Adalbert Stifter
Der Nachsommer
Adalbert Stifter

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Am andern Tage war ein klarer Reif über Wiesen und Felder. Die Nebelfäden unserer Umgebung waren verschwunden, alles lag scharf und funkelnd da, nur das Tiefland war ein einziger wogender Nebel, jenseits dessen das Hochgebirge deutlich mit seinen frischen und sonnigen Schneefeldern dastand.

Kurz nach Aufgang der Sonne fuhren wir fort, und bald waren ihre milden Strahlen zu spüren. Wir empfanden sie, der Reif schmolz weg und in Kurzem zeigte sich uns die Gegend wieder wie gestern.

Wir besuchten eine Kirche, in welcher mein Gastfreund Ausbesserungen an alten Schnitzereien machen ließ. Es war aber gerade jetzt nicht viel zu sehen. Ein Teil der Gegenstände war in das Rosenhaus abgegangen, ein anderer war abgebrochen und lag zum Einpacken bereit. Die Kirche war klein und sehr alt. Sie war in den ersten Anfängen der gothischen Kunst gebaut. Ihre Abbildung befand sich unter den Bauzeichnungen Eustachs. Als wir alles besehen hatten, fuhren wir wieder weiter.

Nachmittags gesellte sich Roland zu uns. Er hatte uns in einem Gasthause erwartet, in welchem unsere Pferde Futter bekamen.

Ich konnte, da wir uns eine Weile in dem Hause aufhielten, und später bei einer andern Gelegenheit, da wir eine Strecke zu Fuß gingen, wieder bemerken, daß seine Blicke zuweilen auf Natalien hafteten.

Er hatte Zeichnungen in einem Buche, das er bei sich trug, und er hatte Bemerkungen und Vorschläge in sein Gedenkbuch geschrieben. Er teilte von beiden Einiges mit, soweit es die Reise gestattete, und versprach, Abends, wenn wir in der Herberge angelangt sein würden, noch Mehreres vorzulegen.

Am nächsten Tage Nachmittags kamen wir nach Kerberg und besahen die Kirche und den schönen geschnitzten Hochaltar. Mir gefiel er jetzt viel besser, als da ich ihn in Gesellschaft meines Gastfreundes und Eustachs zum ersten Male gesehen hatte. Ich begriff nicht, wie ich damals mit so wenig Anteil vor diesem außerordentlichen Werke hatte stehen können; denn außerordentlich erschien es mir trotz seiner Fehler, die, wie ich wohl sah, in jedem Werke altdeutscher Kunst zu finden sein würden, die ich aber in dem Bildnerwerke, das auf der Treppe meines Freundes stand, nicht fand. Wir blieben lange in der Kirche, und ich wäre gerne noch länger geblieben. Vor der Ruhe, dem Ernste, der Würde und der Kindlichkeit dieses Werkes kam eine Ehrfurcht, ja fast ein Schauer in mein Herz, und die Einfachheit der Anlage bei dem großen Reichtume des Einzelnen beruhigte das Auge und das Gemüt. Wir sprachen über das Werk, und aus dem Gespräche erkannte ich jetzt recht deutlich, daß früher auch vor diesem Werke die zwei Männer auf meine Unkenntnis Rücksicht genommen hatten, und ich dankte es ihnen in meinem Herzen. Ich nahm mir vor, einmal von dieser Schnitzarbeit ein genaues Abbild zu machen und es meinem Vater zu bringen.

Ich äußerte mich, wie schön, wie groß einmal die Kunst gewirkt habe und wie dies jetzt anders geworden scheine.

