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Zwanzigstes Kapitel

In der Pensionsanstalt von Fräulein Bär schrieb Helene an Mary Burton:

»Es ist das erste Mal seit langer, langer Zeit, teuerste Mary, daß ich den Mut in mir fühle, Dir auf Deine Briefe – denn es liegt jetzt ein ganzes Paket da – zu antworten. Aber ich konnte es nicht über das Herz bringen, Dir, die Du jetzt in die große Welt, in die Du gehörst, eingetreten und neulich gar bei Hofe vorgestellt bist – Dir, der Braut und in kurzer Zeit der Gemahlin eines englischen Peers, zu schreiben, daß ich, Helene von Grenwitz, der Du eine so glorreiche Zukunft prophezeitest – vorläufig wieder erst einmal in die Pension zurückgeschickt bin; in Pension geschickt wie ein ungezogenes Kind, in Pension geschickt wie ein Gänschen vom Lande! – Du staunst, Du lächelst ungläubig; Du lispelst ein: ›'t is impossible!‹ und wenn Du nun endlich meinen wiederholten Versicherungen Glauben schenken mußt, so fassest Du mich bei beiden Händen und rufst: ›Aber was heißt dies? Warum dies?‹ und zwingst mich, die traurige Geschichte von Anfang an zu erzählen. Nun, ich sehe keine Möglichkeit, dieser Pein zu entrinnen, aber daß ich sie abkürze, soviel ich vermag, wirst Du begreiflich finden.

Also kurz, wenn auch nicht gut.

Das Verhältnis zu meiner Mutter, über das ich Dir im Anfang so befriedigend schrieb, wurde infolge meiner entschiedenen Weigerung, die Gattin meines Vetters Felix zu werden, von Tag zu Tag schlimmer, bis der offene Bruch, den ich schon lange vorausgesehen, zuletzt unvermeidlich war. Ich habe mich bei der ganzen Affäre benommen, wie ich es mir und Dir schuldig zu sein glaubte. Es war ein heißer Kampf, das kann ich Dich versichern. Meiner Mutter entgegenzutreten, erfordert Mut, und mein Vater unterstützte mich, schwach wie er ist, nur schwach. Nun wohl! Der Kampf ist vorüber – die Toten sind begraben und die Wunden fangen an zu heilen. Ja, Mary, die Toten! Mein Bruno, mein Stolz, mein Ritter ohne Furcht und Tadel, mein vielgeliebter Bruno ist nicht mehr! Er ist gestorben im Kampfe für mich und hat seine junge Heldenseele in einem Kusse auf meine Lippen ausgehaucht. Der wilde Schmerz über seinen Verlust – denn als ich ihn nicht mehr hatte, wußte ich erst, was ich an ihm besessen – machte mich stumpf und gleichgültig gegen alles und gegen alle um mich her. Wie dieser Knabe mich geliebt hat, so kann und wird niemand auf Erden mich wieder lieben. Ich war ihm Sonne und Luft und Licht, ich war ihm Essen und Trinken; ich war ihm Schlafen und Wachen, ich war ihm das Leben. Wie oft, wenn er es mich mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen und zitternden Lippen versicherte, habe ich ihn wegen seiner Überschwenglichkeiten ausgelacht und gesagt: ›Bruno, du bist ein Närrchen!‹ Jetzt gäbe ich viele Jahre meines Lebens darum, könnt' ich es aus seinem stolzen Munde nur noch einmal hören! Eine Ahnung, die ich nicht loswerden kann, sagt mir, daß ich in Bruno, mit Bruno alles, was die Erde von Seligkeit mir gewähren kann, gefunden haben würde, und daß ich mit ihm jede Aussicht auf ein irdisches Glück unwiederbringlich verloren habe. Du lächelst, Du meinst: Ein Knabe! aber ich sage Dir: Du hast Bruno nicht gekannt.

Verlange nicht, daß ich Dir über dies alles ausführlich berichte. Ich kann es nicht! Mein Herz ist zu voll. Die Erinnerung an meinen toten Liebling verläßt mich keinen Augenblick, und ich möchte am liebsten die Feder aus der Hand legen sind mich satt weinen. Sag, Mary, soll es denn wirklich unser Schicksal sein, wie wir so oft in melancholischen Stunden behaupteten, unbefriedigt, ohne Freude, ohne Glück durch das Leben zu gehen, und ohne Hoffnung, daß die Zukunft die Wünsche der Gegenwart erfüllen wird? Soll das Glück nur immer aufleuchten wie eine Fata Morgana – zauberisch schön und ebenso vergänglich; oder uns stets in einer Gestalt erscheinen, die, mag ihr innerer Wert noch so groß sein, doch unseren verwöhnten Sinn, unsere Vorurteile, wenn Du willst, verletzt? Freilich, Dein Los scheint ein anderes werden zu wollen. In der Sphäre, in die Du durch Geburt und Erziehung gehörst, findest Du den Mann, der Deinem Herzen teuer gewesen sein würde, selbst dann, wenn Dein Verstand die Wahl Deines Herzens nicht gebilligt hätte. Ein Held, ein Mann, ein Lord! Glückliche, dreimal Glückliche, die Du jemand gefunden hast, zu dem Du, stolz, wie Du bist, hinaufschauen mußt. Lächle Dein feines aristokratisches Lächeln über – Deine Freundin in der Pension!

