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Siebenundzwanzigstes Kapitel

Einige Tage später war beim Geheimrat Robran in dem Wohnzimmer eine kleine Gesellschaft versammelt, bestehend aus dem Geheimrat selbst, seiner Tochter, Franz und einer jungen Dame, die von Bemperlein bei Robrans eingeführt war: Mademoiselle Marguerite Martin. Man hatte zu Abend gegessen, nachdem man vergeblich eine Stunde lang auf Herrn Bemperlein gewartet. Jetzt saß man um den Kamin; auf einem Tische in der Nähe Sophiens stand statt der Teesachen heute eine kleine Bowle, aus der die junge Dame aber nur selten ein oder das andere Glas füllte. Die Konversation war nicht eben belebt; es schien ein Schleier von Wehmut über den Gesichtern aller zu hangen. Kein Fremder hätte glauben sollen, daß diese stille melancholische Gesellschaft nichts mehr oder nichts weniger feierte, als was man im gewöhnlichen Leben einen »Polterabend« zu nennen pflegt.

Und doch war dies der Fall. Morgen in den ersten Vormittagsstunden sollte in der Kirche das junge Paar von Prediger Schwarz eingesegnet werden, um dann eine Stunde später nach Berlin abzureisen, wohin Franz dringende Geschäfte riefen.

In den Plänen, die Franz für die Zukunft entworfen hatte, war nämlich noch in der elften Stunde vor seiner Verheiratung eine große Veränderung eingetreten. Das Opfer, das er in aller Stille und Heimlichkeit der Ruhe und dem Glück der Seinigen bringen wollte, war nicht angenommen worden. Als er an Professor Kurzenbach schrieb, daß er die ihm zugedachte Ehre der Stelle eines ersten Assistenzarztes an dem Universitätskrankenhaus ablehnen müsse, glaubte er die Sache ein für allemal abgetan. Aber Kurzenbach war nicht der Mann, einen ihm liebgewordenen Gedanken so leicht aufzugeben. Er schrieb abermals an Franz, und – das hatte Franz nicht erwartet – zugleich an dessen Schwiegervater. So erfuhr der Geheimrat, was ihm, nach Franz' Absicht, wenigstens bis alles entschieden war, unbekannt bleiben sollte. Als Franz eine halbe Stunde später ihn zu besuchen kam, empfing er ihn mit dem Brief Kurzenbachs in der Hand. In dieser Stunde der Entscheidung fand Robran seine ganze alte Geisteskraft und Beredsamkeit wieder.

»Sehen Sie denn nicht, teuerster Franz«, sagte er, »daß dies ungeheure Opfer, das Sie mir so leichten Mutes und – Sie müßten sonst kein vom Weibe Geborener sein – schweren Herzens bringen, mich durch seine Größe niederdrückt und sozusagen moralisch vernichtet? Sie haben Ihr Vermögen für mich hingegeben. Ich unterschätze das wahrhaftig nicht; indessen, das hat schon mancher Vater freudig für seinen Sohn getan, weshalb sollte es nicht auch umgekehrt einmal ein Sohn für einen Vater tun? Aber, indem Sie diese Stelle ausschlagen, opfern Sie mir etwas, das sich nicht mehr zählen und berechnen läßt. – Sie opfern mir Ihre Zukunft. Sie opfern mir den Ehrgeiz, der jedes edle, männliche Herz erfüllt, es in dem Berufe, dem man angehört, zur höchstmöglichen Vollkommenheit zu bringen; ja, was am schwersten in die Waagschale fällt: Sie opfern mir auch, worüber Sie gar nicht frei verfügen können: die Pflicht, die Sie gegen Ihre Mitmenschen haben. Wem wie Ihnen viel gegeben ist, von dem kann und muß auch viel gefordert werden. Sie finden in Berlin einen Wirkungskreis, um den Sie selbst ein Cäsar beneiden würde, wenn ein Cäsar überhaupt jemals begreifen könnte, worin das wahre Herrschertum des Menschen besteht. Sie werden in Wirklichkeit sein, wie die römischen Schmeichler ihre Neronen und Heliogabale nannten: decus und deliciolae generis humani: eine Zierde und Wonne des Menschengeschlechts, denn Sie werden, wie einst der göttliche Nazarener, Blinde sehend und Lahme gehend und die unter der dumpfen Grabesdecke ihrer Leiden Gebetteten vom Tode auferstehen machen. Und von Ihren Worten und Werken begeisterte Schüler werden ausziehen in alle Lande, und so wird der Kreis Ihrer Wirksamkeit wie der jedes wahrhaft großen und guten Menschen eine unendliche Peripherie gewinnen. Was Sie hier leisten können, das können andere auch. Was Sie dort leisten können, das können wenige, und es ist recht und billig, daß jeder Soldat in der großen Fortschrittsarmee da marschiert, wo seine Stelle ist in Reih und Glied.

