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Achtundvierzigstes Kapitel

Als der Fürst wie ein von den Furien gejagter Orest durch die Vorzimmer eilte, begegnete er der Baronin Grenwitz, die von der Fürstin Abschied zu nehmen kam. Er glaubte vor Scham in die Erde sinken zu müssen, als sie ihm mit ihren großen Augen starr und prüfend ins Gesicht sah. Sie sagte etwas zu ihm, aber er hörte nicht, was es war. Es sauste ihm in den Ohren. Er stieß ein paar unartikulierte Töne aus, die eine Entschuldigung vorstellen sollten. Dann stürzte er fort.

Die Baronin sah ihm mit düsteren, mißtrauischen Blicken nach.

Anna-Maria hatte, seitdem sie das Palais betreten, keine frohe Minute gehabt. Der Empfang gestern Abend hatte sie auf die peinlichste Weise berührt. Die erzwungene Haltung des Fürsten, die vergeblichen Bemühungen der Fürstin, einen freundlicheren Ton in der Gesellschaft hervorzurufen, der kaum verschleierte Hohn, mit dem der Graf jedes wärmere Wort lächerlich zu machen suchte – das alles hatte sie mit banger Sorge für Helenens Zukunft erfüllt. Sie hatte die ganze Nacht schlaflos dagelegen und darüber gerätselt, und sie war – sie wußte selbst nicht warum – immer wieder zu dem Resultat gekommen, die Fürstin habe sich einmal in ihrem Leben eine Untreue zuschulden kommen lassen und müsse dafür noch heute die brutale Tyrannei des Grafen dulden. Vielleicht, daß zu diesem Resultat die allerdings auffallende Unähnlichkeit des Vaters und des Sohnes mitgewirkt hatte. So war sie in der übelsten Laune und mit heftigstem nervösem Kopfschmerz dazu sehr spät aufgestanden und hatte es gar nicht ungern gesehen, daß Helene am Nachmittag ihre Freundin Sophie zu besuchen fuhr. Kaum war Helene aus dem Hause, als der Baronin zwei Briefe überbracht wurden, der eine aus Sundin, der andere aus der Stadt. Sie erbrach den Sundiner Brief zuerst. Die Nachricht von Maltes Krankheit erfüllte sie mit namenloser Angst. Sie hatte von seiner Geburt an für sein Leben gefürchtet; so sollte ihre Furcht also doch in Erfüllung gehen! Und wenn Malte starb – was Gott in seiner großen Gnade noch gnädig verhüten wolle! – so fiel, da jetzt auch Felix nicht mehr war, das Majorat an einen Hauptmann von Grenwitz, den Sohn von ihres verstorbenen Gemahls Vetter, einen armen schwedischen Edelmann, den sie nie gesehen hatte, den sie niemals hatte sehen wollen. Der sollte fortan Herr sein auf Grenwitz? Wahrhaftig, da wäre es ihr noch lieber gewesen, wenn es sich herausgestellt hätte, daß Oswald Stein Haralds rechtmäßiger Sohn war.

Mechanisch erbrach sie den zweiten Brief. Er war von Albert Timm und lautete:

