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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Franz hatte als einer der Vertreter des Geheimrats in seiner ärztlichen Praxis – einen andern Teil hatte ein Kollege übernommen – während der nächsten Wochen vollauf zu tun. Schwerer aber als seine Berufsgeschäfte lastete auf ihm die Ordnung der Geschäftsverhältnisse seines Schwiegervaters, die äußerst verwickelten Natur waren. Es stellte sich nach und nach heraus, daß die Schulden des Geheimrates keineswegs so bedeutend sein würden, wenn es möglich wäre, das Geld, das er überall ausstehen hatte, wiederzubekommen. Aber darauf war in den wenigsten Fällen zu rechnen. Die Schuldner des Geheimrats wohnten meistens in Dachkammern und Kellerwohnungen; es waren Krüppel und Lahme, mit Gebrechen aller Art Behaftete, sehr häufig Waisen und Witwen; nicht minder häufig aber auch schlechte Subjekte, die die wohlbekannte Liberalität des Geheimrats auf schnöde Weise gemißbraucht hatten. Welche unerhörte und auch so vergebliche Anstrengungen hatte dieser Mann gemacht, das Danaidenfaß des Proletariats zu füllen, mit welchem Eifer sich zum armen Manne gemacht, um die Armut rings um sich her zu vertilgen, dem fabelhaften Pelikane gleich, der seine Jungen mit dem eigenen Blute ätzt! In welche Verlegenheiten hatte er sich gestürzt, um andere aus der Verlegenheit zu reißen, wie oft sich um den Schlaf gebracht, damit sein Nachbar ruhig schlafen könne! Um anderer Leute Schulden zu bezahlen, sich selbst zu Wucherzinsen Geld geborgt, um anderen Leuten in ihrem Geschäft weiterzuhelfen, sich in Spekulationen eingelassen, von denen er nichts verstand, die aber, wenn man den Unternehmern glaubte, einschlagen und hundertfache Prozente bringen mußten und die natürlich nie einschlugen und dem leichtgläubigen, gutmütigen Geheimrat neue und immer neue Verbindlichkeiten aufluden.

In diesem Wust von mehr oder weniger unklaren Verhältnissen sich zurechtzufinden, und in jedem Falle zu entscheiden, was für den Augenblick und in Zukunft dabei zu tun war, hätte einem gewiegten Advokaten schwerfallen müssen, geschweige denn Franz, der in solchen Geschäften natürlich wenig bewandert war. Aber die Liebe verlieh ihm hundertfache Kraft und schärfte sein natürliches Zartgefühl in dem eigentümlichen Verhältnis zu seinem Schwiegervater, wo er fortwährend zu ermutigen, zu beschwichtigen, zu überreden hatte. »Würde ich mich doch keinen Augenblick besinnen«, sagte er dann wohl, »Ihnen ins Wasser nachzuspringen, wenn ich Sie in der Gefahr des Ertrinkens sähe; und würden Sie und würde doch jeder das alles in allem natürlich finden. Jetzt, wo Sie in einer Gefahr sind, die für manche etwas viel Gräßlicheres hat als die Todesgefahr – denn ihr zu entrinnen, stürzen sich viele unbedenklich in den Tod – riskiere ich für Sie, nicht etwa mein Leben, das Sie mir nicht wieder schaffen – nein, nur ein paar tausend Taler, die Sie mir, wenn Sie gesund werden, wozu ja jetzt die schönste Hoffnung ist, jederzeit zurückerstatten können, und an denen, wenn sie wirklich verlorengingen, auch weiter nichts gelegen ist.«

So suchte Franz dem Schwiegervater über manche trübe Stunde wegzuhelfen, in der das Gefühl der Krankheit und das Bewußtsein seiner Lage gar zu schwer auf seiner Seele lastete. Franz hoffte, daß die vortreffliche Natur des Mannes das übrige tun würde. In der Tat hatte der Geheimrat kaum die Überzeugung gewonnen, daß – dank der umsichtigen, energischen Hilfe seines Schwiegersohnes – auch wenn er sogleich sterben sollte, auf seinem Namen keine Unehre haftenbleiben würde, als er sich aller Sterbegedanken entschlug und an nichts dachte als daran, sobald als möglich wieder gesund zu werden. »Nicht ganz gesund«, sagte er, »denn das werde ich nicht wieder, aber halb gesund oder zwei Drittel, gerade gesund genug, um das Heu, das jetzt naß auf dem Schwaden liegt, trocken auf den Boden bringen zu können. Ich fühl' es jetzt, ich habe noch ein paar Abendstunden vor mir; ich will sie gut benutzen. Sie sollen mir, lieber Franz, außer Ihrem baren Gelde nicht auch noch Ihre Zukunft zum Opfer bringen.«

Gerade in dieser Zeit geschah es, daß ein berühmter Universitätslehrer in der Residenz durch eine Monographie über den Typhus, die Franz in diesem Sommer herausgegeben hatte, an einen seiner begabtesten Schüler erinnert wurde. Er schrieb an Franz, um ihm zu diesem Werke zu gratulieren, das von seinem durchdringenden Scharfsinn ebenso rühmliches Zeugnis ablege wie von seiner bei einem so jungen Manne staunenswürdigen Gelehrsamkeit. – »Aber«, fuhr der Brief fort, »indem ich Ihnen im Namen der Wissenschaft für Ihr Buch danke, erlaube ich mir zugleich, Ihnen einen Vorschlag zu machen, den ich in ebenso schleunige wie ernste Erwägung zu ziehen bitte. Zu Ostern wird die Stelle des ersten Assistenzarztes an dem hiesigen großen Krankenhaus frei. Ich wüßte unter unseren jüngeren Gelehrten keinen, dem ich sie so gern anvertrauen würde wie Ihnen.« Der Gelehrte verbreitete sich sodann weiter über die Vorteile, die für Franz aus dieser Stelle erwachsen würden, und schloß mit den Worten: »Sie sehen, es bietet sich Ihnen hier eine Aussicht, die günstiger nicht gedacht werden kann. Ich bin, wie Sie wissen, ein sehr nüchterner Beobachter der Menschen und Dinge; aber wie die Verhältnisse an unserer Universität sind, kann es nicht ausbleiben, daß Sie in wenigen Jahren zum ordentlichen Professor avancieren. Ich bin überzeugt, daß mein Freund Robran, den ich bestens zu grüßen bitte, die Sache ebenso ansehen wird. Sprechen Sie mit ihm darüber und antworten Sie mir möglichst bald.«

