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Zweiundfünfzigstes Kapitel

Seit der Nacht der Barrikaden ist die Sonne zweimal aufgegangen. Ein wunderlieblicher Frühlingstag blaut über der ungeheuren Stadt. Von dem lichten Himmel heben sich scharf die prächtigen Paläste ab, deren gewaltige Säulen und reichgeschmückte Friese in der goldenen Morgensonne gebadet sind. Und in der goldenen Morgensonne baden sich auch Tausende und aber Tausende glücklicher Menschen, die in unabsehbaren festlichen Scharen die Stadt durchwallen.

»Armes Volk!« sprach Oldenburg bei sich, während er hinabschaute auf die wogenden Menschen. »Armes, wundersüchtiges Volk! Als ob alle Heiligen des Kalenders dir helfen könnten, wenn du dir nicht selbst hilfst. Als ob die Sünden eines Menschenalters in einer Nacht gesühnt, als ob ein todkranker Staat an einem Tage gesunden könnte! Du willst schon vergeben und vergessen, denen, die dir noch niemals, niemals etwas vergeben und was du, nach ihrem Sinn, an ihnen gesündigt, niemals vergessen haben; niemals vergessen werden; noch tragen deine Häuser die Spuren des brudermörderischen Kampfes, noch sind die Dächer, deren Steine du in deiner Verzweiflung auf die Köpfe deiner Feinde hinabschleudertest, abgedeckt; noch ist das Pflaster nicht wieder eingefügt, das du aufrissest, dir einen Wall zu schaffen gegen frechen Übermut; noch sind die Toten nicht begraben, die ihr Blut für dich vergossen – noch harren auf ihrem Schmerzenslager zum Tode Verwundete der Stunde der Erlösung!«

Das Hotel beherbergte zwei dieser Opfer.

Unten, ein paar Fuß von der Straße, auf der die fröhlichen Menschen vorüberwimmelten über die Stelle, wo vorgestern nacht die Barrikade ragte, lag in einem Sarge ein bleicher Mann, von dessen Wangen ein grauer Bart weit auf die breite Brust herabfloß über eine tiefe Wunde, der vorgestern nacht das Blut des edelsten Herzens entströmt war.

Und hier in diesem selben Zimmer lag auf seinem Leidenslager hingestreckt ein junger Mann, der an der Seite des grauen Schwärmers tödlich verwundet wurde, und dessen üppige Jugendkraft bis zu dieser Stunde unter unsäglichen Qualen mit dem unbarmherzigen Tode gekämpft hatte.

Nach dem Sturm, bei dem Berger fiel und Oswald die Todeswunde empfing, hatte das Militär keinen neuen Angriff gemacht. Sei es, daß man die Position wirklich für uneinnehmbar hielt, sei es, daß die schwankenden Gemüter, bei denen die Entscheidung war, hemmend in die Operationen eingriffen, sei es, daß der Tod des Fürsten Waldernberg, der mit einer an Raserei grenzenden Kühnheit den letzten Angriff geleitet hatte und bei dem Sturm gefallen war, eine Bestürzung in den Reihen der Soldaten verbreitete, die ihre Führer die Erfolglosigkeit eines abermaligen Versuchs voraussehen ließ – man hatte sich begnügt, von Zeit zu Zeit durch eine Kartätschenladung die Barrikadenmänner aufzuschrecken; endlich war gegen fünf Uhr morgens der letzte Schuß gefallen.

Oldenburg hatte auf seinem Posten ausgehalten, bis er sich überzeugte, daß in der Tat kein abermaliger Angriff zu befürchten stehe und das Militär Befehl zum Rückzug erhalten habe. Dann erst hatte er Schmenckel, der als sein treuer Knappe kaum von seiner Seite gewichen war, zu sich gerufen, und sie hatten zusammen die schon halb abgeräumte Barrikade, als die letzten aller, verlassen.

Schmenckel hatte noch in der Nacht Oldenburg mit Tränen in den Wimpern erzählt, daß der Offizier, der vor ihren Augen gefallen, sein Sohn gewesen sei. Oldenburg hatte den sehr verworrenen Bericht von des ehrlichen Kaspars sehr verworrenem Leben mit nicht geringem Erstaunen angehört, besonders die Geschichte der letzten Tage – die Intrigen des unseligen Albert Timm, dessen Leichnam in das Hospital getragen war, des schlauen Jeremias Gutherz, der den Überfall in den »Dusteren Keller« geleitet, und der der erste gewesen war, der sich aus dem Staube machte; die Konferenzen mit dem Grafen Malikowsky und der Fürstin Letbus; und daß Timm ihm auch gesagt habe, auf welche Weise er aus Oswald Stein alle Tage, die er wolle, einen Baron Grenwitz machen könne.