Gnädige Frau! Nach unserer letzten Begegnung werden Sie es selbstverständlich finden, daß ich die Waffen, die ich bis dahin für Sie gebraucht hatte, gegen Sie wandte. Herr Stein ist von allem unterrichtet. Ehe ein Jahr vergeht, ist er – verlassen Sie sich darauf! – Herr von Stantow und Bärwalde, und Sie werden überdies die Zinsen von vierundzwanzig Jahren zu zahlen haben, d. h. Sie werden ruiniert sein. Ich könnte mir nun schadenfroh die Hände reiben; aber Albert Timm ist eine gutmütige Seele und will Ihnen zum Dank für Ihren Undank einen guten Rat geben. Machen Sie Frieden mit Herrn Stein, bevor es zu spät ist! Besser ein magerer Vergleich als ein fetter Prozeß, den man noch dazu verliert. Ich schicke Ihnen den Gegner noch heute zu, empfangen Sie ihn freundlich, und wenn Sie ganz klug sein wollen, geben Sie ihm Ihre Tochter, die er bis zur Raserei liebt. Mit der fürstlichen Heirat ist es sowieso nichts, sintemalen der Fürst nicht eines Grafen, sondern eines Seiltänzers Sohn ist, und die Sache so steht, daß die Welt nächstens mit einem großartigen Skandal erfreut werden dürfte. Doch widerstehe ich dem Wunsch, Ihnen über diese interessante Sache nähere Aufklärungen zu geben, die Sie wahrscheinlich ebenso unbeachtet lassen würden als gewisse andere Enthüllungen. Vielleicht, daß Sie nach der Unterredung mit Herrn Stein anderen Sinnes werden und sich vor allem auch überzeugen von der aufrichtigen Freundschaft, mit der ich verbleibe der gnädigen Baronin untertänigster Diener.

Zu jeder anderen Zeit würde die Baronin in diesem Brief nur einen Versuch von seiten des Herrn Timm, die verlorengegangene Position wiederzugewinnen, gesehen haben; aber heute morgen war ihr Gemüt so verdüstert, daß ihr alles und so auch dieser Brief in einem anderen Lichte erschien. Was war denn am Ende in dieser Welt des Lugs und Trugs nicht möglich? Daß dieser Timm mehr wußte als andere Leute, lag auf der Hand, und jedenfalls war doch die Konsequenz merkwürdig, mit der er die Wahrheit seiner Behauptung aufrechterhielt; ja, hatte nicht Felix noch durch seine letzten Briefe bewiesen, daß er an dem Faktum selbst in keiner Weise zweifle?

Die sonst so energische Frau fühlte sich ganz erdrückt unter der Wucht all dieser Sorgen. Und nun kam Helene, nach der sie geschickt hatte, gar nicht wieder und in einer Stunde ging der Zug, den sie benutzen mußte, wenn sie noch morgen früh in Sundin sein wollte! Und noch waren die Sachen nicht gepackt, noch nicht entschieden, ob Helene bleiben oder mitkommen wollte, noch nicht von der Fürstin und dem Fürsten Abschied genommen! Doch das letztere konnte ja auch in Helenens Abwesenheit geschehen. Der Drang des Augenblicks entband von den strengen Vorschriften der Etikette, und hatte sie doch die Fürstin gestern abend gebeten, zu jeder Zeit unangemeldet zu ihr zu kommen!

So verließ denn Anna-Maria ihr Gemach und schritt eilig über die Korridore und durch die Vorzimmer, als plötzlich die Tür, die zu dem Kabinett der Fürstin führte, aufgerissen wurde, der Fürst, offenbar in der fürchterlichsten Aufregung, herausstürzte und, ohne ein Wort mit ihr zu sprechen, weitereilte. »Das ist doch seltsam«, sagte die Baronin. Da wurde die Tür wieder aufgerissen, Nadeska kam eilends mit verstörtem Gesicht heraus.

»Wo ist die Fürstin?« fragte die Baronin.

»Drinnen. Sie ist krank; es kommt niemand auf mein Klingeln. Ich wollte eben die Leute holen.«

»Tun Sie das«, sagte die Baronin, »ich will unterdessen bei Ihrer Durchlaucht bleiben.«

Nadeska schien dies Arrangement keineswegs zu gefallen, aber sie fand keinen Vorwand, der Baronin den Zutritt zu verweigern. Sie eilte fort, während Anna-Maria in die rosenrote Dämmerung von der Fürstin Gemach trat. Die Fürstin lag in ihrem Lehnstuhl am Kamin. Die halbgeschlossenen Augen und die krampfhaft zuckenden Finger zeigten, daß der umnachtete Geist noch immer vergebens nach Bewußtsein rang.