Franz hatte geantwortet – aber ohne mit seinem Schwiegervater gesprochen zu haben. Er hatte das Anerbieten, dessen Vorteile ihm natürlich nicht entgangen waren, abgelehnt. Die Karriere, in die man ihn hineinhaben wollte, war, obgleich sie dem Manne der Wissenschaft die besten Chancen bot und auch schließlich den weltlichen Ehrgeiz glänzend zu befriedigen versprach, doch für die ersten Jahre voraussichtlich nicht nur sehr wenig lukrativ, sondern erheischte ein unabhängiges, wenn auch kleines Vermögen, das Franz – seit einigen Tagen nicht mehr besaß. Er hatte sich durch seine Großmut in die Lage gebracht, in einer Zeit, die er notwendig noch zu seiner wissenschaftlichen Fortbildung bedurfte, auf den Gelderwerb bedacht sein zu müssen. Und zu diesem Zwecke war Sundin und die Situation, in der er sich hier als Schwiegersohn des gesuchtesten Arztes befand, ausnehmend geeignet. Deshalb – fahr wohl du glänzende Spiegelung von einem in der Fülle geistiger Arbeit und geistigen Genusses mächtig dahinrauschenden Leben!

»Weg du Traum, so hold du bist,
Hier auch Lieb' und Leben ist.«

So tröstete sich Franz, während er den geliebten Menschen seinen Ehrgeiz, seine Hoffnungen zum Opfer brachte, und seine größte Sorge war nun die, daß diese geliebten Menschen, vor allem seine Braut, nicht etwa von diesem Opfer erführen.

Diese Sorge schien indessen unnötig. Sophie erklärte sich die Wolken, die sich auf Franz' Stirn in Augenblicken lagerten, wo er sich unbeobachtet glaubte, einfach aus der Überlast seiner ärztlichen Geschäfte, und seine häufigen langen Zusammenkünfte mit dem Vater aus demselben Grunde. Seitdem der Zustand des Vaters keine direkte Besorgnis mehr einflößte, war der glückliche leichte Sinn Sophiens wieder in seine Rechte getreten. Sie besorgte emsig ihre Aussteuer und klagte gegen Franz in komischer Weise über den Wirrwarr, der durch die gleichzeitige Besorgung so vieler und so verschiedenartiger Dinge in ihrem Kopf hervorgebracht würde. Wie sehr würde die frohe Laune, deren sie sich in dieser Zeit erfreute, gestört worden sein, wo sie sich wie ein singendes, zwitscherndes, flatterndes Vögelchen ihr Nest zusammentrug, wenn sie die Verhandlungen zwischen dem Vater und Franz mit angehört; wenn sie erfahren hätte, daß das Geld, mit dem sie heiteren Mutes die langen Rechnungen bezahlte, aus Franz' Kasse floß! Über den Kummer, bis zum Termin ihrer Hochzeit, auf dessen Innehaltung Franz mit einer bei ihm ganz ungewöhnlichen Hartnäckigkeit bestand, nicht fertig zu werden, hatte sie sich mittlerweile getröstet; ja im Grunde hatte sie das Unglück, mit einigen Dutzend noch nicht gesäumter oder gezeichneter Handtücher, Tischtücher, Servietten mehr oder weniger ihre Wirtschaft anzufangen, niemals für ein so gar großes gehalten.

So war denn für Sophie in dieser Sturm- und Drangperiode nichts empfindlicher, als daß der trauliche Zirkel, der sich allabendlich um den Kamin des Wohnzimmers zu versammeln pflegte, so gut wie gestört war. Der Vater mußte, obgleich er jetzt jeden Tag länger aufblieb, doch sehr früh sein Lager aufsuchen; Franz war oft bis tief in die Nacht hinein in der Stadt oder hatte in seiner Wohnung zu arbeiten; auch der Dritte im Bunde, der alte Kandidat, wie er sich selber nannte, Bemperlein ließ sich seit einiger Zeit nicht mehr sehen, so daß Sophie sich endlich selbst auf den Weg machte, um ihn in seiner Wohnung aufzusuchen, da sie nicht anders glaubte, als er sei krank und Franz habe es ihr aus übertriebener Zärtlichkeit verschwiegen. Aber sie fand den alten Kandidaten sehr fleißig und beschäftigt, aber offenbar nicht lebensgefährlich krank. Bemperlein entschuldigte sich mit seinen Arbeiten – wie Sophie wohl glauben könne, daß er etwas übelgenommen habe! Er, etwas übelnehmen! Und Sophien übelnehmen! – es sei wirklich nur die Arbeit schuld und zum Beweise werde er noch heute abend zur gewöhnlichen Zeit kommen und die gewöhnliche Zeit dableiben.

Sophiens blaue Augen konnten, obgleich sie ein wenig kurzsichtig waren, in der Nähe doch recht scharf sehen, und so war ihnen ein gewisser Schleier von Verlegenheit, der über Bemperleins ehrlichem Gesicht hing, während er auf die langweilige Arbeit schimpfte, nicht entgangen. Als nun die junge Dame langsam nach Haus schritt und darüber nachdachte, was wohl von Bemperleins Fortbleiben der eigentliche Grund sein möchte, stieß sie, als sie um eine Straßenecke bog, beinahe an einen Herrn, der ihr sehr raschen Schritts entgegenkam.

»Pardon!« sagte der Herr, an seinen Hut greifend und weitereilend. Es war Oswald Stein. Er hatte Sophie offenbar nicht erkannt.

Diese unerwartete Begegnung gab Sophiens Gedanken plötzlich eine andere Richtung. Es fiel ihr ein, daß Bemperlein nicht wieder in ihrem Hause gewesen war, seitdem er Oswald, der eben mit Helenen fortgehen wollte, dort getroffen; daß die Begegnung der beiden Herren sehr kalt, befremdend kalt gewesen war, und daß Bemperlein, über sein Verhältnis mit Oswald gefragt, ausweichend geantwortet hatte. Hatte Oswald, der seitdem einige Abende auf kürzere Zeit, einmal zusammen mit Helene Grenwitz, dagewesen war, Bemperlein verscheucht? War Bemperlein eifersüchtig?