Freilich, ich habe es sehr gut in dieser Pension. Man geht mit mir um nicht wie mit einer Schülerin, sondern wie mit einem Gast, und ich bin der Vorsteherin, einem Fräulein Bär, aufrichtig dankbar für die Güte, die zarte Rücksicht, mit der sie mich behandelt, als wüßte sie alles. Vielleicht weiß sie alles. Dergleichen Ereignisse in Familien, wie die unsere, pflegen nicht verschwiegen zu bleiben. Habe ich selbst doch vieles, was im genauesten Zusammenhang mit meiner Verlobungsangelegenheit steht, erst mehrere Wochen später erfahren, nicht durch meinen Vater, mit dem ich während dieser ganzen Zeit korrespondierte, der mich auch ein paarmal von Grenwitz aus besuchte (mit meiner Mutter, die seit einigen Tagen, wie ich höre, in Sundin ist, bin ich außer aller Verbindung), sondern durch eine junge Dame, ein Fräulein Sophie Robran, eine frühere Pensionärin der Anstalt, deren Bekanntschaft ich hier machte und mit der ich eine Art von Freundschaft geschlossen habe. Sie ist die Braut unseres Grenwitzer Arztes, der nach Sundin übergesiedelt ist, und somit sind ihre Nachrichten aus guter Quelle. Sie hat mir erzählt, was erst nach meiner Abreise von Grenwitz stattgefunden und der Vater mir sorgsam verschwiegen hat, daß der junge Mann, von dem ich Dir schon im Sommer schrieb, unser Hauslehrer, der Doktor Stein, mein Ritter und mein Rächer geworden ist, insofern wenigstens, als er sich mit Felix geschlagen und meinem Herrn Vetter eine Lektion erteilt hat, die dieser, wie ich aus derselben Quelle erfahren habe, so leicht nicht wieder vergessen wird. Ich kann Dir nicht sagen, wie wunderlich mich diese Nachricht berührte. Zuerst – Dir darf ich es ja gestehen – verletzte es meinen Stolz, daß mein Name nun mit dem Namen eines Mannes, wie Herr Stein, zusammen durch die Welt getragen werden sollte; daß ein Fremder, ein Mietling, sich in meine Angelegenheiten keck gemischt hatte, als wäre er ein Verwandter und ein Ebenbürtiger. Aber dann dachte ich an das alte Wort, daß, wenn die Menschen schweigen, die Steine reden würden; dachte daran, daß kein Bruder sich brüderlicher, kein Ritter sich ritterlicher gegen mich hätte benehmen können, als es dieser Mann vom ersten Augenblick an getan hat; dachte vor allem daran, daß dieser Mann meines Brunos teuerster Freund war – und ich vergaß meinen Stolz und fühlte nicht ohne einige Verwunderung, daß ich diesem Manne für seine viele Liebe und Güte dankbar sein konnte – ohne daß mich dieser Dank, wie es doch sonst stets bei mir ist, gedrückt hätte. Ja, noch mehr, ich fühlte ein Bedürfnis, ihn, der, wie ich hörte, auf Reisen war, wiederzusehen, ihm persönlich meinen Dank abzustatten; und als ich ihn (der jetzt ebenfalls in Sundin lebt) heute ganz unerwartet an dem Fenster, an dem ich saß, vorübergehen sah, da – Du wirst mich auslachen, Mary, da fühlte ich, daß, als ich seinen Gruß erwiderte, mir alles Blut in die Wangen schoß, und, als er vorüber war, habe ich ihm noch lange nachgesehen, und dann habe ich mich in das Fenster zurückgelehnt und dem Andenken Brunos, das durch Steins Anblick so plötzlich und so mächtig bei mir wachgerufen wurde, heiße Tränen geweint. Ich möchte, ich könnte ihn einmal ungestört sprechen.

Doch hier muß ich abbrechen. Ich höre Fräulein Robran, die mit mir zu musizieren kommt, mit Fräulein Bär im Nebenzimmer.«

Helene erhob sich, den beiden Damen, die auf ihr Entrez! ins Zimmer traten, entgegenzusehen. Sophie Robran eilte Fräulein Bär voraus und umarmte Helenen mit einer liebenswürdigen Lebhaftigkeit, die mit der salonmäßig vornehm ruhigen Haltung der jungen Aristokratin einigermaßen kontrastierte.

»Ich habe eine ordentliche Sehnsucht nach Ihnen gehabt, Helene! Warum haben Sie mich seit neulich Abend nicht besucht, wie Sie versprachen? Fräulein Malchen hat Sie doch nicht gar etwa daran verhindert?«

»Point du tout!« erwiderte Fräulein Bär, die Brille auf die Stirn schiebend, um wohlgefällig ihrem Liebling in die großen, freundlichen blauen Augen zu schauen: »Du weißt, Sophiechen, daß Helene ganz frei über ihre Zeit disponieren kann. – Aber weshalb ich eigentlich komme, liebe Helene! Hier ist ein Brief für Sie, den einer Ihrer Diener überbrachte; ich glaube von Ihrem Herrn Vater.«

Helene nahm den Brief mit einer Verbeugung entgegen, warf einen Blick auf die Adresse und sagte: »In der Tat von meinem Vater!« und legte ihn auf eine Briefmappe, die sie beim Eintritt der Damen zugeklappt hatte.