Und nun abgesehen von diesen innern und moralischen Gründen, die Sie gebieterisch zwingen, auf den Ruf des großen Geistes, der durch Kurzenbachs Mund Ihnen geworden ist, mit Hier! zu antworten, so sprechen auch selbst die äußeren Verhältnisse mehr für als gegen die Sache. Ich weiß sehr wohl, welche Motive Sie zu Ihrer Weigerung bestimmten; aber – verzeihen Sie, Franz, wenn ich ganz aufrichtig spreche – sollten Sie dabei, wenn auch nicht Ihre Kraft überschätzt, so doch die meinige zu gering angeschlagen haben? Ich weiß es: der Tod hat mich nur vorläufig gezeichnet, um mich bei nächster Gelegenheit desto sicherer zu treffen; indessen, so bald tritt diese Gelegenheit denn doch vielleicht nicht ein; ich schätze, wenn Sie nicht etwas Besonderes dagegen haben, mein Leben immer noch auf zwei, drei Jahre, vielleicht noch länger. So lange werde ich meine Kranken besuchen nach wie vor, und wenn ich nicht allein fertig werden sollte, so werde ich mir jemand wählen, der mir nicht eine so gefährliche Konkurrenz machen kann wie mein vortrefflicher Schwiegersohn, den man mir jetzt schon hier und da vorzuziehen anfängt. Im Ernst, Franz, wir stehen uns vorläufig hier nur im Wege. Und wenn's doch einmal darauf ankommt, Geld zu machen, so ist es besser: Sie gehen nach Osten und scheren Ihre Schafe, und ich schere hier im Westen die meinen.«

Franz war durch diese Argumente nicht ganz überzeugt; aber er fühlte, daß der Geheimrat als Mann von Ehre nicht anders handeln könne. So ging er denn zu seiner Braut und sagte ihr, daß er einen Ruf nach Berlin erhalten habe. Was sie dazu sage?

»Ob du dem Ruf folgen mußt«, erwiderte Sophie nach kurzer Überlegung, »das zu entscheiden, muß ich natürlich dir und dem Vater überlassen, denn ich verstehe nichts davon. Wenn's aber sein muß, werde ich gewiß nicht nein sagen. Wann sollen wir fort?«

»Ich muß gegen Weihnachten spätestens da sein; aber auch jetzt schon muß ich gleich nach unserer Hochzeit auf ein paar Tage hinüber, um das Terrain zu rekognoszieren.«

»So reise ich mit dir. Du sollst sehen, daß ich gar nicht so unpraktisch bin, wie du glaubst.«

Wenn Sophie so ruhig, beinahe kühl über einen Plan sprach, der für ihre und Franzens Zukunft entscheidend war, dessen Ausführung sie von Vaterstadt und von Vaterhaus, von ihren Freundinnen und Bekanntinnen, von tausend und aber tausend Gewohnheiten vielleicht für immer trennte, so war ihr doch der Gedanke unsäglich schmerzlich, von dem Vater, den sie so liebte, von dem sie so sehr geliebt wurde, scheiden zu sollen. Aber sie wußte, daß er in der Stunde der Entscheidung an den Grundsätzen, die er der Tochter eingeprägt, festhalten und von ihr dieselbe Festigkeit erwarten würde.

