnell ich kann, durch die Felder und den Garten eilen und euch Gustav herauf senden, daß er euch nach Hause begleite.«

»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte sie, »es ist ja noch nicht Abend, und selbst wenn es Abend wäre, so droht wohl nirgends ringsherum eine Gefahr. Ich bin schon viel weiter allein gegangen, ich bin allein nach Hause zurückgekehrt, meine Mutter und unser Gastfreund haben deshalb keine Besorgnisse gehabt. Heute bin ich bis auf dem Raitbühel bei dem roten Kreuze gewesen und bin von dort zu der Bank hieher zurück gegangen.«

»Das ist ja fast über eine Stunde Weges«, sagte ich.

»Ich weiß nicht, wie lange ich gegangen bin«, antwortete sie, »ich ging zwischen den Feldern hin, auf denen die ungeheure Menge des Getreides steht, ich ging an manchem Strauche hin, den der Rain enthält, ich ging an manchem Baume vorbei, der in dem Getreide steht, und kam zu dem roten Kreuze, das aus den Saaten empor ragt.«

»Wenn ich sehr gut gehe«, sagte ich, »so brauche ich von hier bis zu dem roten Kreuze eine Stunde.«

»Ich habe, wie ich sagte, die Zeit nicht gezählt«, entgegnete sie, »ich bin von hier zu dem Kreuze gegangen, und bin von dem Kreuze wieder hieher zurück gekehrt.«

Während dieser Worte war ich aus der ungefügen Stellung im Grase hinter dem Bänklein auf den freien Raum herüber getreten, der sich vor dem Baume ausbreitet, Natalie hatte eine leichte Bewegung gemacht und sich wieder auf das Bänkchen gesetzt.

»Nach einem solchen Gange bedürft ihr freilich der Ruhe«, sprach ich.

»Es ist auch nicht gerade deswillen«, antwortete sie, »weshalb ich diese Bank suchte. So ermüdet ich bin, so könnte ich wohl noch recht gut den Weg durch die Felder und den Garten nach Hause, ja noch einen viel weiteren machen; aber es gesellte sich zu dem körperlichen Wunsche noch ein anderer.«

»Nun?«

»Auf diesem Platze ist es schön, das Auge kann sich ergehen, ich bin bei meinen Gedanken, ich brauche diese Gedanken nicht zu unterbrechen, was ich doch tun muß, wenn ich zu den Meinigen zurück kehre.«

»Und darum ruhet ihr hier?«

»Darum ruhe ich hier.«

»Seid ihr von eurer Kindheit an gerne allein in den Feldern gegangen?«

»Ich erinnere mich des Wunsches nicht«, antwortete sie, »wie es denn überhaupt einige Zeitabschnitte in meiner Kindheit gibt, an welche ich mich nicht genau erinnern kann, und da der Wunsch in meinem Gedächtnisse nicht gegenwärtig ist, so wird auch die Tatsache nicht gewesen sein, obwohl es wahr ist, daß ich als Kind lebhafte Bewegungen sehr geliebt habe.«

»Und jetzt führt euch eure Neigung öfter in das Freie?« fragte ich.

»Ich gehe gerne herum, wo ich nicht beengt bin«, antwortete sie, »ich gehe zwischen den Feldern und den wallenden Saaten, ich steige auf die sanften Hügel empor, ich wandere an den blätterreichen Bäumen vorüber und gehe so fort, bis mich eine fremde Gegend ansieht, der Himmel über derselben gleichsam ein anderer ist und andere Wolken hegt. Im Gehen sinne und denke ich dann. Der Himmel, die Wolken darin, das Getreide, die Bäume, die Gesträuche, das Gras, die Blumen stören mich nicht. Wenn ich recht ermüdet bin und auf einem Bänklein wie hier oder auf einem Sessel in unserem Garten oder selbst auf einem Sitze in unserem Zimmer ausruhen kann, so denke ich, ich werde nun nicht wieder so weit gehen. – Und wo seid denn ihr gewesen?« fragte sie, nachdem sie sich unterbrochen und ein Weilchen geschwiegen hatte.

»Ich bin nach dem Essen von dem Erlenbache zu dem Teiche hinauf gegangen«, antwortete ich, »dann durch das Gehölze auf den Balkhügel empor, von dem man die Gegend von Landegg sieht und den Turm seiner Pfarrkirche erblicken kann. Von dem Balkhügel bin ich dann noch auf den Höhen fortgegangen, bis ich zu den Rohrhäusern gekommen bin. Da ich dort schon zwei starke Wegstunden von dem Asperhofe entfernt war, schlug ich den Rückweg ein. Ich hatte im Hingehen viele Zeit verbraucht, weil ich häufig stehen geblieben war und verschiedene Dinge angesehen hatte, deshalb wählte ich nun einen kürzeren Rückgang. Ich ging auf Feldpfaden und mannigfaltigen Kirchenwegen durch die Felder, bis ich zwischen Dernhof und Ambach wieder zu dem Seewalde und zu dem Erlenbache herabkam. Von dort aus waren mir Raine bekannt, die am kürzesten auf die Felderrast herüber führten. Obwohl auf ihnen kein Weg führt, ging ich doch auf ihrem Grase fort und kam so gegen euch herzu.«

»Da müßt ihr ja recht müde sein«, sagte sie und machte eine Bewegung auf dem Bänklein, um mir Platz neben sich zu verschaffen.