»Ich will nicht länger stören«, sagte Fräulein Bär, »Sophiechen kommt, Sie zum Musizieren abzuholen. Soll ich Ihnen das Mädchen nachschicken? Und wann?«

»Sie kommen doch mit, Helene?« sagte Sophie, die sich auf einen Stuhl an das Instrument gesetzt hatte und einen Klavierauszug durchblätterte. »Ich habe sehr schöne neue Lieder bekommen. Ein ganz herrliches von Schumann, das müssen wir zusammen durchsehen.«

»Recht gern«, erwiderte Helene, »indessen, ich möchte nicht lange bleiben, da ich heute abend notwendig einen Brief nach England zu beendigen habe, der morgen früh fort muß. Ich danke deshalb für das Mädchen, Fräulein Bär. Ich werde noch vor Dunkelwerden wieder zu Hause sein.«

»Ganz wie Sie wollen, liebe Helene«, sagte Fräulein Malchen, erst Helene flüchtig und dann Sophie Robran herzlich auf die Stirn küssend. »Adieu, mes enfants!« Und Fräulein Bär ließ die Brille wieder auf die Nase gleiten, legte ihre Stirn in die geschäftsmäßigen Falten und rauschte davon.

»Wie geht es Ihrem Herrn Vater?« fragte Helene.

»Danke«, erwiderte Sophie, »es geht ihm viel besser; er ist heute schon wieder ein paar Stunden länger aufgeblieben. Aber, nun lesen Sie auch Ihren Brief, Helene; und dann machen Sie, daß Sie fertig werden.«

»Sogleich«, sagte Helene, den Brief erbrechend; während Sophie weiter in den Noten las. Nach einigen Minuten blickte sie auf und sah Helenen den Brief in der herabhängenden Hand haltend, den Kopf in die andere gestützt, offenbar in tiefes Nachdenken versunken dasitzen. Die langen Wimpern verhüllten die strahlenden Augen, und die dunklen Brauen waren wie in Unwillen zusammengezogen.

»Was ist Ihnen?« rief Sophie, das Notenbuch zuklappend und aufs Klavier legend. »Haben Sie schlimme Nachrichten erhalten?«

»Nicht doch!« erwiderte Helene, die bei dem ersten Ton von Sophiens Stimme sich wieder zusammenraffte und zu lächeln versuchte. »Nicht doch! Mein Vater wird morgen kommen, das ist alles.«

»Um hierzubleiben?«

»Ja.«

»Und – Sie, Helene?«

»Ich dachte eben darüber nach. Mein Vater stellt es mir frei; indessen –«

Das junge Mädchen schwieg, und derselbe halb nachdenkliche, halb trotzige Gesichtsausdruck von vorhin war wieder da. Sie schien die Anwesenheit Sophiens vergessen zu haben. Plötzlich fragte sie, die Blicke noch immer zu Boden senkend: »Würden Sie, wenn Sie beleidigt wären, jemals zuerst die Hand zur Versöhnung bieten?«

Sophie wurde durch diese Frage, deren Sinn ihr nicht verborgen war, einigermaßen in Verlegenheit gesetzt. Helene hatte zu ihr niemals über ihre Angelegenheiten gesprochen, nicht einmal in Andeutungen. Sie wußte also – durfte also von alledem nichts wissen, und doch vertrug es sich schlecht mit Sophiens geradem Sinn und ihrer Freundschaft zu Helene, eine Unwissenheit und Teilnahmlosigkeit zu affektieren, die ihr fremd waren.

»Es kommt darauf an«, antwortete sie nach einer kleinen Pause, »wie die Beleidigung war, und vor allem, wer der Beleidiger war.«

»Wieso?«

»Es gibt Beleidigungen, mein' ich, die es nur dadurch werden, daß wir ihnen diese Bedeutung unterlegen, und Beleidiger, die es niemals werden können – niemals werden sollten – ich meine, die uns so nahestehen, mit denen wir durch die Natur so eng verbunden sind, daß es unnatürlich sein würde, wenn –«

»Sie uns haßten«. unterbrach Helene schnell Sophie. »Wenn nun aber doch dieser Fall einmal einträte; wenn nun aber doch sich haßte, was sich lieben sollte; sich verfolgte, befeindete, bekämpfte, was sich unterstützen, gegenseitig helfen und tragen sollte – wie dann?«

Helene war aufgestanden; ihr Gesicht glühte; ihre Augen funkelten; ihre Hände ballten sich – das Bild eines Wesens, das des Kampfes froh ist und nur den Sieg oder Tod, aber nimmer Ergebung kennt.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Sophie, sich zu einer Ruhe zwingend, die sie nicht besaß, »das weiß ich aber, daß ich für meine Person niemals in die Lage kommen könnte. Ich würde Bruder oder Schwester, und nun gar Vater oder Mutter, die, mir das Leben gaben, niemals hassen, möchte geschehen, was da wollte. Sind sie doch – ich selbst. Wie kann man sich selber hassen?«

»Wissen Sie das wirklich so gewiß?« erwiderte Helene. »Woher wissen Sie es? Sie haben niemals weder Bruder noch Schwester gehabt, Ihre Mutter ist Ihnen so früh gestorben; Ihr Vater hat Sie, wie Sie mir selbst sagten, von jeher mit grenzenloser Liebe überschüttet; alle Welt hat Sie geliebt und geehrt – wie Sie es gewiß verdienen; diese alte strenge Dame selbst sieht in Ihnen, dem jungen Mädchen, das noch vor wenig Jahren ihre Schülerin war, heute schon eine ebenbürtige Freundin – aber ich – ich habe andere – doch wir verplaudern die Zeit und noch dazu über recht sonderbare Dinge. Eilen wir, daß wir an Ihren Flügel kommen.«

Es war nicht das erste Mal. daß Helene einem Gespräch, das vertraulich zu werden drohte, plötzlich eine gleichgültige Wendung gegeben hatte. Sophie mußte sich darein fügen, obgleich ihr dieser Mangel an Vertrauen weh tat, um so mehr, als sie fühlte, wie einsam Helene dastand, wie ganz nur auf sich angewiesen, und welche Wohltat es für sie gewesen sein würde, hätte sie ihr übervolles Herz in das teilnehmende Herz einer wahren Freundin ausschütten können. Sie fühlte sich deshalb auch diesmal nicht durch Helenens stolze Schweigsamkeit beleidigt, im Gegenteil! Sie war mehr als je entschlossen, sich in Helenens Vertrauen lieber hineinzustehlen und hineinzuschmeicheln, als Stolz mit Stolz, und Schweigsamkeit mit Schweigsamkeit zu erwidern.

