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Einundvierzigstes Kapitel

In einem stattlichen Zimmer eines stattlichen Hotels Unter den Linden saßen am Abend des folgenden Tages Melitta und Oldenburg auf dem Sofa. Auf dem Tische brannte eine Lampe; angezündete Lichter standen auf den Spiegeltischen und auf dem Sims des Kamins. Frau von Berkow erwartete heute abend noch mehr Besuch, und Oldenburg hatte nur das Recht des Hausfreundes, vor der bestimmten Zeit zu kommen, in Anspruch genommen.

»Ich finde, du bist heute abend sehr schweigsam, Adalbert!« sagte Melitta, die Arbeit, an der sie genäht hatte, auf den Tisch legend und sich mit einem freundlichen Lächeln zu Oldenburg wendend. »Ich schwatze dir von den Kindern vor, wie kräftig der Junge geworden ist und wie hübsch Czika in den modernen Kleidern aussieht, und du schaust drein, wie – nun wie nur gleich?«

»Wie der Ritter von der traurigen Gestalt, ohne Zweifel; wenigstens fühle ich mich so von dem Scheitel bis zur Sohle«, erwiderte Oldenburg aufstehend und einen Gang durch das Zimmer machend.

»Daß ich nicht wüßte!« sagte Melitta. »Ich dachte, du nähmest dich in diesem grauen Anzug nach der neuesten Pariser Mode ganz besonders stattlich aus.«

»Ohne Scherz, Melitta; ich bin in der Tat in einer traurigen Gemütsverfassung.«

»Das ist ein allerliebstes Kompliment für mich, die ich nur dir zuliebe – hören Sie wohl, mein Herr, nur, um Ihnen eine, wie ich hoffte, angenehme Überraschung zu bereiten – aus meinem traulichen Nest die lange Reise mit den Kindern hierher mache in diese langweilige Stadt, und mir jetzt am Ende noch sagen lassen muß: Du hättest auch wohl zu Hause bleiben können.«

»Willst du es glauben, Melitta, daß mir dieser Gedanke wirklich gestern und heute schon ein paarmal gekommen ist?«

»Das ist stark!« erwiderte Melitta und wußte im Augenblick nicht, ob sie die Worte Oldenburgs für Wahrheit oder für Scherz nehmen sollte.

Der Baron ließ sie nicht lange in dieser Ungewißheit; er setzte sich wieder zu ihr, ergriff ihre Hand und sagte:

»Liebe Melitta, meine Worte klingen sehr hart, aber frage dich selbst, ob ich als Mann nicht so fühlen und denken muß. Daß ich dir für deine Güte in tiefster Seele dankbar bin, das weißt du, solltest du wenigstens wissen. Auch daß du für mich deinen guten Ruf aufs Spiel setzest, schlage ich so hoch eben nicht an, denn es ist ein jämmerlich Ding um das Urteil der Welt; ich hab's mein Leben lang verachtet. Es ist etwas ganz anderes, was mich hindert, rechte Freude an diesem Wiedersehen zu haben; und ich will dir offen sagen, was dieses Etwas ist. Sieh, Melitta, es ist dem Manne angeboren, daß er für das, was er liebt, auch sorgen und schaffen will, ja noch mehr, daß er die Geliebte in einer gewissen Abhängigkeit von sich sehen will, ich meine: abhängig von seiner Kraft, seinem Mut, seiner Einsicht. An der Unmöglichkeit, das Verhältnis so zu gestalten, ist manche starke Liebe schon gestorben, verzehrt sich manche starke Liebe. So auch meine Liebe zu dir. Ich kann, wie die Sache jetzt liegt, nur, sozusagen, im Vorbeigehen für dich leben, sorgen und schaffen, nicht zu jeder Stunde, jeder Minute, wie ich es wünsche, wie ich es muß, wenn ich glücklich sein will. Auf dem Lande, wo wir, die Nachbarn, ungestört und unbelauscht oft halbe Tage lang beisammensein konnten, ging es noch, und dennoch war das Gefühl der Halbheit so peinlich für mich, daß ich den politischen Verhältnissen dankbar war und gern nach Paris ging, um mir einbilden zu können, es läge zwischen dir und mir nur die Entfernung und weiter nichts. Hier nun aber, in der großen Stadt, überkommt mich das leidige Gefühl mit doppelter Gewalt; ja, es ist, als ob der Moment, in dem wir uns hier getroffen haben, ausgesucht wäre, mir das Verkehrte, das Geschraubte, das Unnatürliche unseres Verhältnisses so recht zu Gemüte zu führen. Wir stehen hier auf einem Vulkan, der jeden Augenblick zum Ausbruch kommen kann. Schon schwankt der Boden unter unseren Füßen, und ehe noch viele Tage vergehen, werden wir unerhörte Dinge erleben. Ich zittere nicht vor der Entscheidung:, im Gegenteil, ich sehne sie herbei, denn sie ist notwendig und wird für uns zum Heile ausschlagen. Aber um in den Tagen der Not und Gefahr, die über unser Volk hereinbrechen, fest zu stehen, um ein ganzer Mann nach außen sein zu können, muß ich erst in mir selbst zur Ruhe kommen, und das kann ich unter diesen Verhältnissen nicht, das kann ich nur, wenn ich weiß, daß ich für Weib und Kinder rede, handle, kämpfe und, wenn es sein muß, falle.«

