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Zwölftes Kapitel

Die Stadt Sundin spielte in vergangenen Zeiten eine bedeutendere Rolle als jetzt. Sie war ein angesehenes Glied der alten Hansa und rivalisierte mit Hamburg, Lübeck und Bremen an Macht und Reichtum. Ihre Schiffe fuhren auf allen nordischen Meeren, und auch in den Häfen von Genua und Venedig wehte nicht selten die Sundiner Flagge. Die Bürger waren ein breitschultriges, hartköpfiges, in Liebe und Haß starkes und allewege tüchtiges Geschlecht, das nicht ohne Grund auf seine Freiheiten und Gerechtsame stolz war, und auf die zwischen sumpfigen Teichen und dem Meere geschützte Lage und auf die hohen Mauern und Wälle ihrer Stadt, noch mehr aber auf die breite Wehr an ihrer Seite und das mutige Herz in der Brust felsenfest vertraute. Noch im Dreißigjährigen Krieg bewährte Sundin im heißen Kampfe gegen die Kaiserlichen seinen alten Ruhm, und die Erinnerung an die glorreichen Taten der Väter ist bis auf den heutigen Tag lebendig in den Herzen der jetzigen Bewohner.

Freilich, es muß jetzt von dem alten Ruhme zehren, denn die neue Zeit hat nichts zu seiner Vermehrung getan. Seitdem die Schiffahrt nicht mehr mit den wenig tiefgehenden Fahrzeugen auskommt, wie sie in den langen, vielfach gewundenen Wasserstraßen des Sundes, an dem die Stadt liegt, einzig verwandt werden können; seitdem der Handel sich andere Wege gesucht und andere Märkte geschaffen hat, ist Sundin langsam aber stetig von seiner stolzen Höhe heruntergestiegen und zuletzt auf das Niveau einer simplen Provinzialstadt herabgesunken, die in der großen Welt der Politik und des Handels nicht weiter zählt.

Indessen, trotzdem der Hafen versandet ist, die Wälle geschleift und von der ellendicken Stadtmauer nur noch Trümmer vorhanden sind, liegt auf der alten Hansestadt noch immer ein melancholischer Hauch ehemaliger Größe, der den sinnigen Wanderer anmutet wie den Gelehrten der Moderduft eines vergilbten Pergaments. Sosehr sich auch die jetzigen Bewohner gemüht haben, ihrer Stadt ein möglichst triviales, nüchternes Aussehen zu geben – sie haben doch manche poetisch winklige Gasse nicht gerademachen können, manches alte Haus mit schmalem, hohem, reich verziertem Giebel stehenlassen müssen. Und über dem Gewirr der Straßen, Gassen und Gäßchen ragen die gewaltigen Türme herrlicher Kathedralen, die für die jetzigen Verhältnisse Sundins viel zu prächtig sind und des Abends, wenn man sich vom Meere her dem Hafen nähert und der graue Wassernebel über das Ganze einen ahnungsvollen Schleier breitet, besonders aber in der Nacht, wenn sie ihren ehrwürdigen Schatten weit hin über die Stadt werfen, die im Mondenschein zu ihren Füßen schläft, die Illusion des Altertümlichen vollkommen machen.

Im übrigen ist Sundin für die Provinz, in der es liegt, noch immer eine wichtige Stadt. Wenn seine Flagge auch nicht wie sonst auf allen Meeren weht, so wimmelt es doch zu allen Zeiten in seinem Hafen von kleineren Kauffahrteischiffen und Booten, und auf den Werften liegen stets mehrere Fahrzeuge auf dem Stapel. Wenn seine Mauer auch von den Kaiserlichen in Trümmer geschossen ist, und seine Wälle von den Franzosen geschleift sind, so ist es doch noch immer eine Festung, deren Kommandant nicht ruhig schlafen würde, bevor nicht von allen Torwachen der Rapport eingelaufen ist, daß »nichts Besonderes vorgefallen«. Wenn die Stadt auch ihre alten Privilegien verloren und die stolze Freiheit und Selbständigkeit eingebüßt hat, so ist sie doch wiederum als integrierender Teil eines großen Ganzen um manche Vorteile reicher geworden. Sundin ist nicht nur die Garnisonsstadt für ein Bataillon Infanterie und ein halbes Regiment Artillerie, sondern auch der Sitz der Regierung des Bezirkes sowie eines höchsten Gerichtshofes.

Überdies ist Sundin die Residenz des in dieser Provinz und besonders in diesem Teile der Provinz so mächtigen, reich begüterten Adels. Wenn die Kornernten auf ihren weiten Feldern eingeheimst sind, wenn die Blätter von den Bäumen ihrer Parks wehen und die Krähen aus den entlaubten Wäldern in die Städte ziehen, dann kommen alle die Grafen und Barone und kleinen Herren drüben von der Insel und aus der Umgegend in ihren schwerfälligen, vierspännigen Staatskarossen zur Stadt gefahren und richten sich ein für den Winter mit Kindern, Dienerschaft, Hauslehrern und Gouvernanten in den stattlichen Häusern, die sich den Sommer über durch öde Schweigsamkeit, heruntergelassene Fenstervorhänge und das Gras, das zwischen den Steinen der Rampen in idyllischer Ruhe wuchs, vor gewöhnlichen Häusern auszeichneten.


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