Adalbert Stifter
Der Nachsommer
Adalbert Stifter

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Der Bund

Der Winter verging wie gewöhnlich. Ich richtete meine mitgebrachten Dinge in Ordnung und holte an Schreibgeschäften nach, was im Sommer wegen der Tätigkeit im Freien und der anderweitig verlorenen Zeit im Rückstande geblieben war. Der Umgang mit den Meinigen in dem engsten Kreise des Hauses war mir das Liebste, er war mein größtes Vergnügen, er war meine höchste Freude. Der Vater bezeigte mir von Tag zu Tag mehr Achtung. Liebe konnte er mir nicht in größerem Maße bezeigen, denn diese hatte er mir immer höchstmöglich bewiesen; aber so wie er früher bei der zärtlichsten Sorgfalt für mein Wohl und bei der Herbeischaffung alles dessen, was zu meinem Unterhalte und meiner Ausbildung notwendig gewesen ist, mich meine Wege gehen ließ, immer freundlich und liebevoll war und nicht begehrte, daß ich mich in andere Richtungen begebe, die ihm etwa bequemer sein mochten: so war er zwar dies jetzt alles auch; aber er fragte mich doch häufiger um meine Bestrebungen und ließ sich die Dinge, welche darauf Bezug hatten, auseinandersetzen, er holte meinen Rat und meine Meinung in Angelegenheiten seiner Sammlungen oder in denen des Hauses ein und handelte darnach, er sprach über Werke der Dichter, der Geschichtschreiber, der Kunst mit mir, und tat dies öfter, als es in früheren Zeiten der Fall gewesen war. Er brachte in meiner Gesellschaft manche Zeit bei seinen Bildern, bei seinen Büchern und bei seinen andern Dingen zu und versammelte uns gerne in dem Glashäuschen, das eine erwärmte Luft durchwehte, die sich traulich um die alten Waffen, die alten Schnitzwerke und die Pfeilerverkleidungen ergoß. Er sprach von verschiedenen Dingen und schien sich wohl zu fühlen, den Abend in dem engsten Kreise seiner Familie zubringen zu können. Mir schien es, daß er zu der jetzigen Zeit nicht nur früher aus seiner Schreibstube nach Hause komme als sonst, sondern daß er sich auch mehr innerhalb der Mauern desselben aufhalte als in früheren Jahren. Die Mutter war sehr freudig über die Heiterkeit des Vaters, sie ging gerne in seine Pläne ein und beförderte alles, was sie in ihrem Kreise zu der Erfüllung derselben tun konnte. Sie schien uns Kinder mehr zu lieben als in jeder vergangenen Zeit. Klotilde wendete sich immer mehr und mehr zu mir, sie war gleichsam mein Bruder, ich war ihr Freund, ihr Ratgeber, ihr Gesellschafter. Sie schien gar keine andere Empfindung als für unser Haus zu haben. Wir setzten unsere Übungen im Spanischen, im Zitherspielen, im Zeichnen und Malen fort.

Trotz dieser Dinge war sie auch im Hauswesen eifrig, um der Mutter Folge zu leisten und ihren Beifall zu gewinnen. Wenn etwas in dieser Art, das eine größere Sorgfalt und Geschicklichkeit erheischte, besonders gelang und dies erkannt wurde, so war ihre Befriedigung größer, als wenn sie bei einer ernsten und wichtigen Bewerbung vor einer ansehnlichen Versammlung den Preis davon getragen hätte.

In den Gesellschaften, die in kleineren oder größeren Kreisen, nur seltener als in früheren Jahren, in unserem Hause statt fanden, wurden jetzt auch mehr Gespräche geführt als da wir noch jünger waren. Es wurden ernsthafte Dinge in Untersuchung gezogen, Angelegenheiten des Staates, allgemeine öffentliche Unternehmungen oder Erscheinungen, die von sich reden machten. Man sprach auch von seinen Beschäftigungen, von seinen Liebhabereien oder von dem gewöhnlichen Tagesstoffe, wie etwa das Theater ist oder wie Begebenheiten sind, die sich in den nächsten Umgebungen zutragen. Im Übrigen wurde auch zu den bekannten Vergnügungen gegriffen, Musik, Tanz, Liedersingen. Manche jüngere Leute lernten sich da neu kennen, ältere setzten die früher bestandene Bekanntschaft fort.

