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Sechzehntes Kapitel

Oswald war vor einigen Stunden in Sundin angekommen. Der frühe Herbstabend brach bereits herein, als er sich auf der Chaussee der alten Stadt näherte. Die hohen Türme dämmerten wie Ossianische Riesenleiber durch den wogenden grauen Nebel; Nebel zog auf den tiefen Wiesen zwischen der Chaussee und dem Meere; Nebel wallte auf der weiten Wasserfläche zwischen dem Festlande und der Insel.

Oswald hüllte sich fröstelnd dichter in seinen Mantel und drückte sich in die Ecke des Kabrioletts. Was wollte er in Sundin? Er wußte es selber nicht. Auch die kleinen von den Nordoststürmen kahlgefegten Bäume an der Westseite, die an seinem dumpfen Blick in öder Monotonie vorüberhuschten, wußten es nicht; auch die starkknochigen Postgäule, die, von der Nässe triefend, vornübergebeugten Kopfes mechanisch dahintrotteten, wußten es nicht; auch der alte, schnauzbärtige Kondukteur, der vor lieber Langerweile seine Passagierliste zum hundertsten Male aus der Seitentasche herausholte und durchblätterte, wußte es nicht. Es wußte eben keiner, es hätte denn die Krähe sein müssen, die sich im Walde verspätet hatte und jetzt einsam und melancholisch über den Postwagen weg zur Stadt zog und im Nebel verschwand.

Einsam und melancholisch! Und doch durfte sie sicher sein, in den Türmen der altersgrauen Kirchen, auf den langen Dächern der hohen Giebelhäuser eine Schar von Brüdern und Schwestern zu finden, die sie mit heiserem Gekrächz willkommen heißen würden; und irgendwo ein Mauerloch, in dem sie über Nacht, während der kalte Nachtwind durch die Schallöcher und um die Schornsteine pfiff, von dem sommerlichen Leben im grünen Tannenwalde behaglich träumen konnte. Wer aber harrte seiner in der grauen öden Stadt? Wo sollte er einen Ruheort finden?

Und die Bäume tanzen immer gespenstiger an dem Wagen vorüber; und die Gäule schütteln immer ungeduldiger die schweren Kummete, und der Nebel ballt sich immer dichter und finsterer zusammen, und durch den dichten, finstern Nebel schauen trübäugig einzelne Lichter, und jetzt schlägt der Huf der müden Pferde auf das Pflaster, und jetzt rollt der Wagen über die Zugbrücke, durch das enge Tor in die engen, winkligen, schlechtgepflasterten Straßen der Stadt und hält vor dem Postgebäude still. Die plötzliche Ruhe nach dem viele Stunden langen Klappern, Schütteln und Stoßen ist unendlich süß für den, der das Ziel seiner Reise erreichte, und unbeschreiblich unheimlich für den, dessen Reise kein Ziel hatte, oder dem das erreichte Ziel kein erwünschtes ist. Er möchte, das Klappern, Schütteln und Stoßen begönne von neuem, und es klapperte, schüttelte und stieße ihn weiter und weiter, von allen Menschen weit in die ewige Nacht.

Ein ödes, unwohnliches Gemach; zwei eben angezündete Kerzen auf dem Tisch vor dem Sofa; ein Koffer auf dem Gestell, eine Hutschachtel auf dem Stuhl daneben; ringsumher Stille, nachdem der Tritt des Kellners auf dem langen, schmalen Korridor verhallte. – Oswald fand diese Situation wenig dazu angetan, einen Melancholischen heiter zu stimmen. Er beeilte sich, aus dem Gemache und aus dem Hause zu kommen.

Es war ursprünglich seine Absicht gewesen, Franz aufzusuchen, den einzigen in Sundin, von dem er eines herzlichen Empfanges, eines freudigen Willkommens versichert sein durfte; aber er gab diese Absicht bald wieder auf und wanderte ziellos und zwecklos durch die Straßen. – Er kannte die Straßen, die Plätze, durch die er schon von Grünwald aus wiederholt gewandert war, gar nicht wieder, und wenn er sich wirklich an dies oder jenes zu erinnern glaubte, so war es nur, wie man in einem Traum Unbekanntes und Weites, Nahes und Fernes chaotisch durcheinander mischt. Endlich geriet er in eine der Straßen, die nach dem Hafen führen. Hier war er besonders zu Hause, denn der Hafen mit seinem Gewimmel von Booten und Schiffen, seinem Meerdunst und Teergeruch, seinen monoton klingenden Matrosenliedern und rastlos klopfenden Hämmern und Beilen und knirschenden Sägen war ihm immer der liebste Punkt der alten Stadt und das wiederholte Ziel seiner Spaziergänge gewesen.