»Es sind in der Kunst viele Anfänge gemacht worden«, sagte mein Gastfreund. »Wenn man die Werke betrachtet, die uns aus sehr alten Zeiten überliefert worden sind, aus den Zeiten der ägyptischen Reiche, des assyrischen, medischen, persischen, der Reiche Indiens, Kleinasiens, Griechenlands, Roms – Vieles wird noch erst in unsern Zeiten aus der Erde zu Tage gefördert, Vieles harrt noch der zukünftigen Enthüllung, wer weiß, ob nicht sogar auch Amerika Schätzenswertes verbirgt -, wenn man diese Werke betrachtet und wenn man die besten Schriften liest, die über die Entwicklung der Kunst geschrieben worden sind: so sieht man, daß die Menschen in der Erschaffung einer Schöpfung, die der des göttlichen Schöpfers ähnlich sein soll – und das ist ja die Kunst, sie nimmt Teile, größere oder kleinere, der Schöpfung und ahmt sie nach -, immer in Anfängen geblieben sind, sie sind gewissermaßen Kinder, die nachäffen. Wer hat noch erst nur einen Grashalm so treu gemacht, wie sie auf der Wiese zu Millionen wachsen, wer hat einen Stein, eine Wolke, ein Wasser, ein Gebirge, die gelenkige Schönheit der Tiere, die Pracht der menschlichen Glieder nachgebildet, daß sie nicht hinter den Urbildern wie schattenhafte Wesen stehen, und wer hat erst die Unendlichkeit des Geistes darzustellen gewußt, die schon in der Endlichkeit einzelner Dinge liegt, in einem Sturme, im Gewitter, in der Fruchtbarkeit der Erde mit ihren Winden, Wolkenzügen, in dem Erdballe selber und dann in der Unendlichkeit des Alls? Oder wer hat nur diesen Geist zu fassen gewußt? Einige Völker sind sinniger und inniger geworden, andere haben ins Größere und Weitere gearbeitet, wieder andere haben den Umriß mit keuscher und reiner Seele aufgenommen und andere sind schlicht und einfältig gewesen. Nicht ein Einzelnes von diesen ist die Kunst, alles zusammen ist die Kunst, was da gewesen ist und was noch kommen wird. Wir gleichen den Kindern auch darin, daß, wenn sie ein Haus, eine Kirche, einen Berg aus Erde nur entfernt ähnlich ausgeführt haben, sie eine größere Freude darüber empfinden, als wenn sie das um Unvergleichliches schönere Haus, die schönere Kirche oder den schöneren Berg selbst ansehen. Wir haben ein innigeres und süßeres Gefühl in unserem Wesen, wenn wir eine durch Kunst gebildete Landschaft, Blumen oder einen Menschen sehen, als wenn diese Gegenstände in Wirklichkeit vor uns sind. Was die Kinder bewundern, ist der Geist eines Kindes, der doch so viel in der Nachahmung hervorgebracht hat, und was wir in der Kunst bewundern, ist, daß der Geist eines Menschen, uns gleichsam sinnlich greifbar, ein Gegenstand unserer Liebe und Verehrung, wenn auch fehlerhaft, doch dem etwas nachgeschaffen hat, den wir in unserer Vernunft zu fassen streben, den wir nicht in den beschränkten Kreis unserer Liebe ziehen können und vor dem die Schauer der Anbetung und Demütigung in Anbetracht seiner Majestät immer größer werden, je näher wir ihn erkennen. Darum ist die Kunst ein Zweig der Religion, und darum hat sie ihre schönsten Tage bei allen Völkern im Dienste der Religion zugebracht. Wie weit sie es in dem Nachschaffen bringen kann, vermag niemand zu wissen. Wenn schöne Anfänge da gewesen sind, wie zum Beispiele im Griechentume, wenn sie wieder zurück gesunken sind, so kann man nicht sagen, die Kunst sei zu Grunde gegangen; andere Anfänge werden wieder kommen, sie werden ganz Anderes bilden, wenn ihnen gleich allen das Nehmliche zu Grunde liegt und liegen wird, das Göttliche; und niemand kann sagen, was in zehntausend, in hunderttausend Jahren, in Millionen von Jahren oder in Hunderten von Billionen von Jahren sein wird, da niemand den Plan des Schöpfers mit dem menschlichen Geschlechte auf der Erde kennt. Darum ist auch in der Kunst nichts ganz unschön, so lange es noch ein Kunstwerk ist, das heißt, so lange es das Göttliche nicht verneint, sondern es auszudrücken strebt, und darum ist auch nichts in ihr ohne Möglichkeit der Übertreffung schön, weil es dann schon das Göttliche selber wäre, nicht ein Versuch des menschlichen Ausdruckes desselben. Aus dem nehmlichen Grunde sind nicht alle Werke aus den schönsten Zeiten gleich schön und nicht alle aus den verkommensten oder rohesten gleich häßlich. Was wäre denn die Kunst, wenn die Erhebung zu dem Göttlichen so leicht wäre, wie groß oder klein auch die Stufe der Erhebung sei, daß sie Vielen, ohne innere Größe und ohne Sammlung dieser Größe bis zum sichtlichen Zeichen, gelänge? Das Göttliche mußte nicht so groß sein, und die Kunst würde uns nicht so entzücken. Darum ist auch die Kunst so groß, weil es noch unzählige Erhebungen zum Göttlichen gibt, ohne daß sie den Kunstausdruck finden, Ergebung, Pflichttreue, das Gebet, Reinheit des Wandels, woran wir uns auch erfreuen, ja woran die Freude den höchsten Gipfel erreichen kann, ohne daß sie doch Kunstgefühl wird. Sie kann etwas Höheres sein, sie wird als Höchstes dem Unendlichen gegenüber sogar Anbetung und ist daher ernster und strenger als das Kunstgefühl, hat aber nicht das Holde des Reizes desselben. Daher ist die Kunst nur möglich in einer gewissen Beschränkung, in der die Annäherung zu dem Göttlichen von dem Banne der Sinne umringt ist und gerade ihren Ausdruck in den Sinnen findet. Darum hat nur der Mensch allein die Kunst, und wird sie haben, so lange er ist, wie sehr die Äußerungen derselben auch wechseln mögen. Es wäre des höchsten Wunsches würdig, wenn nach Abschluß des Menschlichen ein Geist die gesammte Kunst des menschlichen Geschlechtes von ihrem Entstehen bis zu ihrem Vergehen zusammenfassen und überschauen dürfte.«

