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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Mit Felix war in dieser Zeit eine traurige Veränderung vorgegangen. Wie an einem Hause, dessen Holz der Schwamm zerfressen hat, nur ein Strebepfeiler weggenommen zu werden braucht, um es der Gefahr des Einsturzes nahe zu bringen, so hatte die schwere Verwundung, die er in dem Duell mit Oswald davongetragen, seinen ganzen, durch ein überaus wüstes Leben zerrütteten Organismus vollends erschüttert. Die Kugel hatte keine edleren Teile verletzt, an der sorgfältigsten ärztlichen Behandlung hatte es nicht gefehlt, dennoch wollten die Wunden nicht heilen. Und als es damit anfing, besser zu werden, hatten sich plötzlich höchst bedenkliche Symptome einer schon weit vorgeschrittenen Lungenkrankheit gezeigt. Die herbeigerufenen Ärzte schüttelten den Kopf und sprachen von der Notwendigkeit einer Luftveränderung, eines längeren Aufenthaltes in südlicheren Klimaten.

Aber Felix wollte von allem, was andere doch so deutlich sahen, nichts sehen. Die lumpigen Schrammen? Pah! Ich bin schon anders gezeichnet gewesen! Das bißchen Fieber? Lächerlich! Mir ist nach einer tollen Nacht schon schlimmer zumute gewesen! Meine Lunge? Dummes Zeug; was versteht die alte Perücke, der Balthasar, von meiner Lunge; ich pfeife was auf alle gelehrten Perücken. Felix von Grenwitz ist so leicht nicht totzumachen.

Seit einigen Tagen aber stand es mit seiner Gesundheit so schlecht, daß selbst sein Leichtsinn sich gegen die Möglichkeit einer ernsteren Gefahr nicht länger verschließen konnte. Die kaum geheilten Wunden brachen wieder auf; ein schleichendes Fieber nagte Tag und Nacht an seinen Nerven, und wenn er kaum eingeschlafen war, weckte ihn ein quälender Husten aus so schrecklichen Träumen, daß Schlaflosigkeit im Vergleich noch eine Wohltat schien. Zu der Sorge, die ihm seine Krankheit machte, kamen andere, die er sonst sehr leicht genommen hatte, die aber jetzt sein ohnedies angegriffenes Gehirn noch mehr verwirrten und seine hypochondrische Stimmung verdüsterten. In seine Krankenstube drängten sich einzelne Leute, die sich durchaus durch die Bedienten nicht hatten abweisen lassen – Leute mit höchst bedenklichen Physiognomien und auffallend schmutziger Wäsche, die, wenn sie denn endlich vorgelassen waren, eine große Brieftasche öffneten und dem Herrn Baron ein »kleines Wechselchen« präsentierten, zweitausend, dreitausend Taler – »eine wahre Kleinigkeit für den Herrn Baron«.

Vielleicht wäre es Felix leicht gewesen, diese ominösen Papiere einzulösen, wenn er jetzt war, was er zu sein hoffte, als er sie aus der Hand gab, nämlich: der erklärte Bräutigam Helenens, der Schwiegersohn eines der reichsten Grundbesitzer der Provinz. Aber leider war er das doch nun nicht, hatte auch keine Aussicht es zu werden – und konnte sich infolgedessen auch nicht weiter wundern, wenn die Baronin in den Privataudienzen, die er jedesmal nachsuchte, sooft eine jener verdächtigen Gestalten die Schwelle seines Zimmers überschritten hatte, sich bedeutend weniger geschmeidig zeigte als vor einigen Wochen, wo die Sonne seiner unüberwindlichen Liebenswürdigkeit noch im Zenit stand. Felix wußte recht gut, daß seine Tante sich zu einer Freigebigkeit, die ihrer Natur so gründlich widersprach, nur darum verstand, weil sie in ihm den Mitwisser des großen Familiengeheimnisses erblickte. Aber auch dieses einzige, unersetzliche Band hielt nur noch an dem letzten Faden.

Es unterlag nämlich keinem Zweifel, daß nur die Furcht vor der »bornierten Ehrlichkeit des Barons«, wie die Baronin sagte, sie abhielt, es in dem mit Albert Timm entbrannten Kampfe aufs Äußerste ankommen zu lassen, und Felix war keineswegs ganz sicher, ob selbst diese Furcht sie bewegen könnte, den zwischen ihm und Albert geschlossenen Kontrakt zu sanktionieren. Er hatte deshalb bis zu diesem Augenblick noch nicht gewagt, ihr die Höhe der Summe anzugeben, für die er Alberts Verschwiegenheit erkauft hatte.

Felix' Zaghaftigkeit in dieser ganzen Angelegenheit hatte einen triftigen Grund in seiner eigenen mißlichen Lage. Er mußte die Tante in möglichst guter Stimmung erhalten, um ihr die Summen abzulocken, die er für seine persönlichen Bedürfnisse brauchte. Es war ja später noch immer Zeit, ihr in betreff Timms reinen Wein einzuschenken. Wie grimmig auch Felix Oswald haßte und wie entsetzlich es ihm auch gewesen wäre, wenn es dem Verhaßten mit Alberts Hilfe gelang, sich in den Besitz des Vermögens zu setzen und am Ende doch Helene zu gewinnen – so mußte das alles dem Augenblick und seinen gebieterischen Forderungen untergeordnet werden.

