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Zweiunddreißigstes Kapitel

Felix von Grenwitz hatte die von den Ärzten verordnete Reise nach Nizza angetreten. Er war gern in die Verbannung gegangen. In Sundin hatte er nichts mehr zu gewinnen und höchstens den letzten Hoffnungsschimmer auf Genesung zu verlieren. Seine Existenz in Italien war ihm von seiner großmütigen Tante, die recht gut wußte, daß er kaum noch ein paar Monate zu leben habe, auf mehrere Jahre hinaus zugesichert worden. Er hatte alle seine Angelegenheiten geordnet, über alles mit der Tante gesprochen, und nur über die eine fatale Geschichte mit dem Menschen, dem Timm, nicht. Er ließ Anna-Maria in dem guten Glauben, daß der freche junge Mann von ihm vollständig eingeschüchtert und mit ein paar Hundert Talern abgefunden sei, da er selbst durchaus keine Lust hatte, seiner Tante durch Anrühren dieses wunden Punktes die so notwendige gute Laune zu verderben. Brieflich, dachte Felix, arrangiert sich so etwas am besten und wenn sie sieht, daß das Ding nicht zu ändern ist, wird sie sich schon darein finden. So reiste er denn ab, begleitet von den aufrichtigen Glückwünschen seines Oheims und den Ermahnungen seiner Tante.

Gott sei Dank, daß er weg ist, dachte die Baronin, während sie, das Taschentuch vor die Augen drückend, durch die Schar der Dienstboten nach ihrem Zimmer zurückschritt; jetzt unverzüglich Helene wieder her – das andere findet sich.

Noch am selben Tage machte sie einen Besuch in der Pension und hatte zuvörderst eine lange Unterredung mit Fräulein Bär. Die Baronin war heute sehr weich. Sie hatte soeben einem lieben Verwandten, dessen Schicksal ihr unendlich am Herzen lag, voraussichtlich auf lange Zeit, vielleicht für immer Lebewohl gesagt. Ihr Herz war infolgedessen tief betrübt. »Ach glauben Sie mir, mein liebes Fräulein«, sagte sie, »es ist hart, sich von einem Jüngling, den man wie seinen eigenen Sohn geliebt hat, in dieser Weise trennen zu müssen; sehen zu müssen, wie eine fröhliche, junge Kraft so grausam gebrochen ist und mit ihr all die Hoffnungen geknickt sind, die man für die Zukunft auf sie gesetzt hatte. Und auch die arme Helene wird den Schlag schmerzlich empfinden. War doch, wenn mich nicht alles trügt, eine reine Neigung zwischen den beiden jungen Verwandten emporgeblüht, die vom Himmel selbst so sichtbar füreinander bestimmt waren, eine Neigung, die sich, wie das ja so häufig ist, anfänglich hinter einer scheinbaren Aversion keusch verbarg, daß ich selbst eine Zeitlang getäuscht wurde, und – ganz entre nous, liebes Fräulein – dem armen Kinde deshalb recht böse war. Jetzt weiß ich es besser. Aber um so größer ist mein Verlangen, das liebe Kind wieder bei mir zu haben. Würden Sie mir es sehr übelnehmen, liebes Fräulein, wenn ich das Ihren gütigen, klugen Händen anvertraute teure Kleinod so bald wieder entführte?«

Fräulein Bärs klarem Verstande entgingen die Widersprüche zwischen dem früheren und dem jetzigen Benehmen der Baronin keineswegs. Sie nahm also das Vertrauen der gnädigen Frau mit Zurückhaltung entgegen und fragte bloß, ob Helene gleich jetzt oder erst später in das elterliche Haus zurückkehren solle?

»Ich denke, wir überlassen das dem lieben Kinde selbst«, erwiderte Anna-Maria, die noch immer eine mögliche Weigerung Helenens fürchtete, »ich weiß, sie ist sehr gern bei Ihnen und überdies möchte ich sie durchaus nicht in ihren Studien, Liebhabereien und Plänen derangieren. Helene ist bereits von meinen Wünschen unterrichtet. Im Augenblick wollte ich weiter nichts, als Sie, liebes Fräulein, bitten, Ihren Einfluß auf das Kind zu meinen Gunsten, zugunsten einer armen, durch einen schweren Verlust betrübten Frau geltend zu machen.«

Anna-Maria hatte kaum die Pension verlassen, als Fräulein Bär sich zu Helene begab, ihr die eben stattgehabte Unterredung mitzuteilen. Sie hatte zu diesem Zweck ihre goldene Brille abgenommen und die offiziellen Falten von der Stirn gewischt.