Mathilde antwortete hierauf mit Lächeln: »Das wäre ja im Großen, was du jetzt im Kleinen tust, und es dürfte hiezu eine ewige Zeit und ein unendlicher Raum nötig sein.«

»Wer weiß, wie es mit diesen Dingen ist«, erwiderte mein Gastfreund, »und es wird hier wie überall gut sein: Ergebung, Vertrauen, Warten.«

 

Eustach öffnete die Mappe, in welcher er die Zeichnung des Altares und die Zeichnungen von Teilen der Kirche, von der Kirche selber und von Gegenständen hatte, die sich in der Kirche befanden.

Wir verglichen die Zeichnung mit dem Altare, es wurde Manches bemerkt, Manches gelobt, Manches zur Verbesserung der Zeichnung vorgeschlagen.

Wir betrachteten auch die Kirche, wir betrachteten Teile derselben, wir besahen Grabmäler und unter ihnen auch den großen roten Stein, auf welchem der Mann mit der hohen, schönen Stirne abgebildet ist, der die Kirche und den Altar gegründet hatte.

Wie blieben an diesem Tage in Kerberg. Wir stiegen auf den Berg, auf welchem das alte Schloß lag, und sahen das Schloß und den in dem tiefsten herbstlichen Zustande stehenden Garten an. Wir gingen auf den Stellen, auf welchen die alten mächtigen und reichen Leute gegangen waren, die einst hier gewohnt hatten, und auch der Mann, als dessen Tat die Kirche in dem Tale steht.

»Was alle diese Menschen getan haben«, sagte mein Gastfreund, »wäre zum Teile in den Papieren und Pergamenten enthalten, die in den Schlössern und Häusern dieses Landes und mitunter auch in entfernten Städten liegen. Einige wissen einen Teil dieser Taten, die meisten sind damit völlig unbekannt, und diejenigen, welche auf den Spuren herum gehen, die ihre Vorfahren getreten haben, wissen oft nicht, wer diese gewesen sind. Es wäre nicht unziemlich, wenn durch Öffnung der Briefgewölbe in allen Ländern auch Einzelgeschichten von Familien und Gegenden verfaßt würden, die unser Herz oft näher berühren und uns greiflicher sind als die großen Geschichten der großen Reiche. Man betritt wohl diesen Weg, aber vielleicht nicht ausreichend und nicht in der rechten Art.«

Von Kerberg aus wendeten wir uns am folgenden Tage den höher gelegenen Teilen des Landes zu, das dichter und ausgebreiteter bewaldet war als die bisher befahrenen Gegenden und von dem uns durch das Dämmer des Vormittages die breiten und weithinziehenden Bergesrücken mit Nadeldunkel und Buchenrot entgegen sahen.

Mein Gastfreund hatte Recht gehabt. Ein Tag wurde immer schöner als der andere. Nicht der geringste Nebel war auf der Erde, auf welcher wir reiseten, nicht das geringste Wölkchen am Himmel, der sich über uns spannte. Die Sonne begleitete uns freundlich an jedem Tage, und wenn sie schied, schien sie zu versprechen, morgen wieder so freundlich zu erscheinen.

Roland blieb drei Tage bei uns, dann verließ er uns, nachdem er vorher noch Zeichnungen und andere Papiere in den Wagen meines Gastfreundes gepackt hatte. Er wollte noch bis zum Eintritte des schlechten Wetters in dem Lande bleiben und dann in das Rosenhaus zurückkehren.

Alles war recht lieb und freundlich auf dieser Reise, die Gespräche waren traulich und angenehm, und jedes Ding, eine kleine alte Kirche, in der einst Gläubige gebetet, eine Mauertrümmer auf einem Berge, wo einst mächtige und gebietende Menschen gehaust hatten, ein Baum auf einer Anhöhe, der allein stand, ein Häuschen an dem Wege, auf das die Sonne schien, alles gewann einen eigentümlichen sanften Reiz und eine Bedeutung.

Am achten Tage wandten wir unsere Wägen wieder gegen Süden, und am neunten Abend trafen wir in dem Asperhofe ein.

Ehe ich mich zu meiner Heimreise rüstete, sah ich noch einmal Manches der herrlichen Bilder meines Gastfreundes, drückte manches Außerordentliche der Bücher in meine Seele, sah die geliebten Angesichter der Menschen, die mich umgaben, und sah manchen Blick der Landschaft, die sich zu tiefem Ersterben rüstete.

Mein Herz war gehoben und geschwellt, und es war, als breitete sich in meinem Geiste die Frage aus, ob nun ein solches Vorgehen, ob die Kunst, die Dichtung, die Wissenschaft das Leben umschreibe und vollende, oder ob es noch ein Ferneres gäbe, das es umschließe und es mit weit größerem Glück erfülle.


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