Ich besuchte meine Freunde, besprach mich mit ihnen und erzählte ihnen im Allgemeinen, womit ich mich eben beschäftige. Sie teilten mir aus dem Kreise ihrer Erlebnisse mit und machten mich auf manche Persönlichkeiten aufmerksam.

Ich setzte meine Malerei fort, ich betrieb die Edelsteinkunde und besuchte manches Theater. Das Lesen der Bücher über Baukunst vergnügte mich sehr, und es eröffnete sich mir da ein neues Feld, das manches Ersprießliche und manche Förderung versprach.

Die Abende bei der Fürstin erschienen mir immer wichtiger. Es hatte sich nach und nach eine Gesellschaft zusammen gefunden, deren Mitglieder sich häufig und gerne in dem Zimmer der Fürstin versammelten. Es wurden die anziehendsten Stoffe verhandelt, und man schrak nicht zurück, wenn jemand die Fragen der allerneuesten Weltweisheit auf die Bahn brachte. Man legte sich die Dinge zurecht, wie man konnte, man kleidete die eigentümliche Redeweise der sogenannten Fachmänner in die gewöhnliche Sprache und wendete den gewöhnlichen Verstand darauf an. Was durch diese Mittel und durch die der Gesellschaft herausgebracht werden konnte, das besaß man, und wenn es von der Gesellschaft als ein Gewinn betrachtet wurde, so behielt man es als einen Gewinn. Wenn aber nur Worte da zu sein schienen, von denen man eine greifbare Bedeutung nicht ermitteln konnte, so ließ man die Sache dahin gestellt sein, ohne ihr eine Folge zu geben und ohne über sie aburteilen zu wollen. Die Dichter und das Spanische wurden lebhaft fortgesetzt.

Wenn sehr klare Tage waren und eine heitere Sonne ein erhellendes Licht in den Zimmern vermittelte, so war ich in dem Glashäuschen und arbeitete an den Abbildungen der Pfeilerverkleidungen für meinen Gastfreund. Ich wollte sie so gut machen, als es mir nur möglich wäre, um dem Manne, dem ich so viel verdankte und den ich so hoch achtete, Zufriedenheit abzugewinnen oder ihm gar etwa ein Vergnügen zu bereiten. Ich wollte zuerst Zeichnungen von den Verkleidungen entwerfen und nach ihnen Bilder in Ölfarben ausführen. Ich machte die Zeichnungen auf lichtbraunes Papier, tiefte die Schatten in Schwarz ab, erhöhte die Lichter in einem helleren Braun und setzte die höchsten Glanzstellen mit Weiß auf. Als ich die Zeichnungen in dieser Art fertig hatte und durch vielfache Vergleichungen und Abmessungen überzeugt war, daß sie in allen Verhältnissen richtig seien, setzte ich noch den Maßstab hinzu, nach dem sie ausgeführt waren. Ich schritt nun zur Verfertigung der Bilder.