»Lassen Sie uns offen gegeneinander sein, liebe Helene«, sagte sie, die schlanke, weiße Hand der jungen Dame vertraulich in ihre knöchernen Finger nehmend, »meine liebe Sophie hat mir gleich im Anfang unserer Bekanntschaft Andeutungen gemacht, die das sonst unbegreifliche Benehmen Ihrer Frau Mutter einigermaßen erklären. Sie brauchen nicht rot zu werden, liebes Kind. Es ist dabei kein Wort gesprochen worden, das Ihnen irgendwie zur Unehre gereichte; im Gegenteil, wir beide, Sophie und ich, haben Sie, die Sie in so frühen Jahren so vieles zu erdulden hatten, nur innig bedauert. Wir sahen in Ihrer Entfernung aus dem elterlichen Hause nur ein Art von Verbannung, zu gleicher Zeit aber meinten wir, daß mein Haus unter diesen Umständen Ihnen ein wünschenswertes Asyl gewähren könnte. Sollte dies wirklich der Fall gewesen sein, sollten Sie vielleicht selbst jetzt noch dieses Asyl bedürfen, so sagen Sie es mir. Es ist nicht meine Art, Zwietracht zu säen, noch dazu zwischen Mutter und Tochter, aber wie die Sachen einmal liegen, halte ich es für kein Unrecht, Partei zu ergreifen.«

Das alte Fräulein schwieg, Helene war bewegter, als es wohl sonst ihre Art war, aber ihre Selbstbeherrschung verließ sie doch auch jetzt nicht. Mit einem beinahe heiteren Tone sagte sie:

»Sie sind sehr gütig gegen mich, Fräulein Bär, gütiger als ich es verdiene; aber Ihre fürsorgliche Güte hat Ihnen, glaube ich, mein Verhältnis zur Mutter in einem allzu ungünstigen Lichte gezeigt; wir haben uns eine Zeitlang etwas schroffer gegenübergestanden, doch das ist alles von meiner Mutter hoffentlich so vergessen, wie es von mir vergessen ist. Sie wissen, wie gern ich in Ihrem Hause bin, wie wohl ich mich hier fühle; sollte aber meine Mutter, wie es den Anschein hat, wünschen, daß ich zu ihr zurückkomme, so halte ich es für meine Pflicht, diesem Wunsche zu gehorchen, ohne danach zu fragen, ob es mit meinen persönlichen Neigungen übereinstimmt oder nicht.«

Fräulein Bär war durch diese Antwort keineswegs angenehm überrascht. Sie war dem jungen Mädchen mit offenem Herzen entgegengekommen; sie hatte sich gewissermaßen, um Helene Vertrauen einzuflößen, bloßgestellt, und nun anstatt des Vertrauens, anstatt der Offenheit Zurückhaltung und diplomatische Kälte! Die gute alte Dame fühlte sich tief verletzt und verließ in dieser Stimmung das Zimmer, nachdem sie mit vielem Geschick das Gespräch auf gleichgültigere Dinge hinübergespielt hatte.

Daß die Baronin das Herz ihrer Tochter, zum wenigsten nach einer Seite hin kannte, hatte sie heute durch ihr Benehmen bewiesen. Es schmeichelte Helenens Stolz, daß die Mutter sich mit ihrem Wunsche nichts einmal direkt an sie zu wenden wagte, sondern sich dabei hinter Fräulein Bär steckte. Ihr Entschluß, in das Haus ihrer Eltern zurückzukehren, war bereits an dem Abend gefaßt, als sie den letzten Brief an Mary Burton schrieb.

