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Einundfünfzigstes Kapitel

Eine Stunde später war in dem Kampf an der Barrikade eine Pause eingetreten. Das Linienregiment, das nun schon fünfmal vergeblich gestürmt, war durch einige Bataillone Garde verstärkt worden, die bis jetzt an einer andern Stelle gekämpft und schon mehrere Barrikaden genommen hatten. Die Taktik dieser Truppen bestand darin, daß sie nicht in ganzen Kolonnen, sondern in aufgelösten Schützenzügen rechts und links an den Häusern der Straße so gedeckt wie möglich vorgingen, um sich dicht vor der Barrikade zu einer Sturmkolonne zu vereinigen. Aber wenn so ihre Verluste weniger bedeutend waren, konnten sie sich doch auch keiner bessern Erfolge rühmen. Die Belagerten sparten ihr Feuer so systematisch und gaben in dem rechten Augenblicke ihre Salven, die noch dazu seit der letzten Stunde viel kräftiger geworden waren, so kaltblütig ab, daß ihre Position geradezu uneinnehmbar schien. Wirklich hatte seit einigen Minuten das Feuer von seiten des Militärs aufgehört, und die Barrikadenmänner konnten sich ein wenig von ihrer blutigen Arbeit verschnaufen.

Es tat ihnen wahrlich not. Zum größeren Teil auf das äußerste erschöpft, pulvergeschwärzt, fast alle leichter oder schwerer verwundet, saßen und lagen sie einzeln und in Gruppen umher, wunderlich beleuchtet von dem roten Lichte der Wachtfeuer, die man mitten auf der Straße entzündet hatte, dem weißen Schein der Kerzen in den Fenstern und den milden Strahlen des Vollmondes, der noch immer groß und still oben in dem blauen Äther schwamm. Zwischen den Gruppen der Kämpfer sah man Frauen und Mädchen, die ihnen aus den Küchen der Nachbarhäuser Lebensmittel zutrugen. Auch an Wein und Bier fehlte es nicht, und hier und da hatten die Leute des Guten zuviel getan. Aus einer oder der andern Gruppe erschallte von Zeit zu Zeit rohes Jauchzen, Johlen und Schreien, das aber meistens bald einer Stille Platz machte, die nach solchem Ausbruch doppelt unheimlich war.

Auf einer der Barrikade eingefügten Tonne saß Oldenburg. Er ließ die langen Beine herabhängen und blies mächtige Dampfwolken aus seiner Zigarre. Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß, wenn die Barrikade übergehen sollte, er an der Spitze der Männer, die er in den Kampf geführt, fallen würde; aber daran dachte er am wenigsten. Der Tod für die Sache der Freiheit war ihm nicht fürchterlich, ja er glaubte etwas wie eine leise Todessehnsucht in seinem Herzen zu verspüren. Schien doch die süße, fest gehegte Hoffnung, Melitta bald die Seine nennen zu dürfen, seit den letzten Tagen weiter als je hinausgerückt. Er konnte sie nicht tadeln, daß die Erinnerung ihres Verhältnisses mit Oswald wie ein Alp auf ihrer Seele lastete und es ihr unmöglich machte, die Augen mutig zu dem besseren und treueren Manne aufzuschlagen; aber gerade weil er das Gefühl das sie trennte, ehren mußte, stand er ratlos und hoffnungslos da. Er hatte sich oft das Wort wiederholt, das Melitta, wenn sie ihn traurig sah, so rührend zu sprechen wußte, das Wort Geduld! – Aber vergebens! Er verzehrte sich in der Ungeduld, für sein Glück nichts tun zu können, als müßig die Hände in den Schoß zu legen sind auf ein unbestimmtes Etwas mit gläubiger Seele zu harren.

Da brach die Revolution aus, und Oldenburg atmete auf wie Tausende mit ihm. Hatte doch jeder eine unerträgliche Last getragen, die er jetzt loszuwerden hoffte! Es war Oldenburg lieb, daß Melitta nicht zugegen war. Er hatte ihr gleich beim Beginn des Barrikadenbaues durch den alten Baumann Kunde sagen lassen, und daß er sie dringend bitte, an dem sichern Orte, wo sie sei, zu bleiben. Er dachte bei sich, als er den alten Mann entsandte: Wir sehen uns entweder nie oder glücklicher als vorher wieder; jetzt müßte nur noch Oswald dasein und an meiner Seite für die Freiheit und Melitta kämpfen. Der Ausgang sollte mir ein Gottesurteil sein und Melitta dem Überlebenden den Kranz des Sieges reichen.