Die jungen Damen, nachdem sie bei Sophie angelangt waren, hatten fast ohne Unterbrechung musiziert, bis es in dem zu ebener Erde gelegenen tiefen Zimmer zu dunkeln begann. Sie hörten auf, weil sie nicht mehr gut sehen konnten, und gingen nun Arm in Arm im Gemache auf und ab, während die Musik noch in ihren Seelen nachzitterte und selbst Helenens stolzes Herz milder und weicher fühlte. Es war vor allem ein neues, von einem jüngeren Meister komponiertes Lied gewesen, das sie in schmerzlich süßer Weise an ihren toten Liebling erinnert hatte. Noch klangen ihr die traurig klagenden Worte mit der traurig klagenden Melodie im Ohr:

»Und soll ich sterben so frisch und jung,
Ade dann, du goldener Sonnenschein,
Und Mondenschimmer und Sternenlicht,
Und ade, schwarzäugiges Mägdelein.
Ich hab' euch ja so geliebt,
Und soll nun sterben so jung!«

Sie dachte an die Nacht, als Baron Oldenburg sie mitten aus der Reihe der Tanzenden heraus an Brunos Sterbebett holte; sie sah bei ihrem Eintritt das Auge des Knaben dunkel aufflammen in dem totenblassen Gesicht.

»Und soll nun sterben so jung!«

murmelte sie, wie wenn sie mit sich selbst spräche.

»Es scheint dies Lied auf Sie einen ebensogroßen Eindruck zu machen wie auf den Doktor Stein«, sagte Sophie.

»Auf wen?« rief Helene, jäh aus ihrer Träumerei erwachend.

»Auf den Doktor Stein«, wiederholte Sophie so ruhig, als hätte sie sich nie Gedanken gemacht über das Verhältnis, das möglicherweise zwischen Oswald und Helene stattfand.

»Wann haben Sie ihn gesehen?« fragte Helene wieder in ihrer ruhig vornehmen Weise.

»Gestern abend, hier, zum erstenmal. Er war schon zwei Tage in der Stadt, ohne Franz gesprochen zu haben. Gestern traf Franz ihn zufällig auf der Straße und brachte ihn mit. Sonst hätten wir wohl noch länger auf seine Visite warten können.«

»Weshalb das?«

»Nun, er sah gerade nicht so aus, als ob ihm der Besuch besonderes Vergnügen mache. Indessen kann ich darüber weniger urteilen, da ich ihn gestern zum ersten Male in meinem Leben sah. Mir schien es, offen gestanden, als ob ihm überhaupt nichts auf Erden Vergnügen machen könnte. Franz sagt, das sei durchaus nicht der Fall, fand aber selbst, daß Herr Stein sich in der kurzen Zeit, wo sie sich nicht gesehen, merkwürdig verändert habe. Wie war er denn, solange Sie ihn kannten?«

Sophie glaubte zu fühlen, daß Helenens Herz, als sie diese Frage möglichst unbefangen tat, höher schlug. Doch war von dieser Erregung nichts in dem Ton zu merken, mit dem sie antwortete: »Ich habe Herrn Stein selten oder nie anders als in Gesellschaft gesehen, und Sie wissen, da hat man wenig Gelegenheit, die Menschen zu sehen, wie sie wirklich sind. Er schien meistens ernst, fast traurig, sehr reserviert und verschlossen, besonders in den letzten Wochen. Doch mochten dazu auch die in meiner Familie herrschenden Verhältnisse nicht wenig beitragen. Wie war er denn gestern?«

»Es ist das schwer zu beschreiben für jemand, der, wie ich, kein großer Psycholog ist«, antwortete Sophie, entschlossen, auf jeden Fall, auch wenn sie Helene verletzen sollte, die Wahrheit zu sagen. »Er schien mir lustig, ja ausgelassen, aber nicht heiter; gesprächig, aber nicht mitteilsam; witzig, aber nicht unterhaltend; mit einem Wort, eine lebendige Vereinigung von lauter Gegensätzen, die auf mich, die ich das leicht Verständliche, Klare, Einfache liebe, offen gestanden, einen peinlichen Eindruck gemacht hat. Besonders mißfiel es mir, wie er über seinen Beruf und über seine hiesigen Verhältnisse sprach. Er schien alles nur wie ein leeres Spiel zu betrachten. Er schilderte eine Gesellschaft, die er bei Direktor Klemens mitgemacht, und schüttete eine wahre Flut von Hohn und Sarkasmus über die armen Menschen aus. Er beschrieb seine feierliche Einführung in die Schule, die gerade an demselben Morgen stattgefunden hatte, und stellte das Ganze wie eine Szene auf einem Puppentheater dar. Franz hatte mir gesagt, daß er etwas Faustisches in seinem Wesen habe; mir ist er wie ein rechter Mephisto vorgekommen. Auch fand ich ihn nicht so schön, wie Franz ihn mir geschildert hatte. Er sah bleich und verfallen aus, als wäre er krank oder hätte mehrere Nächte nicht geschlafen. Ich mußte wahrlich an das: Es steht ihm an der Stirn geschrieben, daß er nicht mag eine Seele lieben, oder wie es heißt, denken.«

»Da muß er sich allerdings sehr verändert haben«, sagte Helene.