Da Sophie von Bemperleins früherem Verhältnis zu Oswald nichts wußte, so war es erklärlich, daß sie trotz ihres Scharfsinns in ihren Vermutungen jetzt so weit am Ziel vorbeischoß. Die Wahrheit lag in der Tat ganz woanders.

Wenn Anastasius Bemperlein jemand, den er einmal hochgeschätzt und innig geliebt hatte, nicht mehr die Hand zum Gruß reichen mochte, so konnte man versichert sein, daß in die Milch seiner Denkungsart ein sehr starkes Gift geträufelt war. Anastasius Bemperlein hatte Oswald Stein ganz vertraut. Er hatte ohne Furcht das Glück und das Leben geliebter Menschen in seiner Hand gesehen. Er hatte all seine schweren Bedenken gegen eine Verbindung bekämpft, die so rasch geschlossen, die auf der so unsicheren Basis gänzlich verschiedener sozialer Stellungen ruhte. Er hatte sich gesagt: Das alles sei ja eitel Tand im Vergleich mit dem unschätzbaren Wert wahrer Liebe. Ist doch die Liebe stärker als Glaube und Hoffnung; wie sollte sie nicht mächtiger sein als bornierte Vorurteile? – Er war schließlich dahin gelangt, in der Vereinigung Oswalds und Melittas einen Sieg der reinen Menschlichkeit über die Barbarei der Zivilisation, einen Triumph der Wahrheit über die Liebe zu erblicken.

Aber auch nur auf dieser sittlichen Höhe war das Verhältnis gerechtfertigt und möglich. Sank einer der beiden unter das Niveau, so waren beide verloren. Bemperlein kannte Frau von Berkow seit sieben Jahren; er wußte, daß ihr Herz gut und treu war; Bemperlein kannte Oswald seit ebensoviel Wochen, und er glaubte, daß Oswald ihrer wert sei. Er glaubte es, weil – er mußte, weil ihm ein Zweifel an dem Geliebten seiner vielgeliebten Herrin ein Frevel schien.

Und doch hatte sich dieser Zweifel an ihn herangeschlichen, langsam, leise, wie sich im Traum ein greuliches Ungeheuer, dem wir vergebens zu entrinnen suchen, an uns heranwälzt. Er hatte diesen Zweifel bekämpft, bis es nicht mehr länger möglich war. Melitta war von ihrer zweiten Reise nach Fichtenau, zu der Bemperlein vergeblich seine Begleitung angeboten hatte, zurückgekehrt; aber, nachdem sie sich eine Stunde in Grünwald aufgehalten, sogleich mit Julius nach Berkow weitergereist, ohne nach Bemperlein geschickt zu haben. Bemperlein erfuhr, daß sie dagewesen, erst durch den alten Baumann, der, Julius' Sachen zu ordnen und andere Kommissionen auszurichten, in der Stadt zurückgeblieben war. Bemperlein hatte mit dem alten Mann niemals über Oswald gesprochen. Diesmal fing jener selbst davon an. Er erzählte, daß Herr Stein zu gleicher Zeit mit ihnen in Fichtenau gewesen, aber, trotzdem er vom Kellner der gnädigen Frau Anwesenheit erfahren, ohne sich ihr vorzustellen, abgereist war. Hier schwieg er, augenscheinlich, um zu hören, wie Bemperlein diese Nachricht aufnehmen würde. Als Bemperlein aber nichts weiter, als: So, so! – in der Tat! darauf erwiderte, vermochte der Alte nicht länger an sich zu halten und schüttete sein ganzes volles Herz und damit die volle Schale seines Zornes über Oswald aus.

Er habe dem Musjö vom ersten Augenblicke an nicht über den Weg getraut, und nun sei es ja sonnenklar, daß der schlechte Mensch die arme gnädige Frau schändlich betrogen habe. Überdies habe er, Jakob Baumann, mit der gnädigen Frau gesprochen, in aller Ehrerbietung, denn er sei nur ein Dienstmann und kenne seine Stellung, aber auch mit allem Ernst, denn er habe sie als Kind auf den Armen getragen und sie immer väterlich geliebt, und sie habe ihm gebeichtet, wie sie's noch stets bei solchen und ähnlichen Gelegenheiten getan, nicht ganz und nicht halb, aber für ihn, der sie so genau kenne wie die Fläche seiner Hand, gerade genug. Und da habe er, Jakob Baumann, großes Verlangen gehabt, den Musjö, der seiner gnädigen Frau so mitgespielt, niederzuschießen wie einen tollen Hund, und es habe wenig daran gefehlt, so hätte er es auch getan, »einmal in der Nacht auf der Heide zwischen Grenwitz und Faschwitz«. Aber jetzt danke er doch Gott, der seinen Arm zurückgehalten und ihm dies Verbrechen erspart habe, um so mehr, »als er es nicht hat geschehen lassen, daß die Geschichte der armen gnädigen Frau das Herz brach, sondern ihr die Augen aufgetan und ihr den Weg gezeigt hat, auf dem allein für sie auf Erden Heil zu finden ist«. Welches dieser Weg sei, darüber hatte sich der alte Mann nicht weiter ausgelassen, sondern war aufgestanden und, als wolle er alle weiteren Fragen unmöglich machen, schnell zum Zimmer hinausmarschiert.

Dies Gespräch, das seine schlimmsten Befürchtungen bestätigte, hatte Bemperlein tief ergriffen, und es hatte den peinlichsten Eindruck auf ihn gemacht, als er, noch voll von diesen Empfindungen, zu Robrans kam und der erste, der ihm dort entgegentrat – Oswald war.

Ja, diese Begegnung hatte ihn so peinlich berührt, und eine mögliche Wiederholung dünkte ihn so abscheulich, daß er ganze acht Tage brauchte, sich von diesem Schrecken zu erholen, und wer weiß, wie lange er noch gebraucht haben würde, wenn Sophie nicht gekommen wäre und seiner Unentschlossenheit ein Ende gemacht hätte. Und doch hatte ihn in diesen acht Tagen so nach seiner Freundin verlangt!