Aber auch an dieser sonst belebtesten Stelle der alten Hansestadt war es heute abend öde und tot. Hier und da schimmerte durch ein Kajütenfenster ein Licht; dann und wann erscholl von dem Verdeck eines Schiffes das Bellen eines Hundes oder der heisere Ruf eines Matrosen – sonst Nacht und Schweigen überall.

Er wanderte auf dem weit ins Meer hineingebauten Damme, an dem nach der Seeseite zu Fahrzeug neben Fahrzeug ankerte, bis zu der äußersten Spitze. Hier stand er, in dumpfes Brüten und Sinnen versunken, lange Zeit und schaute mit untergeschlagenen Armen in die dichte Finsternis hinaus, die auf dem Meere lagerte, und horchte auf das leise, gleichförmige Plätschern des Wassers, das unter ihm unaufhörlich an den Quadern des Dammes leckte und züngelte. War, was da vor ihm lag, sein vielgeliebtes Meer, auf dem sich seine Träume, seine Hoffnungen so oft mit dem Fluge der Möwen gewiegt hatten, war es der dunkle Abgrund, in den seine Hoffnungen und Träume wie die Schätze eines gescheiterten Schiffes auf immer unwiederbringlich gesunken waren?

Drüben, jenseits der schwarzen Wasserwüste, lag die Insel, so nah und doch so fern, wie die Zeit, die er dort verlebte, die kurze Spanne Zeit, die alles umschloß, was er von Glück und Frieden je im Leben gekannt hatte. Ein Fährboot, das von der Insel herüberkam, fuhr dicht an der äußersten Spitze des Dammes vorüber, auf der er stand. Er hörte das taktmäßige Eintauchen der schweren Ruder ins Wasser und das eigentümlich dumpfe Kreischen gegen die Pflöcke; er hörte die verworrenen Stimmen der nächtigen Passagiere.

Er ging in die Stadt zurück und kam über den Marktplatz. Von dem Turm der Nikolaikirche tönten die feierlichen Akkorde eines Chorals, mit dem man, alter Sitte gemäß, in Sundin allabendlich um neun Uhr dem dahingeschwundenen Tag Lebewohl sagt.

Oswald hörte zu, bis der letzte Ton verklungen war. Er dachte an den Tod und an das große Geheimnis, das das Grab nicht erschließt, sondern nur noch dunkler macht, und wie glücklich doch die Menschen sein müßten, die in dem Glauben an den Heiland und Erlöser ihre Zuversicht finden.

Das langgezogene »Heraus!« des Postens vor der Hauptwache riß ihn aus seinen Träumereien. Eine quäkende Stimme kommandierte: »Gewehr auf! Gewehr ab! Helme ab zum Gebet!« Frömmigkeit auf Kommando – Herzensergießung nach dem Paragraphen des Wachtdienstes! In einem wohlgeordneten Staate muß alles geregelt sein.

Warum bist du, sprach Oswald weiter bei sich, während er nach dem Tore schritt, nicht ein Pedant unter Pedanten, da dir das Schicksal nun einmal mißgönnt, unter Römern ein Römer zu sein? Weshalb sträubst du dich gegen den Kamm, über den sich alle diese guten Schafe geduldig scheren lassen? Du könntest es ja doch auch bequemer haben wie andere! Es mag sich alles in allem gar nicht so schlecht in dem Großvaterstuhl eines Amtes, wie Berger es ausdrückt, sitzen; die Schlafmütze einer Würde mag vor manchem Rheumatismus, der einen sonst aus der windigen Welt anweht, schützen, und wer ein tugendsam Weib hat, der lebt noch einmal so lange, und wenn er dann nun doch endlich gestorben ist, so blasen sie hoch vom Turm, daß die ganze Stadt es vernimmt und für das Heil seiner Seele betet.

Über ihm rauschten die Bäume, mit denen die Vorstadtstraße, in der, wie er zufällig wußte, die Pensionsanstalt des Fräulein Bär lag, besetzt war. Der Nachtwind hatte die Nebeldecke zerrissen und die Sichel des zunehmenden Mondes schwankte durch die gespenstisch flatternden Wolken. Ein Reiter jagte nach der Stadt zu an ihm vorüber. Das Tier schnaufte und die Funken sprühten. Im nächsten Moment hallte der Hufschlag auf dem Pflaster schon dumpf und fern, wieder lauter und wieder dumpfer und verhallte endlich ganz.