Der Ton, in dem das junge Mädchen diese Worte sprach, war so traurig. Es tat Sophie leid, daß sie sich von der geheimen Antipathie, die sie gegen Oswald empfand, noch mehr vielleicht aber von dem Wunsche, Helene durch lebhaften Widerspruch zu reizen, und sie so gleichsam für ihre Verschlossenheit zu bestrafen, hatte hinreißen lassen.

»Doch soll dies«, sagte sie einlenkend, »nicht etwa mein endgültiges Urteil über Oswald Stein sein; es ist nur eben ein erster Eindruck. Wenn ich ihn öfter sehe, werde ich wohl anders über ihn denken. Ich glaube sogar, daß bei mir ein wenig Eifersucht mit unterläuft. Franz machte so gar viel aus ihm, und Sie wissen, wir Bräute sind in dieser Beziehung ein wenig engherzig. – Da fällt mir übrigens ein, daß er jeden Augenblick kommen kann«, rief sie, sich selbst unterbrechend.

»Wer?« fragte Helene, »Oswald?«

»Ich hatte es wahrhaftig ganz vergessen. Ich gedankenloses Mädchen!«

»Was ist es denn?«

»Stein und Franz hatten sich für heute verabredet. Und Franz ist gleich nach Tisch für meinen Vater aufs Land gefahren. Ich sollte Stein absagen lassen! Ob's wohl noch Zeit ist?«

»Es ist halb sechs«, sagte Helene, ans Fenster tretend, und nach der Uhr sehend. »Es ist beinahe dunkel geworden; ich muß machen, daß ich nach Haus komme.«

In diesem Augenblick wurde an die Tür gepocht.

»Er ist es«, riefen die beiden jungen Damen, zusammenschreckend wie ein paar Rehe, wenn im Walde ein Schuß fällt.

Das Pochen wiederholte sich.

»Was sollen wir tun?« flüsterte Helene, die ihre ganze Selbstbeherrschung verloren zu haben schien.

»Offenbar Herein sagen! Was sonst«, erwiderte Sophie, unwillkürlich lachend. »Herein!«

In dem Halbdunkel, das in dem Gemach herrschte, mochte es dem Eintretenden nicht möglich sein, die darin Befindlichen zu erkennen. Er blieb wie zaudernd an der Tür stehen.

»Nur näher, Herr Doktor«, sagte Sophie, Helenens Hand festhaltend. »Ich bitte um Entschuldigung, daß ich Sie im Dunkeln empfange, aber es soll gleich hell werden.«

Oswald war bei diesen Worten herangetreten und hatte sich vor den Damen verbeugt. Offenbar hatte er Helene, die dem Fenster abgewandt stand, noch nicht erkannt.

»Ich habe um Entschuldigung zu bitten«, sagte er, »denn ich habe die Damen ohne Zweifel gestört. Aber da ich niemand auf dem Vorsaale fand –«

Er schwieg plötzlich; das Blut schoß ihm zum Herzen. Ein Schauder überrieselte ihn. War die stumme Gestalt neben Fräulein Robran nicht Helene? Dieser Kopf, dessen schöne Umrisse er so oft andächtig bewundert hatte – sie mußte es sein. Er hörte kaum noch, daß Sophie sagte: »Sie erkennen wohl Fräulein von Grenwitz gar nicht? Ich will nur selbst gehen, uns Licht zu besorgen«, er hörte nur die Tür sich hinter Fräulein Robran schließen; er wußte nur, daß er mit ihr allein war. Er kniete vor ihr nieder und preßte ihre Hand an die Lippen.

Die Überraschung und die Dunkelheit begünstigten Oswalds Kühnheit. Helene zitterte so heftig, daß sie alles geschehen lassen mußte und nur noch eben die Kraft hatte zu sagen:

»Um Gottes willen, Oswald – stehen Sie auf! Ich bitte Sie, stehen Sie auf!«

Es war die höchste Zeit; denn schon kam Sophie zurück, gefolgt von dem Diener, der eine Lampe trug.

Oswald gelang es, seiner Bewegung Herr zu werden; Helene dagegen wandte sich unter dem Vorwande, daß sie der plötzliche Lichtschein blende, nach dem Fenster und blickte, während Sophie Franz' Abwesenheit erklärte, auf die Straße.

»Dann will ich die Damen keinen Augenblick länger durch meine Gegenwart um den Genuß einer traulichen Unterhaltung bringen«, sagte Oswald, sich zum Abschied verbeugend.

»Ei, Herr Doktor«, erwiderte Sophie munter, »sind Sie ein solcher Feind von traulichen Unterhaltungen, daß Sie durch Ihre Gegenwart dergleichen unmöglich machen? Setzen Sie sich lieber, und strafen Sie meinen Franz nicht Lügen, der Sie den unterhaltendsten Gesellschafter nennt. Kommen Sie, Helene, nehmen Sie hier am Kamine Platz. Fräulein Bär wird sich die Augen nicht ausweinen, wenn Sie auch etwas länger ausbleiben.«

Oswald war im Begriff gewesen, den ihm angebotenen Platz anzunehmen; als er indessen hörte, daß Helene möglicherweise nicht bleiben würde, begnügte er sich, Sophiens Aufforderung vorläufig mit einer stummen Verbeugung zu erwidern.