Und sein Wunsch ging in Erfüllung. Seit einer Stunde kämpfte Oswald an seiner Seite, kämpfte, wie jemand, dem der Tod lieber ist als das Leben. Wo es eine unter den feindlichen Kugeln schadhaft gewordene Stelle der Barrikade auszubessern, oder sonst etwas Gefährliches zu tun gab, da war Oswald sicher zu finden, und da Oldenburg gerade die bedenklichsten Posten für sich selbst in Anspruch nahm, so kamen sie sehr oft dicht nebeneinander zu stehen. Aber sobald die Gefahr vorüber, zog sich Oswald sofort zurück, und Oldenburg folgte ihm nicht, da die Absicht, ihm auszuweichen, zu augenscheinlich war. Und doch drängte es den edlen Mann, in dieser Stunde, die vielleicht für beide die letzte werden konnte, dem ehemaligen Freunde zu sagen, daß sie, was auch geschehen war, vergessen und sich die Hände reichen wollten, die so tapfer für eine große und gute Sache zu streiten wußten.

Seine Blicke hafteten jetzt auf Oswald, der in einiger Entfernung von ihm, die Büchse in der Hand, mit Berger neben einem der Wachtfeuer stand. In der wechselnden Beleuchtung traten die Gestalten bald in helles Licht, bald flog ein schwarzer Schatten über sie hin. Das gab ihnen etwas Seltsames, Überirdisches. Oldenburg mußte an die Schemen denken, die an den Ufern des Acheron dem Fährmann winken.

Er erhob sich und trat auf die beiden zu. »Nun, ihr Herren«, sagte er, »werden wir uns dieser Ruhe lange erfreuen?«

»Ich glaube nicht«, erwiderte Oswald, »sie haben sich entweder nur momentan verschossen, oder sie ziehen noch Verstärkungen heran.«

»Das letztere ist wohl das Wahrscheinlichere. Was meinen Sie, Berger?«

Berger hatte, die Arme über der Brust gekreuzt und mit den großen Augen unverwandt in die Flamme sehend, dagestanden. Plötzlich streckte er die Hände vor sich hin und sagte in einem hohlen geisterhaften Ton:

»Horch! Sie kommen! Die Erde zittert unter ihnen. Wie sie die Gäule peitschen, die es müde sind, immer neue Gewaltmittel gegen das arme Volk herbeizuschleppen! Da springen sie herab. Und nun stopft nur die ehernen Schlünde voll bis zum Bersten, wir wollen –«

»Berger!« sagte Oldenburg, ihm die Hand auf den Arm legend.

Berger zuckte zusammen, wie jemand, der jäh aus einem tiefen Traume geweckt wird. Er blickte verstört umher.

»Was gibt's?« fragte er, Oldenburg anstarrend.

»Sie sind durch die übermäßigen Anstrengungen erschöpft, Berger, legen Sie sich eine Stunde hin. Ich will Sie rufen lassen, wenn es not tut.«

»Erschöpft«, sagte Berger, indem er wieder in seinen träumerischen Zustand zurückfiel, »jawohl, erschöpft, bis zum Tode erschöpft; aber deshalb genügt auch eine Stunde nicht. Wenn ich schlafen soll, so sei es wenigstens den ewigen Schlaf!«

In diesem Augenblick trat Schmenckel, der die Wache auf der Barrikade gehabt hatte, an die Gruppe heran und sagte:

»Es ist halt etwas Besonderes im Werk; ich glaube es geht jetzt mit Kanonen los.«

Berger fuhr in die Höhe.

»Sagte ich es nicht«, rief er. »Die Stunde der Entscheidung naht. Auf, auf, ihr wackern Männer, allesamt! Noch einen lustigen Tanz mit den schlangenhaarigen Furien des Lebens und dann zur ewigen Ruh' in die kühle Todesnacht. Auf! auf!«

Bei diesem Ruf sprangen einige der Kämpfer empor von ihren Lagerstellen am Feuer, griffen zu den Waffen und eilten Berger nach an ihre Posten. Andere blieben liegen und lachten über den tollen Alten und den blinden Lärm. Aber auch sie waren rasch genug auf den Beinen, als jetzt ein Schlag, der die Häuser in ihren Grundfesten erbeben machte, losschmetterte und Kartätschenkugeln in die Barrikade und gegen die Häuserwand prasselten.

»Jetzt wird es ernst«, sagte Oldenburg, sich zu Oswald wendend. Aber der Platz, wo Oswald gestanden hatte, war leer.

»Er weicht mir aus«, sprach Oldenburg traurig, »und doch, mein Gewissen ist rein; ich habe mir nichts gegen ihn vorzuwerfen.«

Er eilte nach der Barrikade, wo jetzt die Anwesenheit des Hauptmanns nötiger war als je.