Glücklicherweise traf er Sophie dieses Mal allein, als er nach einer Stunde im Wohnzimmer erschien. Franz war eben dagewesen und hatte versprochen, später wiederzukommen. Es fiel Sophie auf, daß Bemperlein mehrmals fragte: »Aber wir werden doch sonst keinen Besuch haben?« Und sie brachte diese Frage natürlich mit den Vermutungen, die sie über Bemperleins Wegbleiben angestellt hatte, in Verbindung. So sagte sie denn, nachdem sie Bemperlein, der mit dem Schüreisen unablässig in den Kohlen rührte, eine Zeitlang schweigend beobachtet hatte:

»Nicht wahr, Bemperchen, der eigentliche Grund, weshalb Sie acht Tage lang nicht gekommen sind, ist, weil Sie Oswald Stein hier zu begegnen fürchteten?«

»Wer sagte Ihnen das?« fragte Bemperlein, erschrocken in seiner Beschäftigung innehaltend.

»Eine Frage ist keine Antwort«, erwiderte Sophie. »Nur heraus mit der Sprache, Bemperchen! Geheimniskrämerei ist im Verkehr mit so klugen Leuten wie ich ein schlecht rentierendes Geschäft. Ich weiß alles.«

»Was wissen Sie?« rief Bemperlein in großer Aufregung von seinem Stuhl in die Höhe fahrend.

»Aber, Bemperchen!« sagte Sophie. »Wie können Sie nur so wenig Rücksicht auf meine Nerven nehmen! Es wird einem ja ganz unheimlich, wenn man Sie mit dem glühenden Eisen in der Hand dastehen sieht wie den Mann bei Shakespeare. Beruhigen Sie sich nur wieder! Ich weiß gar nichts. Aber Sie würden mir in der Tat einen Gefallen tun, wenn – aber erst setzen Sie sich einmal wieder und stellen den Schürer aus der Hand! So! Wenn Sie mir in aller Ruhe und Freundschaft sagten, was Sie eigentlich haben, denn je länger ich Sie betrachte, desto veränderter kommen Sie mir vor.«

»Fräulein Sophie«, erwiderte Bemperlein, »Sie wissen, man kann selbst gegen seine vertrautesten Freunde – und ich habe zu niemand in der weiten Welt größeres Vertrauen als zu Ihnen – nicht immer ganz offen sein, weil unsere Geheimnisse in vielen Fällen nicht bloß unsere Geheimnisse, sondern auch die anderer sind, und insofern von uns heilig gehalten werden müssen.«

»Aber, Bemperchen«, sagte Sophie, »Sie können doch unmöglich glauben, daß ich mich in Ihre Geheimnisse stehlen will! Ich bin weder so unbescheiden noch so neugierig. Lassen wir die Sache ruhen und sprechen wir von was anderem!«

»Nein, nein«, rief Bemperlein eifrig, »lassen Sie uns davon sprechen! Sie glauben nicht, wie ich mich danach gesehnt habe, mit Ihnen über – über gewisse Dinge – gewisse Personen – die –«

Herr Bemperlein hatte schon wieder das noch nicht erkältete Schüreisen ergriffen und störte emsiger als je in den glühenden Kohlen. Sophie sah diesem seltsamen Treiben kopfschüttelnd zu. Es kam ihr flüchtig der Gedanke, Bemperlein könnte sich bei der Arbeit übermäßig angestrengt und sein Kopf infolgedessen etwas gelitten haben.

»Was mein Nichtkommen betrifft«, fuhr Bemperlein plötzlich fort, »so haben Sie darin ganz recht gehabt. Ich bin weggeblieben, weil ich mit Oswald Stein nicht wieder zusammentreffen wollte.«

»Aber«, sagte Sophie, »Franz hat mir doch gesagt, daß Sie und Stein sehr gute Freunde gewesen wären. Wodurch seid ihr denn auseinandergekommen?«

»Wodurch?« antwortete Bemperlein. »Ja, Fräulein Sophie, das ist es ja eben, was ich Ihnen so gern sagen möchte und doch nicht sagen darf. Würden Sie mit jemand umgehen, oder vielmehr, würden Sie nicht jemand auf alle Weise auszuweichen suchen, der einen Dritten, den Sie ebensosehr lieben wie verehren, tödlich beleidigt hat?«

»Gewiß«, sagte Sophie, »denn dann hätte er ja mich selbst beleidigt. Aber sind Sie auch gewiß, daß die Sache sich wirklich so verhält? Haben Sie auch beide Teile gehört? Was mich betrifft, so bin ich eben nicht sehr entzückt von Herrn Stein, oder offen gesagt, er mißfällt mir desto mehr, je öfter ich ihn sehe; aber Franz, der sonst so klug ist und die Menschen so durchschaut, schwärmt doch förmlich für ihn. Wie wäre das möglich, wenn Stein ein schlechter Mensch wäre?«

»Ich habe nicht gesagt, daß er schlecht ist«, erwiderte Bemperlein, eine große Kohle bearbeitend, »schlecht ist überhaupt ein relativer Begriff; und was ich schlecht gehandelt nenne, nennt Herr Stein vielleicht nur leichtsinnig oder cavalièrement gehandelt oder dergleichen. Ich nenne aber schlecht gehandelt, wenn einer –« Hier unterbrach sich Bemperlein und hieb wiederum auf die große Kohle los.

»Wie würden Sie es zum Beispiel nennen – ich spreche hier nicht von Herrn Stein –, wenn einer einem armen, abhängigen verwaisten, hilflosen Mädchen, das niemand, niemand auf der weiten Welt hat, der es schützen könnte und würde, so lange von Liebe vorschwatzt, bis das Mädchen an diese Liebe glaubt, sie zu heiraten verspricht mit allen heiligen Eiden; und sie dann hernach an einen Wüstling verkauft und verrät, verkaufen, verraten will – oh, es ist schändlich, schändlich!«

»Aber, um Gottes willen, Bemperchen! Hat Oswald so etwas getan?«

»Ich sagte Ihnen schon, ich spreche nicht von Herrn Stein. Es gibt mehr Kavaliere auf der Welt, von denen einer dem andern so ähnlich sieht wie eine Natter der andern Natter.«

»Liebes Bemperchen, bitte, bitte, stellen Sie den Schürer hin – ich kann es wahrhaftig nicht mehr aushalten. Nehmen Sie diese Schlummerwalze, wenn Sie durchaus etwas in den Händen haben müssen.«

»Danke!« sagte Bemperlein, den Schürer fortstellend und die Walze nehmend und darauf, die Walze wie ein Kind im Arm haltend, in Schweigen versinkend.