»Ich danke, liebe Sophie«, sagte Helene, sich aus dem Fenster umwendend, »aber ich muß in der Tat fort – ein andermal.«

Sie hatte scheinbar ihre gewöhnliche Ruhe wiedergewonnen; nur ein scharfer Beobachter hätte vielleicht in dem etwas lebhafteren Rot der schönen Wangen die letzte Spur einer vorangegangenen Erregung und in den gesenkten Augenlidern die Absicht bemerkt, sie vor den Blicken der anderen zu verbergen.

Oswald, der nach einem Mittel ausspähte, Helene noch ein paar Augenblicke zu halten, sah den Flügel geöffnet und Notenblätter aufgeschlagen.

»Oh, bitte, bitte, mein gnädiges Fräulein«, sagte er, »wenn Sie noch eine Minute Zeit haben, singen Sie dies Lied! Es verdient, von Ihnen gesungen zu werden.«

»Wir sind es schon vorhin durchgegangen«, sagte Sophie, »es ist in der Tat schön, und Fräulein von Grenwitz singt es vortrefflich. Wollen Sie, liebe Helene?«

Sie hatte schon, Helenens Einwilligung für selbstverständlich haltend, sich an den Flügel gesetzt und blickte jetzt, ein paar präludierende Akkorde greifend, erwartend auf Helene.

So sah sich diese genötigt, ihren Hut, den sie schon in der Hand hatte, wieder hinzulegen und an den Flügel zu treten.

Oswald stand in der Entfernung von wenigen Schritten an das Gesims des Kamins gelehnt, die Blicke unverwandt auf die beiden schlanken Mädchengestalten gerichtet, in diesem Augenblick zweifelnd, welche von den beiden Erscheinungen – nicht die schönere, denn das war unbestritten Helene – aber die interessantere war.

Helene kam ihm beinahe fremd vor; er mußte sich ordentlich erst in ihre Schönheit wieder hineinleben, und doch machte sie nicht mehr den überwältigenden Eindruck von ehemals. Er glaubte, es sei die ungewohnte Umgebung, die fesselnde Erscheinung Sophies, die ihn in seiner Andacht störe – er wußte nicht, daß seit der Zeit, wo er Helene zuletzt gesehen hatte, der Spiegel seines Geistes trüber geworden und nicht mehr imstande war, ein reines Bild auch rein zurückzuwerfen. – Vergebens suchte er einen Blick Helenens zu erhaschen. Wenn Sophie, in ihre vielgeliebte Musik vertieft, seine Anwesenheit wirklich vergessen hatte, so schien es zum mindesten mit Helene nicht anders zu sein. Sie hob die Augen nicht einmal von den Notenblättern auf. Oswald freute sich dessen. Er schloß daraus, daß seine stürmische Begrüßung von vorhin, wenn auch vergeben, so doch nicht vergessen war.

Man war von einem Lied ins zweite und vom zweiten ins dritte und vierte gekommen. Plötzlich aber erklärte Helene, nun nach Hause gehen zu müssen. Oswald, der nicht anders glaubte, als daß eine Dienerin aus der Pension draußen warte, sann eben darüber nach, wie er seine Bitte, sie begleiten zu dürfen, am schicklichsten einkleiden könne, als ihn Sophiens Frage: »Aber werden Sie denn noch allein gehen können?« dieser Mühe erhob. Was war natürlicher, als daß er mit einer höflichen Verbeugung Fräulein von Grenwitz seine Begleitung anbot, und Fräulein von Grenwitz mit einer kaum merklichen Neigung des stolzen Hauptes sie annahm.

Sophie nestelte eben der jungen Dame den Sammetmantel zu und band ihr noch ein weißes Tüchelchen um den Hals, »auf daß Ihrer Stimme kein Schaden geschieht, liebe Helene!« Oswald stand mit dem Hut in der Hand daneben, als die Tür, ohne daß man ein Klopfen gehört hätte, sich öffnete und Herr Bemperlein rasch ins Zimmer trat.

Oswald, der mit dem Rücken nach der Tür zu stand, wurde Bemperleins erst gewahr, als er sich auf Sophiens Gruß: »Guten Tag, Bemperchen!« nach dem Kommenden umwandte. In demselben Moment erkannte auch Herr Bemperlein Oswald.

Sie hatten sich seit jener Nacht, wo Bemperlein Melitta nach Fichtenau abzuholen kam und die Liebenden im Park überraschte, nicht wieder gesehen. Sie waren damals in herzlicher Freundschaft geschieden; und heute, als sie sich nach Monaten wiedersahen, streckte keiner dem andern die Hand entgegen, lächelte keiner dem anderen freundlich zu, begrüßte keiner den andern mit einem herzlichen Wort. Ihr ganzes Willkommen bestand aus einer förmlichen Verbeugung und einigen nichtssagenden Phrasen, so daß Sophie, welche bis jetzt geglaubt hatte, daß Bemperlein und Oswald auf dem besten Fuße ständen, nicht wenig verwundert war und nicht recht wußte, wie sie sich in diesem ganz unvorhergesehenen Fall benehmen sollte. Indessen dauerte diese peinliche Situation nicht lange, denn Sophie hatte kaum Herrn Bemperlein Fräulein von Grenwitz vorgestellt, die, wenn sie sich wirklich des in früheren Jahren häufiger gesehenen Hauslehrers auf Berkow erinnerte, jedenfalls nicht für gut fand, dieser Erinnerung Worte zu leihen, als Helene und Oswald das Zimmer verließen. Sophie begleitete sie noch zur Tür hinaus, während Bemperlein, die Hände auf dem Rücken, die Augen starr auf den Boden geheftet, an dem Kamin stehenblieb.