Zu der einen Kanone, die den Reigen eröffnete, hatten sich noch drei andere gesellt, und beinahe ununterbrochen krachte der Donner und rasselte der eiserne Hagel gegen die Barrikade. Es war kein Zweifel: Man wollte Bresche legen und dann den Sturm mit voraussichtlich besserem Erfolge wiederholen. Oldenburg, der das Leben der Leute nicht unnütz aufs Spiel setzen wollte, hatte Befehl gegeben, so gedeckt wie nur möglich sich aufzustellen und das Feuer der Belagerer nicht zu erwidern, sondern jeden Schuß bis zu dem Augenblick des Sturmes aufzusparen. Außerdem hatte er die Steinschleuderer auf den Dächern um das Doppelte verstärkt. Zuletzt wählte er die Männer, die sich bisher am mutigsten gezeigt hatten, zu einem Elitekorps aus, das sich dem stürmenden Feinde blindlings entgegenwerfen und kämpfen sollte, bis die anderen Zeit gehabt hätten, sich hinter die Barrikaden der Nebenstraße zu retten.

Oldenburg hatte kaum diese Anordnungen getroffen, als die Batterie mit noch fürchterlicherer Gewalt zu arbeiten begann und dann plötzlich verstummte.

Einen Augenblick tiefe Stille.

Tiefe Stille, und dann der eherne Klang von zwanzig Trommeln, die den Sturmmarsch schlagen. Und mit jedem Schlage rückt die Kolonne näher heran – eine lebendige Mauer, scheinbar unaufhaltsam in ihrem Andrang.

Kein Laut erschallt auf der Barrikade. Oben auf den Dächern stehen die Männer und Knaben, die schweren Steine in den Händen; in den Fenstern der Häuser, an den Schießscharten der Barrikade selbst lauern die Schützen, die Büchse halb zur Wange schon erhoben.

Und mit dem Takte der Trommeln rückt die lebendige Mauer heran. Deutlich schon sieht man die schmucken Gardeuniformen; man sieht die bartlosen Gesichter der Leute und das schwarze, finstere, bärtige Antlitz des riesigen Offiziers, der voranschreitet. Und jetzt ruft der Offizier ein Kommando, das die Trommeln verschlingen, und wie er mit dem blitzenden Degen winkt, rufen die Soldaten: Hurra! hurra! hurra! und stürzen eilenden Laufs heran. Aber ehe sie die Barrikade erreichen, krachen zwanzig Feuerschlünde, schmettern Hunderte von Steinen in die lebendige Mauer und sie schwankt und wankt wie eine Meereswoge, die mit vornüberhängendem Kamm gegen den Felsenstrand heranschäumt.

Doch rollt sie weiter und jetzt prallt sie gegen die Barrikade. Der Offizier reißt mit seinen großen Händen Stücke heraus. Nichts scheint seiner Riesenstärke widerstehen zu können. Da springt ihm ein Mann im Samtrock, der als Waffe den Lauf eines Gewehrs schwingt, von dem der Kolben abgebrochen ist, entgegen. Als der Offizier den Mann erblickt, taumelt er wie vom Blitz getroffen zurück. Das bringt seine Leute in Verwirrung und hemmt für einen Moment ihr Anstürmen.

Die Barrikadenmänner benutzen diese Pause und geben eine volle Salve. Der Offizier fällt mit dem Gesicht vornüber tot zur Erde; mit ihm stürzt ein halbes Dutzend seiner Leute mehr oder weniger schwer verwundet. Ein fürchterlicher Schrecken bemächtigt sich der Soldaten. Vergebens suchen die Offiziere sie in den Kampf zu treiben.

Die Barrikade ist abermals gerettet; man schreit einmal über das andere Hurra, man umarmt sich mit Tränen der Freude in den Augen. Aber der Sieg ist teuer erkauft. Während ein Teil der Besatzung die halb zerstörte Barrikade wieder aufbaut, ist der andere Teil mit den Verwundeten und Toten beschäftigt. Der im Samtrock trägt den Leichnam eines Mannes herbei, der in der ersten Reihe wie ein Held gefochten hat, und von den feindlichen Bajonetten durchbohrt, an ihrer Seite gefallen ist.

Oldenburg eilte herbei, ihnen zu helfen.

»Ist er tot?«

»Ja.«

Sie legen ihn neben einem der Feuer hin auf die Erde. Das bleiche Antlitz ist so still, so voll Frieden, und um die blassen Lippen schwebt ein sanftes, seliges Lächeln.

Oldenburg schaut zu Oswald herüber, der an der andern Seite neben der Leiche kniet. Er erschrickt. Das Antlitz des jungen Mannes ist bleich wie des Toten Antlitz, und seine Augen stieren wie im Wahnsinn.

»Mein Gott, Oswald, Sie sind verwundet?«

»Ich fürchte, ja«, erwidert Oswald und sinkt neben Bergers Leiche zusammen.


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