Sie wurden etwas kleiner als die Entwürfe gemacht, aber im genauen Verhältnisse zu denselben. Ich benutzte zum Malen immer die nehmlichen Vormittagsstunden, um die Glanzpunkte, die Lichter und die Schatten in ihrer vollen Richtigkeit zu erfassen und auch der Farbe im Allgemeinen ihre Treue geben zu können. Es zeigte sich mir da eine Erfahrung in den Farben wieder bestätigt, die ich schon früher gemacht hatte. Auf die mit schwachem Firnisse überzogenen Holzschnitzwerke nahmen die umgebenden Gegenstände einen solchen Einfluß, daß sich Schwerter, Morgensterne, dunkelrotes Faltenwerk, die Führung der Wände, des Fußbodens, die Fenstervorhänge und die Zimmerdecke in unbestimmten Ausdehnungen und unklaren Umrissen in ihnen spiegelten. Ich merkte bald, daß, wenn alle diese Dinge in die Farbe der Abbildungen aufgenommen werden sollten, die dargestellten Gegenstände wohl an Reichtum und Reiz gewinnen, aber an Verständlichkeit verlieren würden, so lange man nicht das Zimmer mit allem, was es enthält, mit malt, und dadurch die Begründung aufzeigt. Da ich dies nicht konnte und mein Zweck es auch nicht erheischte, so entfernte ich alles Zufällige und stark Einwirkende aus dem Zimmer und malte dann die Schnitzereien, wie sie sich sammt den übergebliebenen Einwirkungen mir zeigten, um einerseits wahr zu sein und um andererseits, wenn ich jede Einwirkung der Umgebung weg ließe, nicht etwas geradezu Unmögliches an ihre Stelle zu setzen und den Gegenstand seines Lebens zu berauben, weil er dadurch aus jeder Umgebung gerückt würde, keinen Platz seines Daseins und also überhaupt kein Dasein hätte. Was die wirkliche Ortsfarbe der Schnitzereien sei, würde sich aus dem Ganzen schon ergeben und müßte aus ihm erkannt werden. Ich wendete bei der Arbeit sehr viele Mühe auf und suchte sie so genau, als es meiner Kraft und meinen Kenntnissen möglich war, zu verrichten. Ich erhöhte und vertiefte die Farben so lange und suchte nach dem richtigen Tone und dem erforderlichen Feuer so lange, bis das Bild, neben die Gegenstände gestellt, aus der Ferne von ihnen nicht zu unterscheiden war. Die Zeichnung des Bildes mußte richtig sein, weil sie vollkommen genau nach dem ursprünglichen Entwurfe gemacht worden war, den ich nach mathematischen Weisungen zusammen gestellt hatte. Als die Sache nach meiner Meinung fertig war, zeigte ich sie dem Vater, welcher sie auch mit Ausnahme von kleinen Anständen, die er erhob, billigte. Die Anstände beseitigte ich zu seiner Zufriedenheit. Hierauf wurde alles in taugliche Fächer gebracht und zur Vorführung bereit gehalten.

 

Es waren fast die Tage des Vorfrühlings herangekommen, ehe ich mit diesem Werke fertig war. Dies hatte seinen Grund auch vorzüglich darin, daß ich die späteren hellen Wintertage mehr als die früheren trüben hatte benützen können.

Im Frühlinge trat ich meine Reise wieder an.

Ich machte zuerst einen Besuch bei meinem Gastfreunde, brachte ihm die Fächer, in denen die Abbildungen der Pfeilerverkleidungen enthalten waren, und händigte ihm sowohl den Entwurf als auch das Farbenbild der Schnitzereien ein. Er berief Eustach in seine Stube, in welcher die Dinge ausgepackt wurden, herüber. Beide sprachen sich sehr günstig über die Arbeit aus, und zwar günstiger als über jede frühere, die ich ihnen vorgelegt hatte. Ich war darüber sehr erfreut. Eustach sagte, daß man sehr gut die Ortsfarben und die, welche durch fremde Einwirkungen entstanden waren, unterscheiden könne, und daß man aus den letzten die Beschaffenheit der Umgebungen zu ahnen vermöge. Sie stellten das Bild in die nötige Entfernung und betrachteten es mit Gefallen. Besonders anerkennend sprach Eustach über die Richtigkeit und Brauchbarkeit des unfarbigen Entwurfes.

Ich reiste nach dem kurzen Besuche in dem Rosenhause in die Gegend der Tann, blieb auch dort nur kurz und drang tiefer in das Gebirge ein, um eine Mittelstelle zu finden, von der aus ich meine neuen Arbeiten unternehmen könnte. Als ich eine solche gefunden hatte, ging ich in das Lauterthal und dort in das Ahornwirtshaus, um meinen Kaspar und die Andern, welche mir im vorigen Jahre geholfen hatten, auch für das heurige zu dingen. Als dies, wie ich glaube zu gegenseitiger Zufriedenheit, abgetan war, blieb ich noch einige Tage in dem Ahornhause, teils damit sich meine Leute zu der Abreise rüsten konnten, teils um das mir liebgewordene Haus, das liebgewordene Tal und die Umgebung wieder ein wenig zu genießen. Ich ging bei dieser Gelegenheit mehrere Male in das Rothmoor, um dort nachzusehen, was man eben für Gegenstände aus Marmor mache. Mir schien es, als wäre die Anstalt seit einem Jahre sehr gediehen. Ich besprach mich auch dort über Arbeiten, die für mich auszuführen wären, falls ich den hiezu nötigen Marmor fände. Erkundigungen, um auf Spuren der Ergänzungen der Pfeilerverkleidungen meines Vaters, die ich in dieser Gegend gekauft hatte, zu kommen, waren auch heuer wie in früherer Zeit fruchtlos.