»Schaff mir meinen Sohn zurück, Nadeska«, murmelte sie, »er soll nicht mit ihm ringen: der Vater ist stärker als der Sohn. Siehst du, siehst du, wie er ihn um den Leib packt und in die Höhe hebt, jetzt wird er ihn zu Boden schleudern, hier gerade zu meinen Füßen, da, da –«

Die Unglückliche verfiel in Weinkrämpfe, in die sich gräßliches Lachen mischte. Zwischendurch phantasierte sie:

»Laßt es nur den Grafen nicht wissen; der Graf sagt's der Baronin, die Baronin sagt's der schönen Tochter, und hernach will die schöne Tochter den Seiltänzersohn nicht. Da kommt er schon mit dem zerschmetterten Kopfe –«

Ein fürchterlicher Schrei brach aus der Brust der Gemarterten. Sie fuhr in die Höhe und starrte die Baronin mit verstörten Blicken an. Gleich darauf sank sie aufs neue bewußtlos in den Stuhl zurück. Nadeska kam mit ein paar russischen Mägden. Der Kammerfrau schien sehr viel daran gelegen, die Baronin zu entfernen.

»Die Fürstin hat oft die Anfälle«, sagte sie in ihrer glatten, demütigen Weise, während die Dienerinnen die Ohnmächtige aufhoben und in ihr Schlafgemach trugen. »Sie muß dann ganz allein sein; die Nähe jeder fremden Person verschlimmert ihren Zustand.«

»Ich werde nicht stören, meine Liebe«, sagte die Baronin kalt, »um so weniger, als ich noch in dieser Stunde abreisen muß. Ich werde mich schriftlich bei Ihrer Durchlaucht entschuldigen.«

Die Baronin begab sich in einer unbeschreiblichen Aufregung in ihre Gemächer zurück. Was hatte sie gesehen! Was gehört! Der Anblick des halb wahnsinnigen Fürsten, das verdächtige Benehmen der Kammerfrau, die offenbar in diesem Familiendrama hinter den Kulissen nur zu gut Bescheid wußte – was sollte sie denken? Was sagen? Was tun? Es war das erste Mal in ihrem Leben, daß die kluge und energische Frau vollständig ratlos war. Aber sank nicht der Boden unter ihren Füßen, brach nicht wie morsches Rohr zusammen, was sie für stolze unzerstörbare Pfeiler ihres Glücks gehalten? Der Fürst ein Bastard! Ein jahrelang mühsam verborgen gehaltenes Familiengeheimnis der schimpflichsten Entdeckung nahe! Und in ihrem eigenen Hause, stand es denn da besser? Ihr Sohn, der rechtmäßige Erbe des Vermögens, zum Tode erkrankt – der illegitime Sproß des Vorgängers in der Herrschaft aus der Verschollenheit auftauchend, in der Rechten ein Testament, das ihn zum Herrn des Vermögens machte, das die Baronin seit ihrer Verheiratung als das ihrige angesehen hatte! Wo ein Ausweg aus diesem Labyrinth? Und was würde Helene zu dem allem sagen? Wie würde ihr Stolz sich winden, wenn sie erfuhr, daß der Diamantenschmuck des fürstlichen Ranges nichts war als schnödes schlechtes Glas, mit dem zu schmücken, eine Kurtisane sich wohl bedacht hätte?

Ein Wagen rollte schnell in den Hof des Palais. Helene kam zurück. Der Baronin schlug das Herz, als ob jetzt erst die Entscheidung eintrete. Ein paar bange Augenblicke, und die schöne Tochter eilte, bleich und verstört, in das Zimmer und warf sich der Mutter mit einer Leidenschaftlichkeit in die Arme, die gegen ihre sonstige gemessene, fast kalte Haltung seltsam abstach.

»Gott sei Dank, daß du kommst!« sagte Anna-Maria. »Ich muß fort; ich wollte dich fragen, ob du mich begleiten willst?«

»Kannst du das fragen?« rief Helene. »Ich hierbleiben und ohne dich? Hier, wo mich die Mauern erdrücken!«

»So bist du nicht gern hier, Helene?«

»Nein, nein! Ich liebe den Fürsten nicht; ich habe ihn nie geliebt!«

Und Helene verbarg ihr Gesicht an dem Busen der Mutter.