Von diesem Momente an war Sophiens ganzes Sinnen und Trachten darauf gerichtet, alles im Hause zu ordnen, daß der Vater nach ihrer Entfernung wenigstens den Komfort des Lebens, an den er sich nun einmal gewöhnt hatte, nicht vermißte. Vor allem handelte es sich darum, ein weibliches Wesen zu finden, das ihre Stelle an der Tafel und beim Teetisch ausfüllen und überhaupt die Leitung der häuslichen Angelegenheiten übernehmen könnte. Ihre Wahl war bald getroffen. Bemperlein hatte auf Sophiens ausdrücklichen Wunsch ihr Mademoiselle Marguerite schon am nächsten Tage nach der denkwürdigen Unterredung vor dem Kaminfeuer zugeführt. Sophie hatte an der hübschen schwarzäugigen Französin großes Gefallen gehabt und Bemperlein aufrichtig zu seiner Wahl gratuliert. Schon damals war Sophie der Gedanke gekommen, ob Marguerite nicht später, wenn sie selbst verheiratet war, dem Vater die Wirtschaft führen könnte. Jetzt beeilte sie sich, diesen Gedanken zur Ausführung zu bringen. Der Vater, auf den »die kleine Lacerte«, wie er das zierliche Figürchen nannte, einen sehr günstigen Eindruck gemacht hatte, fand den Plan seiner Sophie »so übel nicht«; Franz »billigte« ihn, und was Bemperlein anbetrifft, so verstand es sich von selbst, daß er mit Enthusiasmus darauf einging. Er als die geeignetste Person erhielt demzufolge den Auftrag, Marguerites Sinn in dieser Hinsicht zu erforschen und bei einem so feinen Diplomaten wie Anastasius Bemperlein, meinte Sophie, sei es selbstverständlich, daß der entschiedenste Erfolg seine delikate Mission kröne. Marguerite erklärte, daß sie die ihr zugedachte Ehre annehmen werde, sobald sie sich von ihren jetzigen Verhältnissen losgemacht habe. Jetzt fehlte also weiter nichts, als die Entlassung der Demoiselle Marguerite aus ihrem bisherigen Verhältnisse zu bewirken. Das ging zu aller Erstaunen leichter als man erwartet hatte. Der Baronin waren die klugen Augen ihrer Gouvernante schon lange unbequem gewesen, besonders, seitdem in ihrem Hause so mancherlei vor sich ging, was eine scharfe Kritik nicht wohl vertragen konnte. Überdies hatte sie stets den Grundsatz gehabt, mit ihrem Dienstpersonal in bestimmten Intervallen zu wechseln, da sie die Erfahrung gemacht haben wollte, daß »nur neue Besen gut fegten«; und Marguerite war schon weit über die gewöhnliche Zeit in ihrem Hause gewesen. So gab sie ihr denn ohne weiteres den geforderten Abschied und erlaubte sogar, daß sie schon an einem der nächsten Tage in das Haus des Geheimrats übersiedelte, daß Marguerite dabei in Anbetracht der bedeutenden Unbequemlichkeiten, ja offenbaren pekuniären Einbußen, die der Baronin aus ihrem plötzlichen Fortgehen erwüchsen, auf das Gehalt des laufenden Quartals verzichten mußte, verstand sich um so mehr von selbst, als »die junge Person«, wenn sie der Baronin fünf Jahre lang mit unermüdlichem Eifer gedient, doch am Ende nichts weiter getan hatte als »ihre Pflicht und Schuldigkeit«.

So war Marguerite ein Mitglied der Familie des Geheimrats geworden, und es war daher natürlich, daß sie heute abend bei diesem, im engsten Kreise der Familie gefeierten Feste nicht fehlen durfte.

Auch war sie die einzige, die die Kosten der Unterhaltung ohne Mühe bestreiten konnte. Zwar gab sie sich ersichtlich Mühe, dem Ernst des Augenblicks gerecht zu werden und die Gefühle der andern nicht durch unzeitige Lustigkeit zu beleidigen, aber bei ihrer angebotenen Lebhaftigkeit wurde es ihr nicht leicht, lange schweigsam zu sein, wie ein vergnügter Kanarienvogel, dem man das Bauer zugedeckt hat, sobald der erste Schreck vorüber ist, wieder lustig anfängt zu schmettern.

»Aber ich möchte doch um alles in der Welt wissen, wo Bemperlein bleibt«, sagte Sophie, nach der Uhr sehend, »er hatte versprochen, um acht Uhr hier zu sein; jetzt ist es bereits halb zehn.«

»Vielleicht kann uns Fräulein Marguerite Auskunft geben«, sagte der Geheimrat.

»Moi? Pas du tout!« erwiderte Marguerite, froh eine Gelegenheit zum Sprechen zu finden. »Ich nicht habe ihn gesehen seit gestern abend. Ich glaube beinahe, daß er ist krank, denn er sah diese Tage aus sehr aufgeregt.«

»Ich war heute bei ihm«, sagte Franz.

»Nun!« sagte Sophie.

»Ja, denkt euch: Ich habe den seltsamen Menschen gar nicht zu Gesicht bekommen. Er rief durch die verschlossene Tür, er könne mich nicht sehen; er habe eine wichtige Arbeit, von der er keinen Augenblick fort dürfe.«

»Es wird doch nichts passiert sein?« fragte Sophie. »Willst du nicht lieber noch einmal zu ihm gehen, Franz?«

»Recht gern«, sagte Franz, sein Glas leerend und aufstehend.