Es war beinahe Nacht, als Helene und Oswald auf die schlecht erleuchtete Straße traten.

»Welchen Weg nehmen wir?« fragte Oswald.

»Ich denke, es gibt nur einen.«

»Nicht doch; wir können auch über den Wall gehen. Der Weg ist näher, und es geht sich angenehmer dort als auf dem schlechten Steinpflaster.«

»Wie Sie wollen.«

»Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten?«

Es war das erste Mal, daß Oswald Gelegenheit hatte, Helenen zu führen. Er beeilte sich nicht, das Vergnügen, Arm in Arm mit dem geliebten Mädchen durch die Nacht zu wandern, abzukürzen. Der Weg, den er vorgeschlagen, war nicht nur der bei weitem längere, sondern auch der bei weitem dunklere. Er führte zwischen der Stadtmauer und dem Festungswalle hin – eine angenehme Promenade im Sommer und bei Tage; aber jetzt an einem finsteren Herbstabend wenig empfehlenswert.

»Es ist doch dunkler, als ich gedacht«, sagte Oswald, als sie aus dem dumpfigen Stadtmauertor, wo die letzte Laterne brannte, auf den Wall gekommen waren, »sollen wir lieber wieder umkehren?«

»Meinethalben nicht; ich gehe ganz gern so.«

»Hüllen Sie sich wenigstens recht fest in Ihren Mantel; der Wind weht scharf vom Meer herüber, und die Luft ist feucht und kalt.«

Sie gingen einige Minuten schweigend. Das trockene Laub der Bäume, mit denen die Promenade besetzt war, raschelte unter ihren Füßen; klagende Töne strichen durch die Luft.

»Wie mag es jetzt im Grenwitzer Park aussehen?« fragte Oswald.

»Das dachte ich eben auch«, erwiderte Helene.

»Ich möchte, ich könnte in diesem Augenblicke dort sein.«

»Was wollten Sie da?«

»Ich wollte in den wohlbekannten Gängen, zwischen den Taxushecken unten im Garten, unter den Buchen oben auf dem Wall umherschweifen und mich mit der Mondessichel, die durch die Wolken schwankt, und mit dem Nachtwind, der durch die Bäume und um das Schloß rauscht, unterhalten von seligen Stunden, die nicht mehr sind und nimmer wiederkehren können.«

»So denken Sie gern an Grenwitz zurück?«

»Sollte ich es nicht? Habe ich doch die glücklichsten Tage meines freudelosen Daseins dort verlebt! Was kümmern mich jetzt die Bitternisse, die in diesen Kelch berauschender Süßigkeit gemischt waren? Ich weiß von ihnen nichts mehr. Mir ist, als hätte ich damals zum ersten und letzten Male in meinem Leben wahrhaft gelebt, und als sei ich gestorben mit den Blumen auf den Beeten und mit dem Sonnenschein, der des Morgens durch die taufrischen Zweige spielte und bunte Schatten auf den Weg streute. Wohl ihm, dessen Leben wirklich mit jenem köstlichen Sommer zu Ende war!«

»Wohl ihm!« flüsterte Helene.

»Ja, wohl ihm! Er hat eine Stunde lang in dem Anschauen dessen geschwelgt, was ihm das Schönste, das Herrlichste war, und ist dann dahingeschwunden wie ein rosiger Morgenduft vor den Strahlen der vielgeliebten Sonne. Er hat sie nicht zu kosten gebraucht, die schwüle Hitze und den erdrückenden Staub des Mittags. Er hat sich nicht vor dem scharfen Wind des Abends schaudernd zu verhüllen brauchen, er hat die schöne bunte Welt nicht in öde Nacht versinken sehen. – Verzeihen Sie mir, mein gnädiges Fräulein; es ist heute abend schon das zweite Mal, daß ich mich von der Erinnerung an meinen toten Liebling fortreißen lasse. Aber ich kann Ihnen nicht sagen, wie wunderbar Ihr Anblick und Ihre Nähe sein Andenken in mir wachrufen. Die vernarbten Wunden fangen wieder an zu bluten; die trockenen Augen wieder an zu tropfen.«

»Geht es mir denn anders?« sagte Helene, und ihre Stimme zitterte.

»So haben Sie ihn auch geliebt? Aber nein, das wollte ich nicht fragen. Wie hätten Sie ihn nicht lieben sollen, der so schön, so tapfer, so gut war, so hinreißend liebenswürdig, und der Sie so liebte, so unsäglich liebte! Oh, Fräulein von Grenwitz, wissen Sie denn wohl, wie sehr er Sie geliebt hat? Wissen Sie, daß er Sie bis in den Tod, daß er Sie mehr als sein Leben geliebt hat?«

»Ich weiß es!« sagte Helene leise.

»Mehr als sein Leben«, fuhr Oswald leidenschaftlich fort, »über den Tod hinaus. Es war an dem letzten Tage, wenige Stunden vor seinem Tode, als er mir ein Medaillon zeigte mit einer Locke von Ihrem Haar, das er auf der Brust trug, und mich bat, es ihm ins Grab zu geben. Ich habe ihm seinen Wunsch nicht erfüllen können. Sie erinnern sich, daß ich am nächsten Morgen schon das Schloß verließ, ohne zu wissen, ob – ich jemals wieder den Fuß über die Schwelle würde setzen, ob ich den teuren Toten bis zum letzten Augenblicke würde bewachen dürfen. Der Gedanke war mir entsetzlich, daß jenes Kleinod in profane Hände kommen könnte, ich nahm es daher mit der Absicht, es Ihnen, die Sie den einzig rechtmäßigen Anspruch darauf haben, zurückzustellen. Ich habe es stets – ich habe es noch in meinem Gewahrsam. Wann, befehlen Sie, daß ich es Ihnen zusende?«