Ein Ereignis trat in dem Lauterthale ein, das mich sehr erheiterte. Mein Zitherspiellehrer, der einige Zeit gleichsam verschollen war, war wieder da. Er zeigte viele Freude, mich zu sehen, und sagte, er wolle mir in das Kargrat folgen, welches jetzt der Mittelpunkt meiner Arbeiten war, ein Dörfchen auf grasigen, baum- und buschlosen Anhöhen, ganz nahe dem ewigen Eise, mit armen Bewohnern und einem vielleicht noch ärmeren, genügsamen Pfarrer. Er sagte, er wolle diejenigen Arbeiten, die ich ihm auftragen werde, gegen Lohn verrichten, und in freier Zeit wollen wir auf der Zither spielen. Er habe noch keinen Schüler gehabt, mit dem ihm die Übungen auf der Zither so viele Freude gemacht hätten. Ich beschloß, einen Versuch zu wagen, und wir wurden über die gegenseitigen Bedingungen einig.

Als alles in Bereitschaft war, gingen wir aus dem Ahornhause in das Kargrat ab. Ich ging mit den Leuten auf abgelegenen und schneller zum Ziele führenden Gebirgspfaden. Nur einmal hatten wir eine Strecke gebahnter Straße, auf welcher ich zwei leichte Wägen mietete. Im Kargrat fand ich ein kleines Zimmerchen. Für meine Leute wurde eine Scheune zurecht gerichtet, und zur Aufbewahrung meiner Gegenstände wurde aus Brettern ein ganz kleines Häuschen eigens erbaut. Wir waren nun in der Nähe der höchsten Höhen. In mein winziges Fenster sahen die drei Schneehäupter der Leiterköpfe, hinter denen die steile, ziemlich schlanke, blendend weiße Nadel der Karspitze hervorragte, und neben denen die edelsteinglänzenden Bänke der Simmen oder des Simmieises sich dehnten. Um den sehr spitzen Kirchturm des Dörfchens wehte die scharfe, fast harte Gebirgsluft und senkte sich auf unsere Häupter und Angesichter nieder. Weit ab gegen die Tiefe zu lagen die anderen Berge und die dichter bewohnten und bevölkerten Länder.

Über das Zitherspiel meines wiedergefundenen Lehrers war ich wirklich sehr erfreut. Ich hatte in der Zeit, während welcher ich ihn nicht gesehen hatte, schon beinahe vergessen, wie vortrefflich er spiele. Alles, was ich seit dem gehört hatte, erblaßte zur Unbedeutenheit gegen sein Spiel, von dem ich den Ausdruck »höchste Herrlichkeit« gebrauchen muß. Er scheint von diesem seinem Musikgeräte auch ergriffen und beherrscht zu sein; wenn er spielt, ist er ein anderer Mensch und greift in seine und in die Tiefen anderer Menschen, und zwar in gute. Auf diesen Berghöhen war das schöne Spiel fast noch schöner, noch rührender und einsamer.

Wie uns im vorigen Jahre Wälder und Wände eingeschlossen hatten und nur wenige Stellen uns freien Umblick verschafften, so waren wir heuer fast immer auf freien Höhen, und nur ausnahmsweise umschlossen uns Wände oder Wälder. Der häufigste Begleiter unserer Bestrebungen war das Eis.

Als die Kalendertage sagten, daß die Rosenblüte schon beinahe vorüber sein müsse, beschloß ich, meine Freunde zu besuchen. Ich ordnete im Kargrat alles für meine Abwesenheit und Wiederkunft an und begab mich auf den Weg.


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