In demselben Augenblick erschallte aber vom Hausflur her das unterdrückte Gelächter der Mädchen und des Bedienten. Alsbald ging auch die Tür auf, und herein trat eine wunderlich herausgeputzte Gestalt, die sich durch zwei mächtige, an den Schultern angeheftete Gänseflügel, durch einen Bogen in der Hand, nebst obligatem Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken, durch einen Kranz auf dem Kopf unzweifelhaft als Amor präsentierte, wenn auch die Brille nicht ganz zu der diesem Gott charakteristischen Blindheit und der schwarze Anzug zu der klassischen Nacktheit stimmen mochte, in der sich der Sohn der Liebesgöttin fast ausschließlich gefällt.

Diese seltsame Gestalt näherte sich zierlichen Schrittes der Gesellschaft am Kamin, blieb in angemessener Entfernung stehen, verbeugte sich und sprach:

»Hochverehrliches christliches Brautpaar, sehr würdiger christlicher Brautvater und liebwerte Demoiselle!

Ich bin, wie jeder leicht erkennt,
Der große Gott Amour.
Wenn's irgendwo im Herzen brennt,
Dann brennt durch mich es nur.
Wer meinen Köcher rasseln hört,
Der schlägt die Augen nieder;
Der Pfeil, der von dem Bogen fährt,
Durchbohret West' und Mieder.
Und wen so traf ins Herz der Schuß,
Um den ist es geschehn;
Von meiner Kunst, o Publikus,
Sollst du ein Pröbchen sehn.«

Hier nahm Amor mit großer Ostentation einen Pfeil aus dem Köcher und sagte: »Haben Sie keine Angst, meine Herrschaften, die Sehne ist sehr schlaff und die Pfeile haben, wie Sie gefälligst bemerken werden, faustgroße Gummibälle statt der Spitzen.« Darauf legte er den harmlosen Pfeil auf den harmlosen Bogen und schnellte ihn auf Sophie ab, die ihn geschickt mit der Hand auffing und mit komischem Pathos ans Herz drückte. Diese Prozedur wiederholte sich bei Franz mit der Ausnahme, daß dieser den Gummiball an den Kopf bekam. Nachdem Amor also bewiesen, daß er nicht vergeblich drohe, fuhr er fort:

  »Nun ist's den beiden angetan,
Und hin ist ihre Ruh';
Man sieht es ihnen deutlich an:
Es drückt sie wo der Schuh.
Sie ruhen und sie rasten nicht,
Mag's brechen oder biegen,
Bis daß der Pfaffe Amen spricht,
Und sie sich endlich kriegen.
Dann heißt's: Ade, du Elternhaus,
Ich muß nun in die Welt hinaus!
Ade, ade, lieb' Väterlein,
Ade, es muß geschieden sein!
Ade, du traute Freundesschar,
Für die ich Licht und Leben war!
Ade, ihr lieben Leute!
Ihr habt mich nur noch heute;
Wann morgen blinkt der Abendstern,
Dann bin ich viele Meilen fern.«

Diese letzten Verse sprach Amor mit sehr bewegter Stimme. Die Gesichter der Gesellschaft um den Kamin, die im Anfang von Heiterkeit geglänzt hatten, waren nach und nach ernster geworden; von der halboffenen Tür, in der sich die Dienstleute drängten, vernahm man unterdrücktes Schluchzen.

»Trinken Sie ein Glas Bowle, Bemperchen«, sagte Sophie, Amor ein Glas präsentierend.

»Auf Ihr Wohl, Fräulein Sophiechen«, erwiderte Amor, das Glas auf einen Zug leerend. »Nun setzen Sie sich aber wieder, ich bin noch nicht fertig.«

Amor trat jetzt einen Schritt zurück, klapperte mit seinem Köcher, wie, um sich zu überzeugen, daß er sich noch nicht verschossen habe, und sprach darauf also:

            »So schrecklich, wie dies Beispiel zeigt,
Ist Amors grause Macht;
Doch wird's nicht immer ihm so leicht,
Manch' Herz ist streng bewacht;
Es schwärmt der gute Jüngeling –«

Bei diesen Worten blickte Amor anbetungsvoll auf Mademoiselle Marguerite –

    »Sie aber ist ein schnippisch Ding.
Wenn er von seiner Liebe spricht,
So sagt sie: ick versteh' Sie nicht.«