Gewiß jemand, der nach dem Arzt reitet – ein Gatte vielleicht, dessen Frau in Kindesnöten, ein Vater vielleicht, dessen einziger Sohn im Sterben liegt. – Oswald dachte an die Nacht, in der Bruno starb, und an den grausigen Ritt über die Heide von Grenwitz nach Faschwitz. Wenn Bruno am Leben geblieben wäre! Es war Oswald, als würde dann alles anders gekommen sein; als wäre er erst durch den Tod des vielgeliebten Knaben so grenzenlos arm geworden; als hätte er mit ihm gegen eine Welt in Waffen ankämpfen können. Mit ihm und für ihn! Für Bruno wäre ihm kein Opfer zu schwer gewesen, selbst nicht das Opfer seiner Liebe zu Helene. Bruno, aber auch nur ihm, hätte er das schöne Mädchen gern und willig gegeben. Gegeben? Was hatte er denn zu vergeben? Er, der Bettler?

Da stand er vor dem Hause des Fräulein Bär und lehnte sich an das eiserne Gitter des Gartens. In dem Hause war kein Fenster mehr erleuchtet. Die Bewohnerinnen mußten schon zur Ruhe gegangen sein. Er dachte an die Sommernächte, wenn er im Park von Grenwitz stundenlang nach dem offenen Fenster mit den heruntergelassenen Vorhängen emporschaute, aus dem die Töne des Klaviers durch die stille, weiche Luft zu ihm herüberwehten; und dann noch stundenlang, wenn das Licht hinter den roten Vorhängen erloschen und die Musik verstummt war, zwischen den Beeten und unter den Buchen des Walles auf und nieder wandelte, manchmal, bis der erste Purpurstreifen des Frührots den östlichen Horizont säumte und die Vögel in dem dichten Gezweig über ihm schlaftrunken zu zwitschern begannen.

Ein Windstoß sauste durch die beiden hohen Pappeln rechts und links von der Pforte und zischelte unheimlich in den dürren Blättern. In dem Hause klappte ein Fensterladen – ein Hund in einem Nachbarhause begann zu heulen.

Oswald schauderte wie im Fieber. Die momentane Aufregung nach einer langen Fahrt im Postwagen war vorüber; er fühlte sich matt und krank. Er knöpfte seinen Überrock fester zu und wandte sich, in die Stadt zurückzukehren. Ein Wagen kam ihm im schnellsten Rollen entgegen. Ein Reiter mit einer Laterne in der Hand sprengte vorauf – derselbe wohl, der vorhin, wie toll, durch die schwarze Nacht in die Stadt gejagt war.

Sollte es wohl Doktor Braun sein, der da fährt? – Der Gedanke, den Freund möglicherweise nicht zu Haus zu treffen, erweckte in Oswald den Wunsch, ihn zu sehen und zu sprechen. In wenigen Minuten – denn die Entfernungen in Sundin sind nicht eben bedeutend – stand er vor dem Hause, das ihm vom Kellner als Franz' Wohnung bezeichnet war. Das Mädchen, das die Haustür öffnete, sagte, der Herr Doktor sei nebenan beim Geheimrat; er sei des Abends stets beim Geheimrat. Oswald erfuhr, daß Bemperlein im Salon sei – Bemperlein, der einzige, mit Ausnahme des alten Baumann, der von seinem Verhältnisse zu Melitta wußte, der einzige, vor dessen Begegnung er zurückbebte, dessen vorwurfsvoller Blick – im Fall er von den letzten Ereignissen noch nicht unterrichtet war – ihm gleicherweise peinlich sein mußte.

Auf der Straße besann er sich erst, daß sein Fortgehen, nachdem er einmal dagewesen war, geradezu unerklärlich und lächerlich sei. Das verstimmte ihn womöglich noch mehr, als er es schon war. Er hätte sich am liebsten in den Tiefen der Erde verbergen, im Schlaf das Elend des Lebens vergessen mögen. Im Schlaf? Weshalb nicht im Wein, wenn der Schlaf nicht zur Hand ist? »The best of life is but intoxication«, sagt Lord Byron und dort, wo die einsame Laterne in der düstern Halle zwischen den Steinpilastern hervordämmert, ist der Eingang zum alten Ratskeller. Hinab die lange breite Treppe mit den niedrigen Stufen, hinab in den Bauch der Erde, wo man nichts fragt nach Gefühlen, die das Herz schwer, und nach Gedanken, die den Kopf wirbeln machen.


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