Die junge Engländerin hatte, aus ihrer Hamburger Pension kaum in ihr Vaterland zurückgekehrt, eine der glänzendsten Partien gemacht, die zu jener Zeit in England gemacht werden konnten. Helene erinnerte sich noch recht gut, wie der Roman, der so unerwartet schnell und glücklich zu Ende gespielt worden war, angefangen halte. Sie und Mary hatten als Mädchen von vierzehn Jahren in Gesellschaft der Pensionsvorsteherin und eines halben Dutzend anderer jungen Mädchen von Hamburg aus einen Ausflug nach Helgoland gemacht und bei dieser Gelegenheit ein englisches Kriegsschiff besichtigt, das dort vor Anker lag. Die Offiziere hatten die reizende Gesellschaft mit größter Zuvorkommenheit empfangen und bewirtet; ja zuletzt noch auf dem Quarterdeck einen Ball arrangiert, der überaus heiter gewesen war. Besonders hatte der Kapitän der Fregatte, ein noch junger, schöner, von der südlichen Sonne gebräunter Mann, den jungen Damen gefallen und würde ihnen noch mehr gefallen haben, wenn er seine Landsmännin Mary Burton nicht so sehr vor den übrigen Schönheiten ausgezeichnet hätte. Miß Mary Burton mußte sich infolgedessen hinterher gar viel mit ihrem Fregattenkapitän necken lassen, bis man die Fahrt nach Helgoland und alles, was damit zusammenhing, über neueren und wichtigeren Ereignissen allmählich vergaß. Aber zwei hatten die Sache nicht vergessen und das waren eben der Fregattenkapitän und Miß Mary Burton. Als die junge Dame drei Jahre später nach England zurückkehrte, war eine der ersten Personen, denen sie in dem Salon einer vornehmen Verwandtin begegnete, Kapitän Crawley, oder vielmehr, da sein Vater und ein älterer Bruder inzwischen gestorben und er so ganz unerwartet die Titel und die Reichtümer der Familie geerbt hatte: Lord Crawley de Crawley. Acht Tage später wurde die vornehme Welt durch die Verlobung Seiner Herrlichkeit mit Miß Mary Burton (einer Dame, die schlechterdings niemand kannte) auf das höchste überrascht. Niemand aber konnte durch diese Nachricht eigentümlicher berührt werden als Helene von Grenwitz. Sie war die intimste Freundin Marys gewesen; man hatte sie stets mit Mary zusammen gesehen, zusammen genannt, aber man hatte sie auch immer für die bei weitem Schönere und Bedeutendere gehalten, und niemand hatte diesem Urteil freudiger beigestimmt als die bescheidene Mary selbst. Mary betete ihre glänzende Freundin an; Helene Grenwitz war in ihren Augen ein unerreichbares Ideal; sie ordnete sich ihr bei jeder Gelegenheit unter, und wenn die jungen Mädchen für die Zukunft sich ihre Pläne und Hoffnungen mitteilten, so baute Mary für Helene die prachtvollsten Schlösser, während sie sich mit einer strohbedeckten Hütte am Rande eines murmelnden Baches begnügte. Helene hatte diese Huldigungen entgegengenommen wie eine Prinzessin die Aufmerksamkeiten ihrer Hofdame. Mary hatte ihr so oft gesagt, daß sie viel schöner, reizender sei als sie selbst.

Und nun mußte diese demütige Freundin die glänzendste Heirat machen, durch die sie mit einem Male in die höchsten Sphären der Gesellschaft erhoben, ja mit einigen regierenden Häusern verschwägert wurde. Helene durfte gar nicht daran denken. Aber jetzt, wo ihr eine Gelegenheit geboten wurde, mit Ehren aus dieser sie demütigenden Lage zu kommen; jetzt, wo ihre stolze Mutter sich zu Bitten, die sie nicht einmal selbst hervorzubringen wagte, verstand; jetzt konnte über den Weg, den sie einzuschlagen hatte, kein Zweifel sein; und wenn Fräulein Bär in ihrer Gutmütigkeit ihr die Pension als ein Asyl anbot, so wußte sie eben nicht, um was es sich in diesem Augenblick handelte.