Bei dieser für die Eingeweihten sehr verständlichen Anspielung konnte sich niemand eines Lächelns erwehren, aus dem aber ein lautes Gelächter wurde, als Mademoiselle Marguerite, die von allem, was Amor sagte, kaum ein Wort verstand, aus dem Lachen der anderen aber merkte, daß irgend etwas ganz besonders Witziges gesagt sein müsse, sich zu Sophie wandte und ganz laut fragte: »Qu'est-ce qu'il dit?«

Amor hatte Humor genug, in das Gelächter der anderen mit einzustimmen; aber alsobald fuhr er mit noch größerem Ernst als vorhin fort:

        »Da kommt in allergrößter Eil'
Der Jüngling denn zu mir,
Und fleht: Mit deinem schärfsten Pfeil
Triff's böse Mädchen hier –«

Bei diesen Worten legte Amor die Hand aufs Herz.

          »Damit sie wisse, wie es tut,
Wenn einer liebet treu und gut.
Und ich sodann: Mein feiner Knab',
Dein Flehen rühret mich,
Den schärfsten Pfeil, den ich nur hab',
Ich schieß' ihn ab für dich.
Wen dieser traf ins junge Herz,
Der fühlt gar bald den Liebesschmerz.«

Amor präsentierte einen Pfeil, den er bei den letzten Worten aus dem Köcher genommen hatte. An der Gummikugel war ein Zettel befestigt, auf dem etwas geschrieben stand, was man aus der Entfernung nicht lesen konnte. Er zielte auf Mademoiselle Marguerite und rief mit erhobener Stimme:

            »Wenn das nicht gut für Liebe ist,
Sagt's mir, wenn Ihr was Bess'res wißt.«

Der Pfeil flog vom Bogen, Mademoiselle Marguerite in den Schoß. Amor aber wartete den Erfolg seiner Heldentat nicht ab, sondern wandte den mit Gänseflügeln geschmückten Rücken und eilte, von dem Gelächter der Gesellschaft gefolgt, zur Tür hinaus.

»Was steht auf dem Zettel, Marguerite?«

»Den Zettel müssen Sie zeigen, Mademoiselle!«

»Das versteht sich!«

So riefen Sophie, Franz und der Geheimrat durcheinander. Aber Marguerite hatte kaum einen Blick auf den Zettel geworfen, als ihr ausdrucksvolles Gesicht von dunkler Röte übergossen wurde. Sie riß in aller Eile das Papier ab und warf es in den Kamin; Sophie aber, die dies erwartet hatte, war sofort mit dem Schüreisen bei der Hand und schnellte den Zettel, ehe ihn die Flamme ergreifen konnte, geschickt heraus. Marguerite wollte ihr das Dokument entreißen, Sophie lief damit fort, Marguerite hinterher, während Franz und der Geheimrat sich über die Anstrengungen der kleinen Lacerte, an der schlanken Sophie, der sie kaum bis an die Schultern reichte, hinaufzuspringen, höchlichst ergötzten. Bei ihrer Jagd kamen die jungen Damen in die Nähe der Tür, und da Bemperlein, der sich unterdessen seiner himmlischen Attribute entledigt hatte, gerade hereintrat, so stürzte ihm Marguerite, die ihren Lauf nicht so schnell hemmen konnte, direkt in die Arme.

»Seht Amors heilige Macht!« rief Sophie bei diesem Anblick jubelnd. »Hier, Marguerite, haben Sie Ihren Zettel wieder. Nachdem ich diesen Erfolg gesehen, will ich gar nicht mehr wissen, was auf dem Rezept gestanden hat.«

Bei diesen Worten überreichte sie mit einem tiefen Knicks Marguerite den Zettel, die ihn eiligst im Busen verbarg.

»Sie haben Ihre Sache brav gemacht, Bemperchen«, sagte die übermütige junge Dame sodann, »ich muß Sie notwendig auch umarmen.«

Damit nahm sie den hocherrötenden Bemperlein ohne weiteres bei den Schultern und gab ihm einen herzlichen Kuß.