Sophie fing jetzt allen Ernstes an, sich über Bemperleins aufgeregten Zustand zu beunruhigen. Wie erschrocken war sie aber, als Bemperlein alsbald wieder aufsprang, das Kissen aus dem Arm auf die Erde fallenließ, mit beiden Knien auf dasselbe hinkniete, eine ihrer Hände mit seinen beiden Händen ergriff und das Gesicht tief herabbeugend, in jämmerlichsten Tönen stöhnte: »Oh, Fräulein Sophie! Fräulein Sophie!«

»Um Himmels willen, Bemperchen«, rief die junge Dame, »stehen Sie auf! Wenn jemand Sie so sähe – uns so sähe! –«

»Lassen Sie mich!« murmelte Herr Bemperlein. »Ich muß es Ihnen sagen und kann es Ihnen nicht sagen, wenn Sie mich mit Ihren großen Augen dabei ansehen.«

Sophie wußte im ersten Augenblick nicht, ob sie über diese unerwartete Liebeserklärung lachen oder weinen sollte. Um Bemperleins willen hatte sie fast Lust zu dem letzteren, während sie für ihre Person mehr zu dem ersteren geneigt war.

»Bemperchen«, rief sie. »Bemperchen, besinnen Sie sich doch, was Sie sagen! Bedenken Sie doch, was Sie tun!«

»Ich weiß es« , murmelte Bemperlein, »ich hab es mir selbst hundert- und tausendmal gesagt: in meinem Alter –«

»Davon ganz abgesehen«, sagte Sophie, bei der die Neigung zum Lachen allmählich die Oberhand gewann, »wie können Sie, Franz' bester Freund, und – wofür ich Sie wenigstens bis zu diesem Augenblicke gehalten habe – mein bester Freund –«

»Ich werde Ihr Freund, ich werde Franz' Freund bleiben«, rief Bemperlein mit Lebhaftigkeit. »Liebe und Freundschaft werden zusammen in meinem Herzen Raum finden; die eine wird die andere nur noch inniger, noch tiefer, noch reiner, noch heiliger machen.«

»Aber, Bemperchen, mit solcher hohen platonischen Liebe verträgt es sich nicht, daß Sie à la Don Carlos auf den Knien liegen. Wenn Franz in diesem Augenblick zur Tür hereinkäme –«

»Und wenn er käme«, rief Bemperlein aufspringend; »il n' y a que le premier pas qui coûte; ich fühle jetzt, nachdem ich das erste Wort gesprochen, nachdem ich mit Ihnen gesprochen, Mut, es aller Welt zu sagen. Franz wird meine Wahl billigen, wenn er sie kennt, wie ich sie kenne.«

»Wie Sie mich kennen?«

»Und auch Sie werden es tun«, rief Bemperlein, ohne auf Sophiens Unterbrechung zu achten, die Schlummerwalze wie eine Fahne schwenkend. »Sie werden dem armen Mädchen Freundin und Schwester sein; Sie werden es sein um meinetwillen, der ich Sie so unendlich schätze und liebe; Sie werden es auch ihretwillen sein, denn, glauben Sie mir, Sophie, sie verdient es.«

»Aber von wem reden Sie denn eigentlich, Bemperchen?«

»Ich dachte, Sie wüßten es schon längst«, sagte Bemperlein, erschrocken stehenbleibend; und dann setzte er mit leiser Stimme hinzu: »Marguerite Martin, Grenwitzens Gouvernante.«

Glücklicherweise für Sophie war die Aufregung, in der sich Bemperlein in diesem Augenblicke befand, zu groß, als daß er hätte imstande sein sollen, die Verwirrung zu bemerken, in die sie die unerwartete Lösung des Knotens versetzt hatte. Sie war so nahe daran gewesen, eine große Albernheit zu begehen, indem sie ihrem Freunde eine so große Albernheit zutraute! Und doch ärgerte sie sich ein ganz klein wenig, daß sie nicht selbst der einzige Gegenstand von Bemperleins Anbetung war. Freilich berührte diese Regung Sophiens Seele nur momentan, wie ein leichter Wind die spiegelklare Fläche eines tiefen Sees nur im Vorübergehen kräuselt, und noch ehe Bemperlein sich von der Betäubung erholen konnte, in die ihn das Aussprechen des großen Wortes versetzt hatte, war sie wieder ganz die teilnehmende, kluge Freundin, nach der Bemperlein in seiner Herzensnot verlangte.

Über das Faktum selbst, daß Bemperlein, der ruhige, jungfräuliche Bemperlein, von einer Leidenschaft ergriffen werden könnte, wunderte sie sich im Grunde gar nicht. Ihre Hauptsorge war, daß der bescheidene, arglose, trotz seiner dreißig Jahre unerfahrene Freund in die Schlinge einer Kokette gefallen seit, könne, und diese Sorge war um so begründeter, als sie die braunen Augen Marguerites schon einige Male in einem Zusammenhange hatte erwähnen hören, der diesen Verdacht zu bestätigen schien. Ihre erste Frage war deshalb: »Kennen Sie denn Mademoiselle Marguerite auch, Bemperchen? Das heißt, wissen Sie, daß sie ein gutes Mädchen ist, daß sie ein gutes Herz hat – mit einem Worte, daß sie meines braven Bemperchens würdig ist?«

»Sie meiner würdig?« rief Bemperlein mit großem Enthusiasmus. »Sie wollen sagen, ob ich ihrer würdig bin!«

»Ich habe genau das sagen wollen, was ich gesagt habe. Ich, als Ihre beste Freundin – denn diese Würde lasse ich mir vorläufig noch nicht nehmen – habe das Recht und die Pflicht, streng zu sein und zu prüfen, ehe ich ja und amen sage.«