Helene ging, nachdem Fräulein Bär sie verlassen, mit verschränkten Armen in ihrem Zimmer auf und ab. Endlich trat sie an das Fenster und starrte in den herbstlichen Abend hinein. An dem Himmel zogen langsam schwere, dunkle Wolken, unter welchen leichte graue Wölkchen pfeilschnell dahinschwebten. Die beinahe kahlen Zweige der schlanken Pappeln wiegten sich in dem scharfen Winde sausend und zischend hinüber und herüber; eine Krähe, die des Weges kam, setzte sich auf ein Paar Augenblicke auf den obersten Wipfel eines der Bäume, ließ sich mit herüber und hinüber wiegen, krächzte, als ob sie sich über die ungastliche Behandlung ärgere, und flog dann wieder davon. – Helene öffnete das Fenster. Der kühle, feuchte, mit dem herben Dufte der modernden Blätter vermischte Hauch des Abends wehte sie an. Lauter rauschten die Pappeln in dem Garten und die hohen Buchen des Parkes, und zwischendurch tönte in monotonen Kadenzen der dumpfe Donner der Meereswogen am Gestade. Sie lehnte sich hinaus; sie achtete nicht der Feuchtigkeit der Luft, die im Nu ihre schwarzen Haare mit einem tauigen Schleier überzog. Sie starrte nur immer hinein in den mit jedem Augenblick dunkler werdenden Abend. Seltsame Visionen zogen durch ihr Hirn. Stolze Paläste erhoben sich am Rande blauer Seen, in denen sich dunkle Wälder spiegelten; und aus dem Palast ritt ein lustiger Jagdzug mit Hallo und Trara, und an der Spitze des Zuges eine junge Dame auf einem Zelter neben einem Manne, der seinen schäumenden Rappen lässig lenkte und sein dunkles Gesicht fortwährend auf die junge Dame neben ihm wandte; und alles, soweit das Auge reichte – Schloß und See und Wald und Felder, die sich weit und weiter am Ufer hinbreiteten, unabsehbar ins Land hinein –, gehörte der jungen Dame auf dem Zelter und ihrem Gemahl, dem Ritter auf dem feurigen Rappen. Und dann versanken Schloß und Wälder und Felder in dem See, und der See erweiterte sich zu einem Meer, das an dem hohen, mit Buchenwäldern gekrönten Kreidefelsenufern aufrauschte; und oben auf den hohen Ufern in der Abendsonnenglut stand dieselbe junge Dame, die vorhin auf dem Zelter ritt, neben einem Mann – der nicht der Ritter auf dem Rappen war – und sie schauten zusammen hinaus auf das herrliche Schauspiel der in dem wogenden Wellengebiete versinkenden Sonne, und wie sie so standen und schauten, fügten sie wie betende Kinder ihre Hände ineinander und sahen sich an mit liebevollen, tränenüberströmten Augen.

Da rauschte der Wind lauter in den schlanken Pappeln und das junge Mädchen fuhr empor aus ihren Träumereien. – Sie warf einen Blick in die graue Dämmerung des Parkes. Zwei Gestalten, ein Mann und eine Frau, wandelten Arm in Arm an der Öffnung zwischen den Bosketts vorüber, nur einen Augenblick lang, aber das scharfe Auge des jungen Mädchens hatte beide erkannt, glaubte mindestens beide erkannt zu haben. Ein Gefühl, wie sie es noch nie gehabt hatte, überkam sie. Sie mußte sich überzeugen, ob sie recht gesehen hatte, ob wirklich Oswald Stein mit Emilie Cloten zu dieser Stunde an diesem Orte sich treffen konnten. Im nächsten Augenblick war sie die Treppe, die nach dem Garten führte, hinab, durch den Garten geeilt und stand jetzt an der Pforte, die aus dem Garten in den Park führte. – Mit einem Male war ihr Mut verschwunden – sie schämte sich einer Regung, die sie zu einem so unweiblichen, so häßlichen Schritte verleiten konnte. Eben wollte sie wieder in das Haus zurückkehren, als die beiden Gestalten den Gang, der an der Gartenpforte vorüberführte, wieder heraufkamen. Sie drückte sich hinter den Pfeiler des Tors, um nicht gesehen zu werden; das Herz schlug ihr zum Zerspringen, und jetzt – sie waren es, waren es, die hier, in heimlichem, eifrigem Gespräch vorübergingen! Also genarrt! Und genarrt von wem? Von einem Menschen, den eine Emilie Cloten gewinnen konnte!

Sie schritt, in tiefes Sinnen verloren, nach ihrem Zimmer zurück. Einmal blieb sie stehen und sagte, tief aufatmend: »Gott sei Dank, daß ich schon vorher entschlossen war, zu meinen Eltern zurückzukehren!«


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