»Ich rufe Sie zum Zeugen, Herr Geheimrat«, rief Bemperlein, »daß die Damen sich um mich reißen, ohne daß ich ihnen die geringsten Avancen mache, und daß, wenn Franz mich fordert, ich ihm keine Satisfaktion zu geben brauche.«

Durch Bemperlein war ein anderer Geist in die Gesellschaft gekommen und Scherz und Lachen die Ordnung des Abends geworden. Die gute Laune des kleinen Kreises stieg in demselben Maße, als das Niveau in der Bowle sank. Nur Marguerite war stiller als vorher, indessen man hatte den Scherz weit genug getrieben und ließ die kleine Lacerte in Ruh; achtete auch nicht weiter darauf, wenn sie den Platz am Kamin verließ und in dem großen Zimmer auf und ab gehend, ihren Gedanken nachhing; ja Franz, Sophie und der Geheimrat, die in ein wichtiges Familiengespräch geraten waren, bemerkten nicht, daß Bemperlein geräuschlos aufgestanden war, sich Marguerite zugesellt und mit ihr ein leises Gespräch angeknüpft hatte, das bald so interessant wurde, daß sie notwendig das tiefe Erkerfenster aufsuchen mußten, wo sie vor den Blicken der Gesellschaft am Kamin durch die breiten Falten des schweren Vorhangs gänzlich verborgen waren. Indessen war das Gewebe dieses Vorhangs nicht dicht genug, auch die Schallwellen vollständig zu brechen, und so geschah es denn, daß nach Ablauf von ungefähr fünf Minuten die am Kamine durch ein Geräusch erschreckt wurden, das aus dem Erker kam und unmöglich durch etwas anderes hervorgebracht sein konnte, als dadurch, daß die Lippen zweier Menschen längere Zeit aufeinander geruht und sich plötzlich wieder getrennt hatten.

Mit der Entstehung dieses höchst eigentümlichen Geräusches hing es aber so zusammen:

Als das promenierende Paar – ganz zufällig – in den dunklen Erker geraten war, hatte Mademoiselle Marguerite sogleich wieder umkehren wollen, der löwenkühne Bemperlein aber hatte ihre Hand ergriffen und im eindringlichen Tone gesagt:

»Haben Sie gelesen, was auf dem Zettel stand?«

Nun hatte Marguerite es allerdings gelesen, aber sie wäre keine kleine Lacerte gewesen, wenn sie auf eine so direkte Frage nicht mit: »Non, Monsieur!« hätte antworten sollen.

»Erlauben Sie denn, daß ich es Ihnen sage?«

Die kleine Lacerte fing hierauf ein ganz klein wenig an zu zittern, ohne weder ja noch nein zu sagen; Herr Anastasius Bemperlein aber, der mit großem Scharfsinn das Zittern und das Schweigen zu seinen Gunsten auslegte, schlang seinen Arm um die Taille der kleinen Lacerte und flüsterte ihr ins Ohr:

»Mademoiselle Marguerite Martin! Je vous aime de tout mon cœur.«

Da das Zittern infolge dieser loyalen Erklärung nur noch zunahm, ohne daß von seiten der Dame irgendein Versuch gemacht wurde, sich den Armen des Ritters zu entziehen, so sagte dieser noch leiser und dringender: »Marguerite, antworten Sie mir: Lieben Sie mich? Ja oder nein?«

Da Marguerite auf diese kurze Frage mit einem kaum hörbaren: »Oui!« geantwortet hatte, so blieb einem in Liebesaffären so ausnehmend bewanderten Manne wie Herrn Anastasius Bemperlein offenbar nichts anderes übrig, als die Dame noch fester in seine Arme zu schließen und ihr einen schallenden Kuß auf die nicht widerstrebenden Lippen zu drücken.

»Oh, mon Dieu!« rief die kleine Lacerte, erschrocken aus des Ritters Arm schlüpfend.

»Sei nur ruhig«, erwiderte der Ritter, »sie müssen es ja doch erfahren.«

Sprach's, faßte die kleine Dame bei der Hand, schlug den Vorhang zurück, trat, wie der Edelknappe im Taucher, »sanft und keck« auf die Freunde zu und sagte:

»Meine Freunde, ich habe das unausprechliche Vergnügen, Ihnen Fräulein Marguerite Martin als meine liebe Braut vorzustellen.«

Da Bemperlein unter dem Siegel der Verschwiegenheit Sophie in sein Geheimnis eingeweiht, und diese es unter demselben Siegel an Franz und den Vater weitergegeben hatte, so konnte, besonders nach der Amorszene und nun gar nach dem Kuß im Erker, durch diese Nachricht eigentlich niemand so recht gründlich überrascht werden. Indessen waren die Glückwünsche von seiten der Freunde darum nicht weniger warm. Die Männer schüttelten sich herzlich die Hände. Sophie küßte Marguerite mit einer bei ihr sehr ungewöhnlichen Rührung, und es dauerte eine geraume Zeit, bis die hochgehenden Gefühlswogen sich wieder zu einem klaren Spiegel ebneten.