»Oh, Fräulein Sophie, ich versichere Sie, meine Marguerite ist ein Engel.«

» Ihre Marguerite? Ei sieh doch einer das löwenkühne Bemperchen! Seid Ihr schon so weit? Aber, Scherz beiseite, Bemperchen! Was wissen Sie von der Engelhaftigkeit Ihrer Marguerite? Ich meine von der Engelhaftigkeit, die auch für andere Sterbliche erkennbar ist? Kommen Sie her! Setzen Sie sich ruhig zu mir an das Feuer und erzählen Sie mir alles ordentlich von Anfang an. Hier haben Sie die Schlummerwalze wieder – das Schüreisen lassen Sie auf jeden Fall stehen.«

Trotz der scherzhaften Worte klang die Stimme Sophiens so treu und gut, und ihre großen blauen Augen blickten so teilnehmend und freundlich, daß Bemperlein nicht die mindeste Scheu mehr spürte, das liebe Mädchen in das Allerheiligste seines Herzens zu führen und ihr alles zu sagen, was er selbst kaum zu denken wagte.

»Sie erinnern sich, Fräulein Sophie«, begann er, »daß ich Ihnen und Franz neulich erzählte, wie ich zu Grenwitzens ging, um zu erfahren, was die Baronin, die nach mir geschickt hatte, von mir wollte. Ich habe Ihnen auch erzählt, daß ich in dem Vorzimmer Mademoiselle Marguerite traf und welch eigentümliche Szene ich mit ihr erlebte. Ich habe Ihnen aber nicht erzählt, und habe es mir auch so wenig wie möglich merken lassen, welchen Eindruck diese Szene auf mich gemacht hatte. Wenn jemand wie ich in großer Armut aufgewachsen ist und oft mit Not und Sorge zu kämpfen hatte, so lernt er aus dem Grunde, was es heißt, hilflos und verlassen zu sein. Deshalb ist es auch ganz selbstverständlich, daß unsereiner, wenn er jemand leiden sieht, ganz anders fühlt und denkt als der, der nie in ähnlichen Lagen war; und so werden Sie es auch natürlich finden, daß ich das Bild des armen, verlassenen, weinenden Mädchens nicht wieder loswerden konnte. Immer sah ich sie vor mir stehen, wie sie an der Tür gestanden hatte, die zu den Zimmern der Baronin führt, schluchzend und die kleinen Händchen auf die Augen drückend, während die hellen Tränen durch die schlanken Finger rieselten. Immer tönten mir die Worte im Ohr: ›Oh, que je suis malheureuse!‹ und ich quälte mich damit ab, herauszukriegen, weshalb das arme Mädchen denn so sehr unglücklich sei? Denn daß es noch etwas mehr war als das Gefühl ihrer Abhängigkeit überhaupt, daß sie nicht deshalb so weinte, weil sie wieder einmal, wer weiß zum wievielten Male ungerechterweise Schelte bekommen – das hätte ich beschwören mögen.

Ich quälte mich so darüber, daß ich die ganze folgende Nacht nicht schlafen und am andern Tage kaum die Zeit erwarten konnte, wo die Baronin mich empfangen wollte. Endlich schlug es zwei Uhr. Ich begab mich in das Hotel und wurde sogleich vorgelassen. Die Baronin war allein in ihrem Zimmer. Sie war ausnehmend gnädig, erkundigte sich nach Frau von Berkow; fragte, wie es mir in Sundin gehe, ob ich schon hinreichend Privatstunden zu geben habe und rückte endlich mit der Sprache heraus. Sie könne sich nicht entschließen, ihren Malte auf das Gymnasium zu schicken aus Gründen, die sie mir auseinandersetzte, die aber zu dumm waren, als daß ich sie wiederholen möchte, ebensowenig aber wage sie es nach den traurigen Erfahrungen, die sie gemacht – so lauteten ihre Worte – es noch einmal mit einem Hauslehrer zu versuchen. Sie habe den Entschluß gefaßt, ihn jetzt im Hause durch Privatlehrer unterrichten zu lassen, die natürlich erprobte und gesinnungstüchtige Männer sein müßten, und – dies war des Pudels Kern – ob ich, den sie außerordentlich schätze, sie in diesem Werke unterstützen und ihrem Sohne täglich ein bis zwei Stunden Unterricht in den alten Sprachen erteilen wolle? – Nun können Sie sich denken, Fräulein Sophie, daß ich unter anderen Verhältnissen die Zumutung rundweg zurückgewiesen haben würde, denn, abgesehen von allem, was sonst dagegen sprach, kann ich offenbar meine Zeit besser anwenden, als daß ich sie dem albernen Jungen opfere, den ich noch dazu niemals habe leiden können; aber ich bedachte, daß ich auf diese Weise Gelegenheit gewinnen würde, öfter mit der armen Marguerite zusammenzukommen, und da ich nichts eifriger wünschte, als das, so schien mir der Vorschlag der Baronin ein Wink des Himmels und ich akzeptierte ihn ohne weiteres.«

»Bravo, Bemperchen!« sagte Sophie, »ich sehe, daß Sie für eine harmlose kleine Intrige doch mehr Talent haben, als ich Ihnen zutraute.«

»Oh, es kommt noch besser«, erwiderte Bemperlein lächelnd. »Sie werden über mein Genie staunen. Im weiteren Verlauf des Gespräches kam die Baronin auch auf den französischen Unterricht zu sprechen und äußerte, es sei sehr unbequem, daß sie, trotzdem sie eine Französin im Hause habe, auch einen französischen Lehrer werde nehmen müssen, da sie zu Mademoiselles grammatikalischen Kenntnissen sehr wenig Vertrauen habe. Ich sagte sogleich – ich weiß noch jetzt nicht, wo ich den Mut dazu hernahm –, ich sei überzeugt, Mademoiselle würde die Grammatik sehr schnell lernen und hernach in alle Zukunft lehren können, wenn sie nur ein einziges Mal einen grammatikalischen Kursus durchgemacht habe. Meine Zeit sei freilich sehr beschränkt, wenn aber eine halbe Stunde täglich – die Baronin ließ mich gar nicht ausreden und nahm ohne weiteres mein Anerbieten an. Schon am nächsten Tage sollte der Unterricht beginnen.«

»Wann hatten Sie die Zusammenkunft mit der Baronin, Bemperchen?«

»Gestern vor acht Tagen, an demselben Tage, als ich, noch voll von dieser Unterredung und von einer anderen, die ich, gleich als ich nach Hause gekommen war, mit – mit – ich kann nicht sagen, Fräulein Sophie, mit wem, gehabt hatte, zu Ihnen eilte und hier Herrn Stein traf.«

Bemperlein schwieg; sein gutmütiges Gesicht verdüsterte sich, und er griff wieder nach dem Schüreisen.