Ich wußte nicht recht, wie ich tun sollte, setzte mich aber doch an ihrer Seite nieder.

»Habt ihr etwa ein Buch mit euch genommen, um auf dieser Bank zu lesen«, fragte ich, »oder habt ihr nicht Blumen gepflückt?«

»Ich habe kein Buch mitgenommen und habe keine Blumen gepflückt«, antwortete sie, »ich kann nicht lesen, wenn ich gehe, und kann auch nicht lesen, wenn ich im freien Felde auf einer Bank oder auf einem Steine sitze.«

Wirklich sah ich auch gar nichts neben ihr, sie hatte kein Körbchen oder sonst irgend etwas, das Frauen gerne mit sich zu tragen pflegen, um Gegenstände hinein legen zu können; sie saß müßig auf dem Bänklein, und ihr Strohhut, den sie von dem Haupte genommen hatte, lag neben ihr in dem Grase.

»Die Blumen pflücke ich«, fuhr sie nach einem Weilchen fort, »wenn sie bei Gelegenheit an dem Wege stehen. Hier herum ist meistens der Mohn, der aber wenig zu Sträußen paßt, weil er gerne die Blätter fallen läßt, dann sind die Kornblumen, die Wegnelken, die Glocken und andere. Oft pflücke ich auch keine Blumen, wenn sie noch so reichlich vor mir stehen.«

Mir war es seltsam, daß ich mit Natalien allein unter der Esche der Felderrast sitze. Ihre Fußspitzen ragten in den Staub der vor uns befindlichen offenen Stelle hinaus, und der Saum ihrer Kleider berührte denselben Staub. In der Krone der Esche rührte sich kein Blättchen; denn die Luft war still. Weit vor uns hinabgehend und weit zu unserer Rechten und Linken hin sowie rückwärts war das grüne, der Reife entgegen harrende Getreide. Aus dem Saume desselben, der uns am nächsten war, sahen uns der rote Mohn und die blauen Kornblumen an. Die Sonne ging dem Untergange zu und der Himmel glänzte an der Stelle, gegen die sie ging, fast weißglühend über die Saatfelder herüber, keine Wolke war und das Hochgebirge stand rein und scharf geschnitten an dem südlichen Himmel.

»Und habt ihr bei dem roten Kreuze auch ein wenig geruht?« fragte ich nach einer Weile.

»Bei dem roten Kreuze habe ich nicht geruht«, antwortete sie, »man kann dort nicht ruhen, es steht fast unter lauter Halmen des Getreides, ich lehnte mich mit einem Arme an seinen Stamm und sah auf die Gegend hinaus, auf die Felder, auf die Obstbäume und auf die Häuser der Menschen, dann wendete ich mich wieder um und schlug den Rückweg zu diesem Bänklein ein.«

»Wenn heiterer Himmel ist und die Sonne scheint, dann ist es in der Weite schön«, sagte ich.

»Es ist wohl schön«, erwiderte sie, »die Berge gehen wie eine Kette mit silbernen Spitzen dahin, die Wälder sind ausgebreitet, die Felder tragen den Segen für die Menschen, und unter all den Dingen liegt das Haus, in welchem die Mutter und der Bruder und der väterliche Freund sind; aber ich gehe auch an bewölkten Tagen auf den Hügel oder an solchen, an denen man nichts deutlich sehen kann. Als Bestes bringt der Gang, daß man allein ist, ganz allein, sich selber hingegeben. Tut ihr bei euren Wanderungen nicht auch so, und wie erscheint denn euch die Welt, die ihr zu erforschen trachtet?«

»Es war zu verschiedenen Zeiten verschieden«, antwortete ich; »einmal war die Welt so klar als schön, ich suchte Manches zu erkennen, zeichnete Manches und schrieb mir Manches auf. Dann wurden alle Dinge schwieriger, die wissenschaftlichen Aufgaben waren nicht so leicht zu lösen, sie verwickelten sich und wiesen immer wieder auf neue Fragen hin. Dann kam eine andre Zeit; es war mir, als sei die Wissenschaft nicht mehr das Letzte, es liege nichts daran, ob man ein Einzelnes wisse oder nicht, die Welt erglänzte wie von einer innern Schönheit, die man auf ein Mal fassen soll, nicht zerstückt, ich bewunderte sie, ich liebte sie, ich suchte sie an mich zu ziehen und sehnte mich nach etwas Unbekanntem und Großem, das da sein müsse.«

 

Sie sagte nach diesen Worten eine Zeit hindurch nichts; dann aber fragte sie: »Und ihr werdet in diesem Sommer noch einmal in euren Aufenthaltsort zurück kehren, den ihr euch jetzt zu eurer Arbeit auserkoren habt?«

»Ich werde in denselben zurück kehren«, antwortete ich.

»Und den Winter bringt ihr bei euren lieben Angehörigen zu?« fragte sie weiter.