Des Barons Stimme zitterte, obgleich er sich augenscheinlich Mühe gab, so ruhig und überzeugend wie möglich zu sprechen. Er hatte sich noch näher zu Melitta gebeugt, die ihr schönes Haupt tief gesenkt hatte. Als er schwieg, blickte sie auf und zeigte Oldenburg ein bleiches Gesicht. Sie sagte mit leiser Stimme:

»Wollte Gott, Adalbert, ich könnte dir, um deinet-, um meinet-, um unser aller willen, das Weib sein, dessen du entbehrst.«

»Weshalb kannst du es nicht?«

»Du weißt es.«

»Aber, Melitta; soll denn die Erinnerung an diesen Mann, den du unmöglich noch lieben kannst, von dem du selbst sagst, daß du ihn nicht mehr liebst, uns ewig trennen! Hast du dein Unrecht, wenn es unrecht war, dem Zuge eines Herzens, das sich frei wußte, zu folgen – nicht durch tausend Tränen gesühnt? Bist du mir nicht noch, was du mir immer warst? Und, wenn doch einmal zwischen uns abgerechnet werden soll, hast du mir, wenn du mich würdigst, dein Gatte zu sein, nicht mehr zu vergessen und zu verzeihen als ich dir? Ist es vernünftig, die Frau zu dem Opfer eines rigorosen Sittengesetzes zu machen, über das sich der Mann mit Leichtigkeit hinwegsetzt? Wer hat dies unvernünftige Gesetz geschaffen? Nicht ich, noch du – was sollen darin du und ich sich ihm beugen? Ich sage dir, der Tag der Freiheit, der heraufdämmert, wird diese und noch manche Satzung, die ein finsterer Mönchssinn ausgrübelte, die Natur zu knebeln und zu quälen, aufheben und die Blätter, auf denen sie verzeichnet stehen, in alle vier Winde wehen.«

»Wenn dieser Tag kommt – und wenn er mir kommt«, erwiderte Melitta, »ich will ihn mit freudigem Herzen begrüßen. Ist es wirklich ein Wahn, was mich hindert, in deine Arme zu fliegen und zu sprechen: Nimm mich, ich will dein sein nun und immerdar! – Habe Mitleid mit mir! Ich leide ja ebensoviel darunter wie du; aber Adalbert: Ich bin ein Weib; und das Weib kann wohl auf den Tag der Erlösung hoffen und harren, aber für diesen Tag kämpfen wie ihr, kann es nicht. Und bis dieser Tag kommt, bis ich mich so frei fühle, wie ich mich fühlen muß, wenn ich mit Ehren die Deine sein will, muß es bleiben, wie es ist.«

Melitta hatte dies mit einer leisen, traurigen Stimme gesagt, und Oldenburg fühlte, daß es Grausamkeit sei, weiter in sie zu dringen. Er nahm ihre Hand, küßte sie und sagte:

»Laß es gut sein, Melitta! Ich bin geduldig. Und dann: Der Tag der Erlösung, den du erharrst, muß ja doch einmal kommen.«

In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und der alte Baumann meldete den erwarteten Besuch an. Melitta fuhr sich mit dem Taschentuche über die Augen, während Oldenburg Sophie entgegenging, die von ihrem Gatten und Bemperlein begleitet, soeben zur Tür hereintrat.