»Wir müssen ein solches Ereignis auch äußerlich durch eine entsprechende Feierlichkeit dokumentieren«, sagte der Geheimrat, griff nach der Klingel und hieß den eintretenden Diener, die letzte von den zwölf Flaschen Johannisberger Kabinett bringen, die er alljährlich von einem Fürsten, den er durch seine Kunst vom Tode errettet hatte, zum Geschenk erhielt. Und als der edle Wein in den Gläsern funkelte, sprach der Geheimrat:

»Meine Lieben! In froher Stunde spricht sich's gut von vergangenem Leid, und so laßt denn auch mich das heiter schöne Bild des Augenblicks in einen dunklen Rahmen fassen, aus dem seine glänzenden Farben noch um soviel heller strahlen werden. – Ich habe in diesen letzten Leidenstagen, wo ich, dessen Pflicht und Amt es ist, zu helfen, wo ich kann, selbst so ganz hilflos auf dem Krankenbette lag, oft an ein Wort denken müssen, ein klagendes, tränenreiches Wort, das die von Kriegsdiensten überbürdeten römischen Plebejer einst ihren stolzen irdischen Göttern, den Patriziern, zuriefen: Sine missione nascimur! zu deutsch, ihr Mädchen: ›Ohne Urlaub werden wir geboren‹. Ob unsere Kräfte in der endlosen Reihe der Kriege, die Ihr im Namen des Vaterlandes zu Euerm Nutz und Frommen führt, aufgerieben werden, ob unsere Äcker brachliegen und unsere Weiber und Kinder sterben und verderben – Euch kümmert's nicht. Zu den Waffen, zu den Waffen! tönt Euer Ruf jahraus, jahrein; und wir, wir müssen fronden jahraus, jahrein: Sine missione nascimur.«

Der Geheimrat tat einen tiefen Zug aus seinem Glase und fuhr mit bewegter Stimme fort:

»Auch wir, so dachte ich weiter, auch wir Kinder des neunzehnten Jahrhunderts werden ohne Urlaub geboren. Die ungeheuren Aufgaben, die uns gestellt sind in der Wissenschaft, in der Politik, auf jedem Gebiete menschlicher Tätigkeit, nehmen von frühester Jugend auf unsere Kräfte in eine erdrückende Fronde. Zu den Waffen, zu den Waffen! – so ergeht auch an uns der ewige Ruf, ob unsere Waffen nun Feder oder Pinsel, Pflug oder Hammer, Zirkel oder Lanzette sind. Und die Arbeit, die unerbittliche, gebieterische Arbeit, was fragt sie nach dem Arbeiter? Ob seine Schläfen im Fieber pochen, ob sein Hirn bis zum Wahnsinn überreizt ist, ob seine Glieder vor Ermattung zittern – sie kümmert es nicht. Sie lohnt ihm mit Armut, Krankheit und Not und verlangt von ihm, dem Gemißhandelten, dem Geächteten die Taten eines Herkules. Ja meine Freunde, auch wir sind Proletarier im Frondienst der Arbeit wie jene römischen Proletarier im Frondienst des Krieges und können mit ihnen klagen und sagen: Sine missione nascimur!

Und dennoch, fragte ich mich: Wie ist es möglich, daß wir, Schwächlinge und Epigonen, wie wir sind, Taten vollbringen, neben denen sich die des Herkules und anderer Heroen wie die Spielereien von Pygmäen ausnehmen? Daß unsere wegen ihrer Schlaffheit und Tatlosigkeit vielgescholtene Zeit trotz alledem und alledem ein kreißender Berg ist, der nicht lächerliche Mäuse, sondern schnaubende Dampfrosse, Riesenwerke der Industrie, Triumphe der Erfindsamkeit aller Art ohne Unterlaß gebiert? Nur dadurch, meine Freunde, daß sich das Verhältnis eines Zeitalters, wo der Kampf und die Arbeit der Menschheit von einzelnen Heroen getan wurde, während die große Masse als ein stumpfsinniges, tatenloses Gesindel schreiend hinterherzog, gerade umgekehrt hat. Heutzutage gilt der einzelne, und wäre er noch so bedeutend, wenig; die ganze Kraft liegt in der Masse, die in dicht geschlossener Kolonne, langsam aber unaufhaltsam auf der Bahn des Fortschritts weiterdrängt. Das ist noch nicht vielen klargeworden; ja Herrscher, Fürsten und Fürstenknechte, die eine dunkle Ahnung von der Sache haben, möchten in ihrem brutalen Egoismus und ihrer frivolen Eitelkeit die alte Zeit wieder heraufführen, wo der einzelne alles und die Menge nichts war; aber es hilft ihnen wenig. Mit dem todesmutigen Instinkt der Wanderratte ausgerüstet, marschiert die Fortschrittsarmee in langer, unabsehbarer Linie heran, Schulter an Schulter, der Hintermann in den Fußtapfen des Vordermanns, und wenn hier oder da eine Lücke entsteht, so schließt sie sich auch in demselben Momente wieder.