Sophie nahm es ihm ruhig aus der Hand, stellte es noch weiter weg und sagte:

»Sie waren an dem Abend aufgeregt und gingen bald wieder fort. Steht denn die andere Unterredung mit dem geheimnisvollen Unbekannten in irgendeiner Verbindung mit Ihrer Geschichte?«

»Nicht in direkter«, erwiderte Bemperlein, sich wieder an die Schlummerwalze haltend, »nur insofern, als sie mein Interesse an der armen Marguerite noch steigerte, der – und die Folge hat meine Vermutung auf die merkwürdigste Weise bestätigt – vielleicht etwas Ähnliches passiert sein konnte – doch lassen wir das! – Am nächsten Tage also begann der Unterricht. Die Lektion mit dem Bengel, dem Malte, war vorbei; ich war allein in dem Zimmer zurückgeblieben und erwartete meine Schülerin. – Ihnen kann ich es sagen, Fräulein Sophie – nicht ohne Herzklopfen. Warum weiß ich freilich selbst nicht. Ich weiß bloß noch, daß ich mir auf einmal wie ein recht schlechter Mensch vorkam. Ich hatte in meinem Leben noch keine Komödie gespielt; und dieser grammatikalische Unterricht war doch nichts weiter als eine Komödie. Ich hatte große Lust wegzulaufen; aber da das doch nun einmal nicht ging, konnte ich nichts weiter tun, als meinen Vatermörder zurechtzupfen, vor dem Spiegel eine zierliche Verbeugung machen und mit meinem besten Akzent fragen: ›Ah, bonjour, Mademoiselle, comment vous portez-vous?‹ Als ich diese Frage zum dritten Male – und diesmal zu meiner vollen Befriedigung – wiederholt hatte, trat die Erwartete mit einem Buche in der Hand ins Zimmer, und ich geriet durch die Furcht, sie möchte meine Anstandsübungen vor dem Spiegel gesehen haben, in eine solche Verwirrung, daß ich über und über rot wurde und etwas stammelte, was möglicherweise französisch war, jedenfalls aber sehr dumm gewesen sein muß, denn Mademoiselle Marguerite lächelte und sagte etwas von bonté und enseigner, und dann weiß ich nur, daß wir einander gegenüber an dem Tische saßen und ohne ein Wort zu sprechen, in den Büchern blätterten. – Was soll ich Ihnen noch weiter erzählen, Fräulein Sophie? Das Beste und Notwendigste wüßte ich doch nicht zu sagen. Ich bin seit einer Woche jeden Tag eine Stunde lang mit Marguerite ungestört zusammen gewesen. Grammatik haben wir nicht getrieben, zum wenigsten sind wir über die erste Seite nicht hinausgekommen – aber dafür hat sie mir das Buch ihres Lebens aufgeschlagen, und ich habe es lesen dürfen, Wort für Wort, von der ersten bis zur letzten Seite. Ich sage Ihnen, Fräulein Sophie, es ist kein schlechtes Wort darin, und keine Seite, deren sie sich zu schämen hätte. Sie hat sich wie ich durch die Welt schlagen müssen, das arme Ding – oh, viel schlimmer als ich! Ihre Eltern sind so früh gestorben, daß sie sie nie gekannt; Geschwister, Verwandte hat sie nie gehabt, außer einer bösen Tante, die ihr ein Höllenleben bereitet, bis sie mit vierzehn Jahren unter fremde Leute gekommen ist, die sie doch wenigstens nicht geschlagen haben wie die höllische Tante. Ach, Fräulein Sophie, wenn ich Ihnen erzählte, was das arme Ding schon gelitten hat, Sie würden sagen: So etwas ist nicht möglich; und Ihr Herz würde überfließen vor Mitleid, wie meines übergeflossen ist.«

Herr Bemperlein schwieg, weil er vor Bewegung nicht weitersprechen konnte. Sophie nahm seine Hand und sagte: »Gutes Bemperchen!« Bemperlein erwiderte warm den Druck und fuhr, nachdem er sich einige Male, um seine Rührung zu bemeistern, laut geräuspert hatte, also fort,

»Sie hat mir nichts verschwiegen; auch nicht, daß sie in der letzten Zeit mit einem schlechten Menschen (ich wiederhole, Fräulein Sophie, daß es nicht Herr Stein ist) ein Verhältnis gehabt hat; mit einem Menschen, der sie auf die unwürdigste Weise genasführt und betrogen und an einen notorischen Roué hat verkuppeln wollen. Doch diese Geschichte ist so niedrig, so gemein, daß ich sie Ihnen nicht einmal mitteilen möchte, selbst wenn ich Marguerite nicht versprochen hätte, keinem, er sei, wer er sei, je die betreffenden Personen zu nennen. – Und nun –«, schloß Bemperlein, indem er Sophiens beide Hände in die seinen nahm, »was sagen Sie zu dem allem?«

Sophie wurde durch die plötzliche Frage einigermaßen in Verlegenheit gesetzt. Sie hatte sich aus einzelnen hingeworfenen Äußerungen Helenens, Oswalds und ihres Verlobten von Marguerite ein Bild entworfen, das keineswegs sehr schmeichelhaft für die junge Dame war; und auch Bemperleins Erzählung war nicht imstande gewesen, ihr einmal gefaßtes Vorurteil ganz zu beseitigen. Es tat ihr weh, daß sie den armen Mann, dessen gutes Gesicht jetzt mit einem aufgeregten, ängstlichen Ausdruck auf sie gerichtet war, als ob von ihrem Ausspruch Leben und Tod abhinge, durch einen Zweifel an der Vollkommenheit seiner Auserkorenen kränken sollte, und doch! Lügen konnte und mochte sie nicht, und antworten mußte sie nun einmal. So sagte sie denn mit einer allerliebsten Präzeptormiene, das Köpfchen nachdenklich von einer Seite auf die andere bewegend.