Melitta und Sophie sahen sich heute abend zum ersten Male, aber man bemerkte nichts von der Förmlichkeit einer ersten Begegnung. Die beiden Damen hatten voneinander (besonders Sophie von Melitta) so oft und so viel gehört, daß sie sich selbst bis auf die Einzelheiten der äußern Erscheinung bekannt waren. Dennoch betrachteten sie sich, während sie sich die Hände reichten und die ersten Worte wechselten, mit nicht geringer Aufmerksamkeit, wobei denn Sophie die Bemerkung machte, daß Melitta viel weicher und milder erschien, als sie sich die vornehme Dame gedacht hatte, und Melitta umgekehrt, daß Sophie lange nicht so ernst und athenenhaft dreinschaute, wie nach Bemperleins Beschreibung die kluge, geistreiche Tochter des Geheimrats dreinschauen mußte. Auch den Baron Oldenburg sah Sophie heute zum ersten Male ebenso wie er sie, und sie warf vom Sofa aus manchen prüfenden Blick nach dem langen graugekleideten Mann, der in der Mitte des Zimmers mit den beiden Herren plauderte, während er ebenso von seinem Standpunkte aus die beiden Damen beobachtete und fand, daß sie in der üppigen Fülle des gleicherweise weichlockigen Haares und in dem Schnitt und Ausdruck der großen Augen eine gewisse Ähnlichkeit hatten, wie zwei Rosen, von denen die dunklere, vollere den schönen Kelch vollkommen erschlossen hat, während die andere hellere die zart gefärbten Blätter eben erst zum Licht des Tages entfaltet.

An Stoff zur Unterhaltung fehlte es dem Kreise nicht in diesen aufgeregten Tagen, wo eine fieberhafte Unruhe in den Geistern aller wühlte, weil auf alle der Schatten, den die kommenden großen Ereignisse vor sich her warfen, gleicherweise drückte. – »Ich bin im Herzen Republikaner«, sagte Franz, »aber ich trage kein Verlangen danach, die Republik proklamiert zu sehen, weil ich nicht glaube, daß uns das eben wesentlich weiterbringen wird, solange wir das Übel nicht bei der Wurzel erfassen. Des Übels Wurzel sehe ich aber in dem dumpfen Pfaffenglauben, der die Natur der Dinge auf den Kopf stellt und die Menschen statt zu freien Bürgern dieser Erde zu Heloten eines transzendenten Dogmas erzieht, und anstatt die Solidarität der Interessen aller Menschen zu proklamieren, – eine These, welche die Vernunft begreifen und die Tatkraft üben kann, dunkel von einer allgemeinen Bruderliebe lallt, gegen die sich, in dem Sinne wenigstens, wie man sie geist- und sinnlos von tausend Kanzeln und Kathedern predigt, jedes gesunde Gefühl sträubt.«

»Ich weiß nicht, Herr Doktor«, erwiderte Oldenburg, »ob Sie dabei die Wirkung, die ein nach den Prinzipien der Vernunft geordnetes öffentliches Wesen – res publica, meine Damen, nannten es die Römer, und weil diese Bezeichnung die Sache am besten deckt, kommen die modernen Völker, die aus dem geheimen Wesen oder vielmehr der offenbaren Verwesung des Polizeistaates ein freies und fröhliches Leben machen wollen, immer wieder auf sie zurück – ich weiß nicht, sage ich, ob Sie den Unterschied zwischen einer vernunftgemäßen und einer unvernünftigen Staatsform doch nicht zu gering anschlagen. Abgesehen davon, daß die persönliche und, sozusagen, materielle Freiheit die freie Bewegung auf den geistigen Gebieten notwendig im Gefolge hat, so wird auch ganz gewiß die verderbliche Wirkung vernunftwidriger Religionslehren in der Republik viel geringer sein als in einem absoluten Staate, gerade so wie schädliche Dünste, die in einem geschlossenen Raume vielleicht tödlich sind, in der freien Luft ohne Gefahr eingeatmet werden können. Und dazu kommt noch dies: In einem Staate, der despotisch regiert wird, ist es nur zu gewiß, daß die weltliche Tyrannei mit der geistlichen ein Schutz- und Trutzbündnis eingeht, was in einem freien Staate, wo die Gewalt in aller Händen ruht, nicht wohl möglich ist. Das Muckertum in England zum Beispiel – obgleich ich England keineswegs als einen freien Staat im höchsten Sinne des Wortes ansehe – flüchtet sich in einsame Fabrikdistrikte, oder bildet in den Städten obskure Konventikel, um die sich schließlich niemand kümmert; bei uns ist es eine Macht, deren furchtbare Wirkung wir alle gefühlt haben, ein Gift, das sich in allen Adern des Staatskörpers verbreitet und jede gesunde Kraft paralysiert. Um es mit einem Worte zu sagen: In einem freien Staate kann der einzelne noch so krank sein, aber das gemeine Wesen ist und bleibt deshalb doch ein Gemeinwohl; in dem Polizeistaate gibt es wohl gesunde Private, aber das gemeine Wesen ist nur eine große allgemeine Krankheit. Ich möchte, Sie hätten die Verhandlung mit angehört, die ich in Paris mit Berger über die schwere Not einer Zeit geführt habe, die beinahe nur noch problematische Naturen hervorbringt.«