So standen die Sachen, als am Morgen nach der Soiree, an der Felix natürlich nicht teilnehmen konnte, die Baronin, nachdem sie sich vorher hatte anmelden lassen, dem Patienten einen Besuch abstattete. Felix saß in einen weiten Schlafrock gehüllt, fröstelnd dicht an dem heißen Ofen. Die großen, einst so übermütigen, jetzt so gläsern starren Augen und die krankhafte, scharf abgeschnittene Röte auf seinen magern Wangen zeugten von den reißenden Fortschritten, die die Krankheit in den letzten Tagen gemacht hatte. Er erhob sich, einigermaßen verwundert über diesen Besuch außer der gewöhnlichen Zeit, halb aus seinem Stuhl und streckte der Tante seine abgemagerte, fieberheiße Hand entgegen:

»Bon jour, ma tante! Soll ich sagen, so früh oder so spät noch auf? Denn Ihr habt ja beinahe bis an den hellen Morgen getanzt. Ich habe den Baß bis hier in mein stilles Zimmer hinein hören können: brum! brum! bis ich fast verrückt über dem Gebrumm wurde; und wenn Sie mir das Fluchen nicht abgewöhnt hätten, ma tante, ich hätte, hol' mich der Teufel, den verdammten Kerl, der das Gebrumm fabrizierte, bis in den tiefsten Pfuhl der Hölle verwünschen können.«

»Ich hoffe, daß es mit Ihrer Gesundheit heute nicht schlechter geht als mit Ihrem Fluchen«, sagte Anna-Maria lächelnd, indem sie vor dem Kranken in einem Lehnsessel Platz nahm und eine Handarbeit in Ordnung brachte, ein Beweis, daß sie es auf einen längeren Besuch abgesehen hatte, »aber im Ernst, lieber Felix, ich habe Sie aufrichtig bedauert, und komme, Sie wegen der nächtlichen Störung um Entschuldigung zu bitten.«

»Sie sind ja heute außerordentlich gnädig, liebe Tante.«

»Ich dächte, das wäre ich immer«, erwiderte Anna-Maria, »nur daß es Leute gibt, die sich durchaus nicht davon überzeugen können.«

»Ich gehöre nicht zu diesen, liebe Tante.«

»Ich weiß es, Felix, und Sie werden mir das Zeugnis geben, daß ich stets für Sie getan habe, was in meinen Kräften stand.«

»Jawohl, jawohl«, murmelte Felix und überlegte, ob der Augenblick wohl geeignet sei, gegen seine Tante ein kleines Geschäft zu erwähnen, in das er sich vor nun beinahe drei Monaten eingelassen hatte und das in wenigen Tagen reguliert werden mußte.

»Die Gesellschaft – die übrigens pünktlich zwei Uhr fünfzehn Minuten aufgebrochen ist, lieber Felix – war gestern abend recht animiert«, fuhr die Baronin fort, »und es hat mir von Herzen leid getan, daß Sie nicht daran teilnehmen konnten. Es wäre wirklich Zeit, daß Sie sieh endlich einmal wieder gesund meldeten.«

»Das weiß Gott«, seufzte der Patient, sich ungeduldig in seinem Lehnstuhl herumwerfend, »man wird hier in dieser verdammten Spelunke noch ganz zum Hypochonder. Aber erzählen Sie ein wenig von gestern. Wer war denn alles da?«

»Oh, nicht eben viele; ich liebe, wie Sie wissen, die großen Feten nicht: Griebens, Nadelitzens, Barnewitzens, Clotens –«

»Die Zusammensetzung ist nicht schlecht«, meinte Felix, »haben sich denn Hortense und Emilie nicht die Augen ausgekratzt?«

»Nicht doch! Sie sind die besten Freundinnen von der Welt, und überdies hatten sie gestern um so weniger Ursache, sich gegenseitig den Vorrang streitig zu machen, als darüber, nach dem allgemeinen Urteil der Gesellschaft wenigstens, schon anderweitig entschieden war.«

»Oh, in der Tat! Und wer war denn der Vogel Phönix?«

»Ihre Cousine, lieber Felix«, sagte die Baronin, die Stiche auf ihrer Arbeit zählend, »sie sah in der Tat ausnehmend schön aus, so daß selbst ich davon überrascht war, ebenso wie von der Bewunderung, die ihr von allen Seiten gezollt wurde.«

Felix horchte hoch auf. Das Lob Helenens aus der Mutter Munde war eine so neue Melodie, daß er seinen Ohren nicht traute.