»Es ist mit der Liebe ein eigenes Ding, Bemperchen. Ich habe während der Zeit, daß ich Franz kenne und liebe, oft darüber nachgedacht. Es ist nicht alles Gold, was glänzt, und nicht alles Liebe, was wie Liebe aussieht. Es gibt Empfindungen, die als solche sehr lobenswert, aber trotz alledem nicht Liebe sind, und die wir uns ja hüten müssen, für Liebe zu nehmen. Und je edler ein Herz ist, desto leichter gerät es in Gefahr, einen solchen Irrtum zu begehen, gerade wie der Vertrauensvollste sich am leichtesten falsches Geld für richtiges in die Hände stecken läßt; ich zum Beispiel, die, wenn ein falsches Viergroschenstück auf dem Markt war, es sicherlich, wenn ich nach Hause komme, in meinem Portemonnaie habe. Es gibt aber keine Empfindung, die der Liebe so ähnlich sieht, und durch die sich deshalb ein edles Herz so leicht täuschen läßt, wie das Mitleid. Wäre es nicht doch möglich« – und hier legte die junge Dame ihre Hand auf Bemperleins Hand –, »daß, wie Ihr Interesse für Fräulein Marguerite zuerst aus dem Mitleid entsprang, es noch bis auf diesen Augenblick, nicht eigentliche Liebe, sondern eben nur Mitleid ist?«

Bemperleins Gesicht war bei dieser gelehrten Auseinandersetzung immer länger geworden. Er hatte sich von Sophie eine wärmere Aufnahme seiner Nachricht versprochen. Fast kleinlaut fragte er daher:

»Aber, Fräulein Sophie, wie unterscheidet sich denn Liebe von Mitleid? Ist nicht die Nächstenliebe, die doch die reinste Form der Liebe ist, mit dem Mitleid identisch?«

»Die Nächstenliebe wohl«, erwiderte Sophie, »aber nicht die Liebe, von der wir sprechen, die Liebe, die man empfinden muß, wenn man jemand heiraten will; die Liebe zum Beispiel, die ich für Franz empfinde und die Franz für mich empfindet. Das ist noch etwas ganz anderes, ganz anderes« – und sie wiegte gedankenvoll das Haupt.

»Aber was ist es denn?« rief Bemperlein voll Verzweiflung. »Wie soll man erfahren, ob man wirklich liebt?«

»Das ist sehr schwer«, erwiderte Sophie, »und auch wieder sehr leicht. Haben Sie zum Beispiel nur immer das Verlangen gehabt, Fräulein Marguerite aus ihrer abhängigen Stellung in eine bessere versetzt zu sehen, sie zu beschützen, zu beschirmen vor aller Not und Gefahr; oder haben Sie auch manchmal gewünscht –«

Hier stockte Sophie und wurde rot.

»Nun?« fragte Bemperlein eifrig.

»Ihr einen Kuß zu geben«, sagte Sophie, entschlossen, der Sache auf den Grund zu kommen, selbst auf die Gefahr hin, indiskret zu werden.

»Wenn's weiter nichts ist«, sagte Bemperlein triumphierend, »die Frage kann ich mit Ja beantworten.«

»Bravo! Und haben Sie ihr auch schon einen Kuß gegeben?«

»Nein!«

»Haben Sie ihr denn schon Ihre Liebe gestanden?«

»Nein!«

»Wissen Sie denn, daß sie Sie wiederliebt?«

»Nein!«

Die immer geringer werdende Herzhaftigkeit dieser Verneinungen war so komisch, daß sich Sophie des Lachens kaum enthalten konnte.

»Aber«, rief sie, »wie wollen Sie denn das erfahren?«

»Ich werde sie fragen«, sagte Bemperlein entschlossen.

»Sehr gut! Und wenn sie nun Nein antwortet?«

»Das kann sie nicht, das wird sie nicht«, rief Bemperlein, blaß vor großer Aufregung. »Ich habe daran noch gar nicht gedacht, aber das wäre schrecklich! Ich – ich habe es mir so schön ausgemalt, wenn sie mein Weib würde, für das ich arbeiten könnte, und das ich lieben könnte und das mich wiederliebte. Denn ich muß jemand von ganzem Herzen lieben, und ich muß fühlen, daß ich von ganzem Herzen geliebt werde, oder ich bin der unglücklichste Mensch von der Welt. Oh, Fräulein Sophie, nicht wahr, Marguerite wird nicht Nein sagen?«

Seine Stimme zitterte und seine Augen standen voll Tränen. Das gutmütige Mädchen war kaum weniger gerührt. Die Leidenschaftlichkeit Bemperleins hatte eine sympathetische Saite in ihrem Herzen angeschlagen. Sie fühlte sich plötzlich verpflichtet, die junge Liebe ihres dreißigjährigen Schülers aus allen Kräften zu beschützen.

»Wissen Sie was«, sagte sie mit großer Entschiedenheit, »Wir wollen das bald erfahren. Bringen Sie die Marguerite einmal zu mir.«

Bemperlein atmete hoch auf.

»Darf ich das wirklich?«

»Nun natürlich; ich kann nicht gut zu ihr gehen, weil das auffallen würde, aber hierher kann sie ohne Aufsehen kommen. Sagen Sie ihr nur, ich wünschte sie kennenzulernen. Wenn sie Sie liebt, wird sie sich nicht lange bitten lassen. Haben wir sie erst einmal hier, so findet sich das andre von selbst. – Ja, ja«, fuhr die junge Dame fort, und schnappte vergnügt mit den Fingern, »so geht's, so geht's. Und wenn wir gute Freundinnen werden, so habe ich noch einen andern Plan – oh, Bemperchen, einen andern Plan, wenn Sie den wüßten – ich sage Ihnen, einen Plan, – nein, nein! – Sie kriegen es nicht zu wissen – und Franz auch nicht – St! Da kommt er! Kein Wort von unserm Geheimnis!«


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