Oldenburg kannte die Welt und besonders die vornehmen Regionen, in die Schmenckels Geschichten hineinspielten, zu genau, als daß er an der Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit solcher Vorkommnisse hätte zweifeln sollen.

Wußte Oswald von seiner Abstammung? – Doch das war ja am Ende so gleichgültig! Es war nicht anzunehmen, daß der Tod zwischen dem Sohne des Barons Harald oder des Lehrers Stein einen besonderen Unterschied machen würde, und Oswald gehörte dem Tode.

Eine Stunde nach seiner Verwundung war es entschieden. Um diese Zeit kam die erste ärztliche Hilfe, deren sich die Barrikade zu erfreuen hatte, in der Person des Doktor Braun, der in Begleitung Melittas anlangte. Melitta war noch bei Sophie gewesen, als der alte Baumann die Nachricht vom Ausbruch des Kampfes brachte, und daß Oldenburg die Barrikade kommandiere. Melitta war sogleich entschlossen gewesen, zu Oldenburg zu eilen, und Sophie sah nur zu wohl, daß es Franz in einer Stunde, wo Tausende ihr Leben aufs Spiel setzten, nicht zu Hause litt, und trug es deshalb still, als er erklärte, Melitta begleiten zu wollen. Der alte Baumann und Bemperlein, der ebenfalls anwesend war, sollten bei Sophie bleiben und sich ihrer und der Kinder annehmen. Melitta und Franz hatten einen mühseligen Weg, bis sie endlich nach mehrstündiger Wanderung auf den größten Umwegen und oft mit Gefahr des Lebens ihr Ziel erreichten.

Das Wiedersehen mit der Geliebten entschädigte Oldenburg tausendmal für alles, was er ihrethalben gelitten hatte. Melitta umarmte und küßte ihn unter Tränen in Brauns Gegenwart, sie hing sich an seinen Arm, sie konnte sich nicht trennen von dem, den sie nicht mehr am Leben zu finden gefürchtet hatte, und den sie jetzt, von Pulver geschwärzt, in der ganzen Glorie seiner stolzen Mannheit wiedersah, bis er ihr ins Ohr flüsterte, daß im Hotel Oswald auf den Tod verwundet liege. Da hatte Melitta ihren Arm aus seinem Arm gezogen und hatte – ernst und bleich, aber nicht bestürzt – gesagt, daß sie den Kranken pflegen wolle, wie es ihre Pflicht sei.

Seitdem war ein Tag und eine Nacht vergangen – eine Ewigkeit für die, die am Lager des von Höllenqualen Gefolterten wachten, der sich jetzt in seiner Raserei im Bette aufbäumte, so daß es Schmenckels ganzer Kraft bedurfte, ihn zu halten, und ein anderes Mal in sich überstürzender Hast die Bilder schilderte, die sich in wahnsinniger Fülle durch sein überreiztes Gehirn drängten. So hatte er, der sonst so Verschwiegene, das Geheimnis seiner Geburt enthüllt und damit niemand so sehr überrascht, als die gute Frau Hauptmann, die sich lange nach ihrer Marie gesehnt und nun den Sohn Mariens endlich gefunden hatte, nur, um ihn sterben zu sehen. Die alte Dame schwebte wie ein guter Geist lautlos durch das Zimmer, und wenn sie gerade im Augenblicke nicht beschäftigt war, sah man, wie sie die Hände faltete und betete, daß ihr der Sohn der geliebten Tochter erhalten bleiben möge.

Aber dazu war schon seit dem ersten Augenblick keine Hoffnung mehr gewesen. Franz hatte sofort erklärt, daß Oswald sterben müsse, daß er einen, höchstens zwei Tage noch leben könne. Es sei nicht wahrscheinlich, daß er vor dem Tode noch einmal zum Bewußtsein erwache.

Melitta sah diesem Augenblick, wenn er eintreten sollte, mit Wehmut entgegen. Sie wußte jetzt, daß sie Oswald nur noch als einen unglücklichen Bruder liebe. Oswald hatte in seinen Phantasien ihren Namen nicht einmal über die Lippen gebracht; er hatte immer nur von einer lieben, schönen Frau gesprochen, gegen die er arg gesündigt habe, und die ihm, was er an ihr gefrevelt, nicht verzeihen könne. Die Erinnerung daran hatte dem Unglücklichen Tränen ausgepreßt; und Melitta hatte ihm die Tränen von den Wangen gewischt und nur immer gewünscht, sie könnte ihm sagen, daß sie ihm längst verziehen habe.

Da seufzte der Verwundete so tief, daß Oldenburg sich schnell im Fenster umwandte und an das Bett trat, wo Melitta saß. Aber das Seufzen war kein Schmerzenslaut gewesen, nur der letzte tiefe Atemzug einer Brust, von der die Last des Lebens für immer genommen ist.


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