»Es scheint, als ob die letzten Wochen doch einen recht guten Einfluß auf sie ausgeübt haben«, fuhr die Baronin fort, »Sie hat ein gut Teil von ihrer hochmütigen Arroganz verloren; die Gräfin Grieben machte mir gestern ein Kompliment über ihre sittsame, echt weibliche Haltung.«

»Sie verzeihen, liebe Tante«, sagte Felix mit großer Bitterkeit, »daß ich mich über diese günstige Metamorphose nicht ebenso freue. Ich wollte, sie wäre einige Wochen früher eingetreten. Vielleicht läge ich dann nicht hier, hilflos wie ein Pferd, dem die Flechsen durchgeschnitten sind«, und er schlug heftig mit der gesunden Hand auf die Lehne des Stuhls.

»Ich gestehe, daß Sie einigen Grund haben, sich über Helene zu beklagen«, sagte die Baronin, »indessen, Haß und Rache sind sehr unchristliche Empfindungen, zumal unter Verwandten, die von Natur darauf angewiesen sind, sich gegenseitig zu lieben –«

»Oh, gewiß«, unterbrach sie Felix, »Sie haben ganz recht, liebe Tante! Auf diese Voraussetzung war ja auch unser ganzer Plan gebaut; nur schade, daß Fräulein Helene nicht viel von der natürlich angewiesenen christlichen Verwandtenliebe wissen wollte.«

»Sie sind bitter, Felix, und wie gesagt, ich räume ein, Sie haben sich zu beklagen. Aber lassen Sie uns jetzt von der Sache sprechen, die mich eigentlich veranlaßt hat, Sie heute morgen so früh zu besuchen. – Ihr Gesundheitszustand, lieber Felix, macht mir so große Sorge, daß ich heute nacht noch einmal ernstlich darüber nachgedacht habe und jetzt zu einem Entschlusse gekommen bin. Sie müssen – und zwar sobald als möglich – die besprochene Reise nach Palermo antreten.«

Felix sollte heute morgen aus einer Verwunderung in die andere fallen. Die von den Ärzten schon seit zwei Wochen dringend angeratene Reise war von Anna-Maria einfach aus dem Grunde beanstandet worden, weil weder Felix »wie sie glaube«, noch sie selbst die dazu nötigen Mittel für den Augenblick disponibel hatten. Auf einmal waren diese Mittel vorhanden! Wer die Konsequenz der Baronin kannte, mußte sich sagen, daß nur etwas ganz Absonderliches sie zu dieser plötzlichen Willensänderung bewogen haben konnte.

Was dieses Etwas aber war, erfuhr Felix in dem weiteren Verlauf dieser wichtigen Unterredung nicht. Es war ihm im Grunde auch gleichgültig. Die letzten qualvollen Tage und Nächte hatten seine Kraft gebrochen; der leichtsinnige Übermut, den er bis dahin prahlerisch zur Schau getragen, war einer finstern Verstimmung gewichen, in der nur der eine Gedanke lebendig war, um jeden Preis wieder gesund zu werden. Zu diesem höchsten Zweck waren ihm alle Mittel recht. Wollte seine Tante ihm zu der Reise, die auch er jetzt für eine Notwendigkeit erkannt hatte, das nötige Geld geben – gut! Und um so besser, je mehr sie gab! Warum sie gab; jetzt gab, nachdem sie vor wenigen Tagen die Aufbringung der Reisekosten für eine positive Unmöglichkeit erklärt hatte – was fragte er danach? Kaum mehr als jemand, der in Gefahr ist zu ertrinken, danach fragt, woher der rettende Balken geschwommen kommt, an den er sich im letzten Moment noch anzuklammern vermag.

Als die Baronin sich nach einer Stunde erhob und ihre Arbeit zusammenpackte, war die italienische Reise eine beschlossene Sache. Schon in den nächsten Tagen, wenn Felix' Zustand sich nicht verschlimmerte, sollte sie angetreten werden. »Sie wissen, lieber Felix«, sagte Anna-Maria, »ich hin dafür, daß etwas, was einmal geschehen soll und muß, bald geschieht. Und hier ist noch dazu offenbar Gefahr im Verzuge. Ich würde mir ewig einen Vorwurf daraus machen, hätte ich nicht, was in meinen schwachen Kräften steht, getan, diese drohende Gefahr von Ihnen abzuwenden.«

Felix führte die ihm gnädig dargereichte knöcherne Hand der Tante an seine Lippen, und Anna-Maria verließ das Zimmer.

»Der alte Drache!« murmelte Felix, indem er erschöpft in seinen Lehnstuhl zurücksank. »Was mag ihr nur in die Krone gefahren sein, daß sie mit einem Male so spendabel wird? Ein wahres Glück, daß ich ihr nicht gesagt habe, wieviel der Schuft, der Timm, fordert. Einmal freilich wird sie's wohl erfahren müssen; aber nicht, bevor ich in Sizilien bin. Uff! Mein Arm! Ich muß eine gründliche Kur gebrauchen, und am Ende ist sich doch jeder selbst der Nächste.«

Der leichtsinnige Patron! dachte Anna-Maria, während sie die langen Korridore entlang nach ihrem Zimmer zurückschritt; es ist hart, daß ich, nachdem ich schon so viel für ihn bezahlt habe, auch noch diese horrible Ausgabe für ihn machen soll. Aber es geht nicht anders. Aus dem Hause muß er, und dies ist die anständigste und am wenigsten auffallende Weise, auf die ich ihn loswerde.


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