Die Baronin war aufs höchste überrascht. Was Helene da sagte und noch mehr der Ton, in dem sie es sagte, dazu ihr seltsam von Leidenschaft durchglühtes Wesen gaben ihr einen nie geahnten Einblick in das Herz des jungen Mädchens. Sie hatte ein dunkles Gefühl davon, daß ihr große weite Regionen des Lebens bisher gänzlich verborgen geblieben waren und daß sie, trotz all der Klugheit, auf die sie sich so viel zugute tat, bisher im dunkeln getappt hatte.

»Warum hast du ihm denn dein Wort gegeben?« fragte sie.

»Ich weiß es nicht; ich war – ich wußte nicht, was ich tat. Aber jetzt weiß ich es; ich kann den Fürsten nicht heiraten; ich muß mein Wort zurück haben; wenn du darauf bestehst, daß ich es halte, so muß ich sterben.«

»Und wenn ich nun nicht darauf bestehe?«

Helene sah die Baronin mit starren, verwunderten Augen an.

»Höre mich an, mein Kind. Ich habe heute morgen Entdeckungen gemacht, die mich, milde gesprochen, äußerst beunruhigt und mir die Überzeugung eingeflößt haben, daß wir in der ganzen Angelegenheit mit einem Mangel an Vorsicht zu Werke gegangen sind, der sich möglicherweise sehr schwer hätte rächen können.«

»Ich verstehe dich nicht, Mutter«, sagte Helene.

»Ach, es ist auch kaum zu begreifen«, klagte Anna-Maria, »ich weiß gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Ich bin eine unglückliche Frau!« Und die Baronin warf sich wie gebrochen in einen Stuhl und fing an, bitterlich zu weinen. Helene hatte die Mutter noch nie weinen sehen. Der ungewohnte Anblick rührte sie tief. Sie kniete neben ihr nieder und suchte sie mit schmeichelnden, freundlichen Worten zu trösten. Aber es war vergeblich.

»Es ist nicht nur dies, obschon es schon schlimm genug ist«, schluchzte Anna-Maria, »auch wir sind mit einer ähnlichen Schmach bedroht!« – Und in dem Drang des Momentes, getrieben von dem Verlangen, sich, koste es was es wolle, an einen andern anzuschließen, erzählte sie in fliegenden Worten von den Ansprüchen, die Oswald möglicherweise auf ihr Vermögen habe, und daß, wenn die Ansprüche gerichtlich anerkannt würden, sie, die Mutter und die Tochter, Bettlerinnen seien.

Helene hatte dieser Erzählung in atemloser Spannung zugehört. Ihre Farbe wechselte in jedem Augenblick, ihre Augen waren fest auf die Mutter gerichtet; ihre Hände hielten die Hände der Mutter krampfhaft umfaßt.

»Bettlerinnen, sagst du? Besser das, und ein reines Gewissen haben, als in der Fülle dieses Glanzes vor Angst vergehen! Komm, Mutter, ich fürchte mich nicht vor der Armut! Du hast mir oft gesagt, daß du arm gewesen bist, ehe du den Vater heiratetest. Warum soll ich etwas vor dir voraushaben? Ich sehe nicht, daß dich der Reichtum glücklich gemacht hat, auch den Vater nicht; er hat es mir in seinen letzten Augenblicken gestanden. Ich habe es noch eben mit meinen eigenen Augen gesehen, wie viel glücklicher als wir die Menschen sind, die nichts haben als ihre Liebe; auf nichts vertrauen als auf ihre eigene Kraft. Ich habe Kraft; ich kann und will für dich arbeiten, wenn es nötig sein sollte. Aber jetzt laß uns fort von hier. Du bist krank und angegriffen, deine Hände sind eiskalt und deine Stirn brennt – bleib hier sitzen. Ich will deine Sachen packen. Du brauchst dich um nichts zu bekümmern, ich bin in fünf Minuten fertig.«