Sie hatten das Festungstor passiert und gingen in der Vorstadtstraße unter den hohen sausenden Pappeln. Bei dem ungewissen Licht des Mondes, der eben aus den treibenden Wolken hervorlugte, suchte Oswald in Helenens Gesicht zu lesen. Es schien ihm bleich und heftig erregt. Ihr Arm lehnte sich fester auf seinen Arm, als sie nach einer Pause antwortete:

»Ist Ihnen das Medaillon sehr lieb?«

»Das können Sie fragen?«

»Nein, nein! Verkennen Sie mich nicht – ich bin nicht undankbar, bin gegen Liebe und Freundschaft nicht unempfindlich. Behalten Sie das Medaillon! Behalten Sie's zur Erinnerung an Ihren, an unsern Liebling.«

»Nur zur Erinnerung an ihn? Es ist Ihr Haar, Fräulein Helene! – Nur zur Erinnerung an ihn?«

»Und – an mich!«

Oswald nahm die Hand, die auf seinem Arm ruhte und führte sie an seine Lippen.

»Ich habe nichts getan, wodurch ich so große Huld und Gnade verdient hätte; aber freilich, wäre Gnade denn noch Gnade, wenn man sie verdienen könnte?«

»Sie wollen mich durch Ihre Bescheidenheit erdrücken. Sie wollen, daß ich Ihnen danken soll für alle Ihre Güte, wie ich Ihnen danken müßte und doch nicht danken kann. Sie sind immer gut gegen mich gewesen; Sie haben zu mir gestanden, als ich selbst von meinen nächsten Verwandten angefeindet wurde, und noch zuletzt –«

»Habe ich nichts getan, was ich nicht jeden Augenblick mit Gefahr meines Lebens wieder tun würde. – Doch hier sind wir an Fräulein Bärs Haus. Ist die Gittertür verschlossen?«

»Nein.«

Sie gingen durch den kleinen Garten bis zur Haustür. Oswald schellte.

»Werde ich Sie wiedersehen?«

»Ich komme öfter zu Robrans.«

Die Tür wurde von innen aufgeriegelt.

»Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Die Tür wurde aufgeschlossen.

»Auf Wiedersehen!« flüsterte Oswald, noch einen Kuß auf Helenens Hand drückend.

»Auf Wiedersehen!« flüsterte Helene.

Im nächsten Augenblick war sie im Hause verschwunden.

Ohne recht zu wissen wie, war Oswald in die Stadt zurückgekommen. Wo die Marktstraße auf den Markt mündet, in dem großen Eckhause waren die Fenster hell erleuchtet; Wagen auf Wagen rollte vor die Tür; geputzte Damen und Herren stiegen aus und verschwanden im Portale. Als Oswald, dicht an den Häusern hinschreitend, in unmittelbarster Nähe der Tür angekommen war, fuhr eben wieder ein Wagen vor. Der Kutscher parierte die feurigen Pferde zu gewaltsam, und der Bediente, der eben im Begriff stand, vom Bock zu springen, wurde unsanft auf die Erde geschleudert. Er raffte sich sogleich wieder auf, aber der Schmerz mußte gar groß sein; er blieb wie betäubt stehen. Oswald, der eine einzelne Dame im Coupé bemerkt hatte, die schon, des Öffnens der Tür harrend, aufgestanden war, griff nach dem Drücker, öffnete, und die Dame, ihre kleine weißbehandschuhte Hand ahnungslos auf seinen Arm legend, schwebte in einer Wolke von Musselin und Spitzen herab.

In diesem Augenblick, wo das Licht aus dem Portale hell auf beide fiel, stieß die Dame einen leisen Schrei aus, Oswald mit großen Augen anstarrend.

Eine glühende Röte ergoß sich über ihr Gesicht. Ihre Augen flammten auf – es mochte unentschieden bleiben, ob in Liebe oder Haß. Ihre Lippen zuckten – augenscheinlich hatte die plötzliche Überraschung sie gänzlich überwältigt.

Der Bediente, der mit dem Hut in der Hand herangehinkt kam, löste den Zauber.

»Verzeihen Sie, gnädige Frau –«, begann der Mann.

Über Oswalds Gesicht zuckte ein spöttisches Lächeln.

»Ich gratuliere, gnädige Frau«, sagte er leise, ihr die Hand bietend, sie die Stufen hinaufzuführen.

Oswald fühlte, daß die schlanken Finger sich sehr fest in die seinen legten.

»Sie haben es ja gewollt«, flüsterte sie, und jetzt war es entschieden, daß die großen, grauen Augen nicht Haß, sondern Liebe blickten. »Besten Dank! Lassen Sie sich doch einmal bei mir sehen. Ich garantiere, daß Cloten Sie freundlich empfangen wird.« Sie waren auf der letzten Treppenstufe angelangt.

Oswald verbeugte sich.

»Also auf Wiedersehen, Herr Doktor?«

»Auf Wiedersehen!«

Die junge Dame rauschte in das Portal. Oswald stieg die Stufen hinab, an dem lahmen Bedienten vorüber, der, sich noch immer die Knie reibend, seinen improvisierten Kollegen verwundert anblickte.

»Emilie von Breesen«, murmelte Oswald, indem er weiterschritt, »die reizende Emilie – Frau von Cloten? Und bloß, weil ich es gewollt? Und wenn ich es nun nicht will, nicht länger will? Was dann?«


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