»Ich werde ihn wie alle bisherigen in dem Hause meiner Eltern verleben«, sagte ich.

»Und seid ihr in dem Winter im Sternenhofe?« fragte ich nach einiger Zeit.

»Wir haben ihn früher zuweilen in der Stadt zugebracht«, antwortete sie, »jetzt sind wir schon einige Male in dem Sternenhofe geblieben, und zwei Mal haben wir eine Reise gemacht.«

»Habt ihr außer Klotilden keine andere Schwester?« fragte sie, nachdem wir wieder ein Weilchen geschwiegen hatten.

»Ich habe keine andere«, erwiderte ich, »wir sind nur zwei Kinder, und das Glück, einen Bruder zu besitzen, habe ich gar nie kennen gelernt.«

»Und mir ist wieder das Glück, eine Schwester zu haben, nie zu Teil geworden«, antwortete sie.

Die Sonne war schon untergegangen, die Dämmerung trat ein, und wir waren immer sitzen geblieben. Endlich stand sie auf und langte nach ihrem Hute, der in dem Grase lag. Ich hob denselben auf und reichte ihn ihr dar. Sie setzte ihn auf und schickte sich zum Fortgehen an. Ich bot ihr meinen Arm. Sie legte ihren Arm in den meinigen, aber so leicht, daß ich ihn kaum empfand. Wir schlugen nicht den Weg auf den Anhöhen hin zu dem Gartenpförtchen ein, das in der Nähe des Kirschbaumes ist, sondern wir gingen auf dem Pfade, der von der Felderrast zwischen dem Getreide abwärts läuft, gegen den Meierhof hinab. Wir sprachen nun gar nicht mehr. Ihr Kleid fühlte ich sich neben mir regen, ihren Tritt fühlte ich im Gehen. Ein Wässerlein, das unter Tags nicht zu vernehmen war, hörte man rauschen, und der Abendhimmel, der immer goldener wurde, flammte über uns und über den Hügeln der Getreide und um manchen Baum, der beinahe schwarz da stand. Wir gingen bis zu dem Meierhofe. Von demselben gingen wir über die Wiese, die zu dem Hause meines Gastfreundes führt, und schlugen den Pfad zu dem Gartenpförtchen ein, das in jener Richtung in der Gegend der Bienenhütte angebracht ist. Wir gingen durch das Pförtchen in den Garten, gingen an der Bienenhütte hin, gingen zwischen Blumen, die da standen, zwischen Gesträuch, das den Weg säumte, und endlich unter Bäumen dahin und kamen in das Haus. Wir gingen in den Speisesaal, in welchem die Andern schon versammelt waren. Natalie zog hier ihren Arm aus dem meinigen. Man fragte uns nicht, woher wir gekommen wären und wie wir uns getroffen hätten. Man ging bald zu dem Abendessen, da die Zeit desselben schon heran gekommen war.

Während des Essens sprachen Natalie und ich fast nichts.

Als wir uns im Speisesaale getrennt hatten und als jedes in sein Zimmer gegangen war, löschte ich die Lichter in dem meinigen sogleich aus, setzte mich in einen der gepolsterten Lehnstühle und sah auf die Lichttafeln, welche der inzwischen heraufgekommene Mond auf die Fußböden meiner Zimmer legte. Ich ging sehr spät schlafen, las aber nicht mehr, wie ich es sonst in jeder Nacht gewohnt war, sondern blieb auf meinem Lager liegen und konnte sehr lange den Schlummer nicht finden.

In den Tagen, die auf jenen Abend folgten, schien es mir, als weiche mir Natalie aus. Die Zithern hörte ich wieder in ein paar Nächten, sie wurden sehr gut gespielt, was ich jetzt mehr empfinden und beurteilen konnte als früher. Ich sprach aber nichts darüber, und noch weniger sagte ich etwas davon, daß ich selber in diesem Spiele nicht mehr so unerfahren sei. Meine Zither hatte ich nie in das Rosenhaus mitgenommen.

Endlich nahte die Zeit, in welcher man in den Sternenhof gehen sollte. Mathilde und Natalie reisten in Begleitung ihrer Dienerin früher dahin, um Vorkehrungen zu treffen und die Gäste zu empfangen. Wir sollten später folgen.

In der Zeit zwischen der Abreise Mathildens und der unsrigen tat mein Gastfreund eine Bitte an mich. Sie bestand darin, daß ich ihm in dem kommenden Winter eine genaue Zeichnung von den Vertäflungen anfertigen möchte, welche ich meinem Vater aus dem Lauterthale gebracht hatte und welche von ihm in die Pfeiler des Glashäuschens eingesetzt worden waren. Die Zeichnung möchte ich ihm dann im nächsten Sommer mitbringen. Ich fühlte mich sehr vergnügt darüber, daß ich dem Manne, zu welchem mich eine solche Neigung zog und dem ich so viel verdankte, einen Dienst erweisen konnte und versprach, daß ich die Zeichnung so genau und so gut machen werde, als es meine Kräfte gestatten.

An einem der folgenden Tage fuhren mein Gastfreund, Eustach, Roland, Gustav und ich in den Sternenhof ab.


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