»Nein«, sagte die Baronin, »laß das mich mit Hilfe unserer Marie besorgen. Du kannst ein anderes Geschäft übernehmen. Wir können nicht fort, ohne wenigstens schriftlich von der Fürstin Abschied zu nehmen, da ihr Unwohlsein und unsere Eile nichts anderes zuläßt. Schreib ihr in wenigen Worten: freundlich und höflich, nicht mehr und nicht weniger als das unumgänglich Notwendige.«

»Ich will es tun«, sagte Helene, indem sie sich an das Bureau setzte, während die Mutter sich in die Schlafgemächer begab.

Helene hatte kaum die Feder in der Hand, als ein Geräusch hinter ihr sie von dem Papier aufblicken machte. Mitten im Zimmer stand Oswald, bleich wie der Tod, die großen, im Fieber leuchtenden Augen auf sie gerichtet. Helene war so erschrocken, daß ihr die Stimme versagte und daß sie keine Bewegung zu machen imstande war. Sie glaubte im ersten Moment, eine Erscheinung zu sehen.

»Ich bin es wirklich«, sagte Oswald, »verzeihen Sie mein plötzliches Erscheinen. Ich fragte nach der Baronin; man hat mich hierher gewiesen.«

»Ich will die Mutter rufen«, sagte Helene tief aufatmend, indem sie sich erhob.

»Bleiben Sie«, sagte Oswald, »ich bitte Sie darum; ich habe nur zwei Worte zu sagen; ich sage sie Ihnen lieber und leichter als der Baronin.«

In Oswalds Erscheinen und Wesen lag etwas so Feierliches, daß Helene nicht den Mut fand, seine Bitte abzuschlagen.

»Wollen Sie sich nicht setzen«, sagte sie tonlos, indem sie sich wieder in ihren Stuhl sinken ließ und auf einen anderen in ihrer Nähe deutete.

Oswald regte sich nicht.

»Ich weiß nicht, gnädiges Fräulein«, sagte er, »ob Ihnen Ihre Frau Mutter von gewissen Intrigen erzählt hat, mit denen sie seit einiger Zeit belästigt wird und deren Seele Herr Timm ist?«

»Ich habe heute morgen das erste Wort davon gehört.«

»Ebenso wie ich. Und das ist es gerade, was mich hierher getrieben hat. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, ja ich könnte nicht ruhig sterben, wenn ich denken müßte, daß Sie, Fräulein von Grenwitz, glauben könnten, ich hätte mich je so unwürdiger Mittel und eines so niedrigen Werkzeugs gegen Sie bedienen können. Wollen Sie das auch Ihrer Frau Mutter sagen?«

»Ich will es.«

»Und sagen Sie ihr auch, und glauben vor allem Sie selbst es mir, daß ich nichts so schmerzlich beklage, als daß man Sie je mit dieser Sache behelligt hat.«

»So ist es doch nur eine Erfindung des Herrn Timm?«

»Nein, nein, mein Fräulein«, erwiderte Oswald mit traurigem Lächeln, »eine Erfindung jenes Menschen ist es nicht. Ich fürchte nur zu sehr, daß es die lautere Wahrheit ist, und das ist der zweite Grund, weshalb Sie mich hier sehen.«

»Sie glauben doch nicht, daß wir uns jemals sträuben würden, gerechte Ansprüche anzuerkennen?«

»Sie werden gar nicht in diesen Fall kommen; ich fühle keinen Wunsch in mir, diese Ansprüche zu erheben. Ich wurde das nie und unter keinen Umständen getan haben, und jetzt am allerwenigsten.«

Er warf einen Blick im Zimmer umher. Die Pracht der Ausstattung erinnerte ihn schmerzlich daran, wo er war.