»Wo ist der Professor?« fragte Bemperlein. »Ich hatte der Frau Doktor Hoffnung gemacht, den alten Freund ihres Vaters heute abend hier zu sehen.«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Melitta, »Wissen Sie es nicht, Oldenburg?«

»Nein; ich habe ihn in der Volksversammlung von meinem Arme verloren. Ich glaube indessen sicher, daß er noch kommt.«

»Problematische Naturen«, sagte Franz, der, dem angeregten Gedanken nachhängend, den letzten Teil des Gespräches überhört hatte, »wissen Sie, Herr Baron, daß ich diesen Goetheschen Ausdruck schon in Verbindung mit Ihrem Namen hörte, und zwar aus dem Munde eines Mannes, der mir sehr teuer gewesen ist und an dem auch Sie, soviel ich weiß, großen Anteil genommen haben? – Sie brauchen nicht ungeduldig auf den Tisch zu trommeln, Bemperlein; ich weiß, daß Sie sich ganz gegen Ihre sonstige fromme Denkungsart in einen höchst unfrommen Haß gegen Oswald Stein hineingeredet haben, und ich erwähne unseres gewesenen Freundes hier auch nur, weil er mir, ebenso wie sein Lehrer Berger, immer als ein Typus der problematischen Naturen erschienen ist.«

Da Franz von dem Verhältnis Oswalds zu Melitta auch nicht die mindeste Ahnung hatte, so entging ihm natürlich die Röte, die so plötzlich in den Wangen der Dame aufflammte, daß sie sich, um sie zu verbergen, tief auf ihre Arbeit beugte; und die Heftigkeit, mit der Bemperlein sagte: »Ich dächte, Franz, dieser Mensch wäre einer Erwähnung gar nicht mehr wert«, reizte ihn nur zum Widerspruch.

»Denken Sie das auch, Herr Baron?« sagte er, sich zu Oldenburg wendend. »Sollten Sie auch einen Menschen schonungslos verdammen, dessen größtes Unglück es vielleicht ist, in dieser Zeit geboren zu sein?«

»Nein«, sagte Oldenburg ruhig und ernst, »ich habe das alte Wort, daß wir nicht richten sollen, um nicht selbst gerichtet zu werden, nicht vergessen. Ich habe stets die herrlichen Gaben, mit denen die Natur jenen Mann verschwenderisch ausgestattet hat, aufrichtig bewundert, und es stets lebhaft bedauert, wie ich es dennoch bis zu diesem Augenblick tue, daß ein so reicher Geist wie ein allzu üppig emporgeschossener Baum nur taube Blüten tragen sollte, von denen keine sich zur Frucht entwickelt.«

Während Oldenburg so sprach, hatten seine Augen fest auf Melitta geruht, die jetzt ihr Antlitz wieder erhoben hatte und ihn ihrerseits so prüfend anblickte, als wollte sie ihm bis auf den Grund der Seele schauen. Franz interessierte sich für Oswald noch immer zu sehr, als daß ihn Oldenburgs Worte nicht innig hätten erfreuen sollen. Er erwiderte deshalb in lebhaftem und herzlichem Ton:

»Ich war überzeugt, daß Sie so über Herrn Stein urteilen würden. Weiß ich doch aus Steins eigenem Munde manche Äußerungen von Ihnen, die mir bewiesen, ein wie tiefes Verständnis Sie für seinen Seelenzustand hatten, und zeigte mir doch Ihre Intimität mit Berger, daß Sie ein Arzt sind für die Kranken, nicht aber für die Gesunden, – lieber Bemperlein, die bekanntlich keines Arztes bedürfen. Berger und Stein sind zwei Naturen, die sich in Anlagen, Temperament und Charakter in überraschender Weise gleichen. Wie hätten sie, die sich an Jahren so verschieden sind, auch sonst so schnell innige Freundschaft schließen können – eine Freundschaft, die, fürchte ich, mehr als alles dazu beigetragen hat, in Stein die ausschweifenden Ideen zu nähren und zu befestigen, die ihn über kurz oder lang zum Wahnsinn oder Selbstmord führen müssen.«