Und dieser Gedanke, meine Freunde, den ich mir so recht klarzumachen suchte, hatte etwas wunderbar Tröstendes für mich. Ich dachte: Was ist daran gelegen, ob du heute oder morgen zusammenbrichst; hinter dir marschiert ein jüngerer, stärkerer Krieger, der sofort über dich weg an deine Stelle treten und mit denselben Waffen, die deiner ermattenden Hand entfielen, Größeres vollbringen wird denn du.«

Bei diesen Worten drückte der Geheimrat innig die Hand seines Schwiegersohnes; Sophie aber, die schon lange mit den Tränen gekämpft hatte, warf sich schluchzend in ihres Vaters Arme.

»Nein, nein, mein Kind«, sagte dieser, ihr das weiche Haar liebevoll streichelnd, »du mußt nicht weinen; ich wollte dir und euch allen ja eben beweisen, wie wir nicht weinen und klagen, sondern uns freuen müssen, daß wir in den andern und mit den andern unüberwindlich und unsterblich sind. Ja, es ist ein schönes und wahres Wort, das ich noch heute in Freiligraths Glaubensbekenntnis las: Am Baum der Menschheit drängt sich Blüt' an Blüte'. Ich sehe hier um mich herum alles knospen und blühen, einen ganzen Menschenfrühling im kleinen. Wie lang' wird es dauern, und diese Knospen und Blüten werden zu herrlichen Blumen und Früchten reifen. Ob ich's erlebe? Ich wünsche es, ich hoffe es; aber selbst, wenn es nicht sein sollte, wenn es mir nicht vergönnt wäre, eure Kinder um meine Knie spielen zu sehen – nun denn, ihr Lieben: Leid will Freud' und Freud' will Leid haben. Wo Blüte sich an Blüte drängen soll, da muß das dürre Holz herausgehauen und in den Ofen geworfen werden, und wenn's geschieden sein muß, sei's, wenn auch nicht fröhlich, doch mutig geschieden.«

Während der Geheimrat sprach, hatte man vor den Fenstern auf der Straße ein dumpfes Geräusch von Tritten und das verworrene Gemurmel gedämpfter Stimmen gehört; dann war es wieder lautlos still geworden, und als der Geheimrat das letzte Wort sprach, da erschallte in den prachtvollen Tönen eines gewaltigen Männerchors, leise wie Frühlingswehen und doch mächtig wie Donnersturm:

»Es ist bestimmt in Gottes Rat. –«

Die im Zimmer ergriff es, wie wenn eine überirdische Stimme zu ihnen spräche. Sophie lehnte schluchzend ihr Haupt an ihres Vaters Brust; in den Augen der Männer standen die hellen Tränen; Marguerite, obgleich sie kein Wort verstand, war so ergriffen, daß sie ihr Taschentuch vor das Gesicht drückte und laut weinte.

Dann erhoben sich alle und traten in den dunklen Erker. Unter dem Fenster auf der sehr breiten Straße in einem weiten, von hellen Laternen bezeichneten Halbkreis standen die Sänger – Männer des Handwerkervereins, den der Geheimrat vor Jahren gestiftet hatte und dessen Präsident Franz in den letzten Wochen gewesen war; weiterhin eine dunkle Menschenmenge, Kopf an Kopf, Männer und Frauen, Bürger, Studenten, Arbeiter – lautlos, regungslos, wie in einer Kirche.

Und mächtiger fluteten die Toneswellen:

            »Nur mußt du mich auch recht versteh'n. –«

Die Töne waren verhallt; die Laternen wurden ausgelöscht: still, wie sie gekommen war, entfernte sich die Menge. Wieder war es dunkel auf der Straße, aber in den Herzen der Menschen, die da oben im Erker standen und sich innig umfangen hielten, war es hell wie an einem wonnigen Maienmorgen.


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