»Jetzt am allerwenigsten«, wiederholte er, »hier sind die Papiere, die in dieser unglücklichsten aller Geschichten beweisend sind. Ich wünsche, daß Ihre Frau Mutter sie in Gewahrsam nimmt, um auf alle Fälle gegen die Machinationen jenes Menschen gesichert zu sein.«

Er legte das Paket Papiere, die ihm Timm vor einigen Stunden überbracht hatte, vor Helene auf das Bureau und verbeugte sich zum Abschied.

»Einen Augenblick noch«, sagte Helene, indem sie sich ebenfalls erhob, »glauben Sie, daß meine Mutter, daß ich ein solches Geschenk annehmen werde? Was hat Ihnen das Recht gegeben, so klein von uns zu denken?«

»Ich glaube, mein gnädiges Fräulein, daß Ihr Stolz diesmal irrt. Es handelt sich selbstverständlich nur um mich, der ich den sehr verzeihlichen Wunsch habe, mich von einem häßlichen Verdachte zu reinigen. Es war unnötige mich daran zu erinnern, daß es der Mutter des Majoratsherrn von Grenwitz, daß es der Braut des Fürsten von Waldernberg ziemlich gleichgültig sein kann, ob sie ein paar hunderttausend Taler mehr oder weniger im Vermögen haben.«

»Die Verhältnisse haben keinen Einfluß auf unsere Pflichten«, erwiderte das junge Mädchen, sich aufrichtend und die schöne Lippe verächtlich krümmend, »und glauben Sie nur nicht, daß es der Stolz des Reichtums und des hohen Ranges ist, der mich so gleichgültig gegen Ihr Anerbieten macht. Diesen Augenblick sind wir im Begriff, nach Sundin abzureisen, wo mein Bruder auf den Tod erkrankt ist, und dort auf dem Pult liegt der Anfang eines Briefes, worin ich der Fürstin zu schreiben gedachte, daß ich nun und nimmermehr die Gattin ihres Sohnes werden könne.«

Die dunklen Augen Helenens leuchteten, das heiße Blut färbte die lieblichen Wangen tiefer, sie war Oswald so schön, so einzig schön nie erschienen. Und das in diesem Moment, wo er bereits im Herzen Abschied genommen von einem Leben, das keinen Reiz mehr für ihn hatte! Gerade jetzt mußte ihm das Ideal seiner glänzendsten Träume, nicht in unerreichbarer Ferne – nein, in unmittelbarer Nähe erscheinen, dem kühnen Wunsch, dem festen Willen vielleicht erreichbar! Weshalb sagte sie ihm, daß sie den Fürsten nicht heiraten werde, und sagte es in diesem herausfordernden Ton, wenn sie ihn – den Schwankenden, Treulosen, Wankelmütigen – nicht demütigen wollte durch die Kraft des Entschlusses, mit dem sie der Herrlichkeit entsagte, nur um sich selbst treu zu bleiben?

Diese Gedanken jagten in wilder Flucht durch Oswalds Gehirn, das, überreizt durch Schlaflosigkeit und Fieberträume, mit einer wunderbaren Schnelligkeit arbeitete und die Resultate kompliziertester Gedankenreihen in schwindelndem Fluge erfaßte. Er wußte, daß sie ihm dies nimmermehr gesagt haben würde, wenn sie ihn nicht zu irgendeiner Zeit geliebt hätte, vielleicht noch liebte, und dabei wußte er auch mit unumstößlicher Gewißheit, daß er und sie durch alles, was geschehen war, auf immer unwiederbringlich voneinander geschieden seien. Es war deshalb keine Bitterkeit, sondern nur tiefste Trauer in dem Ton, in dem er jetzt, die Augen unverwandt auf das schöne Antlitz des Mädchens gerichtet, sagte:

»Lassen Sie uns einander nicht mit heftigen, lieblosen Worten betrüben. Wer weiß, ob wir im Leben noch viele Worte miteinander zu wechseln haben werden! Mir ist zumute wie einem Sterbenden, und was ich spreche, spreche ich nicht für mich, der ich keine Wünsche mehr hege, sondern aus innerstem Drang nach der Wahrheit, von deren heiligem Antlitz ich mich nur zu oft im Leben abgewandt habe. Helene, ich habe Sie geliebt von dem Augenblick, als ich Sie zum ersten Male an jenem unvergeßlichen Sommerabend im Park von Grenwitz sah; und ich weiß es auch: wenn ich mir selber treu geblieben wäre, Sie würden mich wiedergeliebt haben, Sie würden einst die Meine geworden sein. Aber, weil ich mich selbst verlassen, haben auch Sie sich von mir gewandt, und jetzt liegt zwischen uns eine Kluft, die niemals ausgefüllt werden kann. Und was uns einander auf immer nahe zu bringen schien – die Entdeckung, die ich heute morgen machte – hat uns erst recht auf ewig getrennt. Ich fühle es wohl: Sie werden nun und nimmermehr ein Geschenk, wie Sie es nennen, von mir annehmen wollen; und ich wollte eher meine Hand auf glühende Kohlen legen, als sie nach dem Erbe des Mannes ausstrecken, der meine Mutter zur unglücklichsten aller Frauen gemacht hat. Dazwischen gibt es keinen Vergleich, wäre auch alles andere, wie es sein sollte. Und nun, Helene, ehe wir – wohl auf immer – scheiden, habe ich eine Bitte: Reichen Sie mir über die Kluft weg, die uns trennt, die Hand, zum Beweis, daß Sie mir verziehen haben.«

Helene legte ihre Hand in die ausgestreckte Hand Oswalds.

So standen sie und sahen sich einander tief in die Augen, und wie sie so schauten, sahen sie alle die goldigen Sommermorgenstunden, die sie im Park von Grenwitz unter säuselnden Bäumen verlebt, und alle die purpurnen Abende, an denen sie durch den grünen Buchenwald bis zum Meeresstrande wanderten – und dann sahen sie nichts mehr, denn ein grauer Tränenschleier hatte sich über die lieblichen Bilder gedeckt.

»Leb wohl, Helene!«

»Leb wohl, Oswald!«

»Für immer!«

»Für immer!«

Oswald preßte die Geliebte nicht in die Arme. Eine heilige Scheu hielt ihn gefesselt. Er ahnte es: Die Zeit der Sühne, die ihm noch blieb, war kurz, und, einen neuen Schwur zu besiegeln, den zu halten er keine Kraft in sich fühlte, war kein Entgelt für so viele gebrochene Schwüre.

Er ließ die Hand, die er noch immer in der seinigen hielt, los und – im nächsten Augenblick war Helene allein.

Sie stand noch, die Augen starr auf die Tür gerichtet, durch die Oswald verschwunden war, als die Baronin wieder in das Zimmer trat.

»Es ist die höchste Zeit, Helene«, sagte sie, »der Wagen hält unten. Bist du bereit?«

»Ja.«

»Was sind das für Papiere dort auf dem Tische?«

»Hat er sie nicht wieder mitgenommen?«

»Wer?«

»Oswald.«

»War er hier? Was wollte er?«

»Nimm die Papiere zu dir, Mutter. Er brachte sie dir.«

»Helene, du bist bleich und hast geweint; was bedeutet dies? Liebst du diesen Mann? Soll ich auch mein letztes Kind verlieren?«

»Sei ruhig, Mutter; ich werde dich im Unglück nicht verlassen. Doch da liegt ja noch der Brief an die Fürstin. Einen Augenblick, Mutter!« Sie setzte sich an das Bureau und schrieb mit fliegender Feder einige Zeilen.

»So, jetzt ist auch das geschehen. und ich bin wieder frei! Komm, Mutter, ich will dir zeigen, daß ich noch Kraft und Mut genug zum Leben habe. Komm!«

Und sie zog die Baronin, die sich willig der höheren Energie ihrer Tochter fügte, mit sich fort aus dem Gemach.

Eine Minute darauf hatten die beiden Damen das Palais Waldernberg und eine halbe Stunde darauf Berlin verlassen.


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