»Aber Sie sehen doch, Franz«, sagte Bemperlein, »daß Berger den Alp seiner Krankheit, die jedenfalls mehr physische als psychische Ursachen hatte, glücklich von sich abgeschüttelt, und dadurch allein bewiesen hat, daß in ihm eine ganz andere Kraft steckt als in Stein.«

»Den Tag nicht preisen, bevor der Abend kommt!« erwiderte Franz. »Ich wünsche natürlich so lebhaft wie jeder von Ihnen, daß der Professor vollständig genesen sei, aber ich kann als Arzt nicht anders sagen, als daß ich einen Rückfall keineswegs für unmöglich halte, und wenn ich nicht sehr irre, Bemperlein, so erwähnten Sie noch gestern abend, daß mein verstorbener Schwiegervater sich genauso über seinen Zustand ausgesprochen habe.«

»Aber das wäre ja entsetzlich!« sagte Melitta.

»Ich behaupte nicht, gnädige Frau, daß es so kommen wird, ich sage nur, daß es so kommen kann.«

»Haben Sie an Berger in der letzten Zeit etwas Besonderes bemerkt?« fragte Melitta, zu Oldenburg gewandt.

»Ja«, sagte dieser nach einigem Bedenken, »ich kann es nicht leugnen, daß mir in den letzten Tagen sein Wesen viel aufgeregter vorgekommen ist. Seit der Februar-Revolution, an der wir, wie Ihnen bekannt sein wird, tätigen Anteil genommen haben, scheint eine fieberhafte Ungeduld in ihm zu wühlen, die mich oft an die Unruhe eines Löwen erinnert hat, der grollend hinter seinem Käfiggitter rastlos auf und ab geht. Die Minuten werden ihm zu Stunden, die Tage zu Wochen. Vergeblich, daß ich ihn daran erinnere, die Geschichte der Ideen zähle nach Jahrtausenden. – ›Ich habe keine Zeit‹, ist seine stete Antwort, ›wenn Sie wie ich vierzig Jahre durch die Wüste gewandert wären, würden Sie die Sehnsucht des müden Pilgers, nur einmal die Luft des gelobten Landes der Freiheit zu atmen, begreifen. Dieses Zaudern und Zagen, dieses Schwanken und Wanken werden mich nur zur Verzweiflung bringen‹. – Aber meine Herren, was ist das?«

Alle lauschten. Von ferne her kam, das Rasseln der Wagen übertönend, ein gleichförmig zitternder dumpfer und doch starker Ton.

»Es ist der Generalmarsch«, sagte Oldenburg, und seine Wangen röteten sich, »ich kenne den Klang.«

Oldenburg hatte diese Worte kaum gesprochen, und die Gesellschaft erhob sich eben, um an die Fenster zu treten, als die Tür aufgerissen wurde und ein Mann in das Zimmer stürzte, in dem man Berger kaum noch wiedererkennen konnte. Sein langes graues Haar hing in wahnsinnigen Streifen um sein Haupt; Gesicht und Bart waren mit Blut besudelt, das aus einer Wunde auf der Stirn zu kommen schien; sein Rock war hier und da zerfetzt, als wenn scharfe Instrumente hineingeschnitten oder -gestochen hätten. Seine Augen glühten, sein Atem keuchte, als er jetzt, dicht an den Tisch herantretend und die Gesellschaft anstarrend, mit heisern Tönen rief:

»Auf! Auf! Ihr sitzt und schwatzt, während draußen eure Brüder und Schwestern gemordet werden! Auf! Auf! Mit diesen unsern bloßen Händen wollen wir ihre Bajonette zerbrechen und die Henkersknechte erwürgen.«

»Er wird ohnmächtig«, rief Franz, indem er Berger, der schon, während er sprach, wie ein Trunkener geschwankt hatte und jetzt zusammenbrach, in den Armen auffing.

Die Männer sprangen hinzu und trugen den Ohnmächtigen auf das Sofa.

»Etwas Eau de Cologne, gnädige Frau«, sagte Franz, »danke, ängstigen Sie sich nicht, es hat diesmal noch nichts zu sagen, aber ich fürchte für die Zukunft.«

Die Gesellschaft umstand den Kranken, dessen Atemzüge ruhiger wurden, während draußen der Generalmarsch in der Ferne verhallte.


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