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Vierundzwanzigstes Kapitel

Es war spät am Abend desselben Tages. In der Pensionsanstalt des Fräulein Bär waren die Fenster schon seit zwei Stunden dunkel, bis auf eins, das nach dem Garten hinter dem Hause sah. Das Licht kam aus einer Lampe, welche ganz in der Nähe auf einem Bureau stand, und an diesem Bureau saß Helene von Grenwitz und schrieb:

»Du Kluge, Stille, mit Deinen klugen, stillen blauen Augen! Ach, wer wie Du so stets sich selber gleich durch das Leben gehen könnte! Wer doch wie Du in sich selbst den Frieden hätte, in dem sich wie in einem tiefen stillen See alles in klaren Farben und scharfen Umrissen spiegelt! Was Dir heute gut erscheint, erscheint Dir auch morgen so; was Du heute für recht hältst, erklärst Du auch morgen nicht für unrecht. Das Maß, mit dem Du die Menschen missest, ist das unwandelbar gleiche, strenge; wer es nicht erreicht, den erkennst Du nicht für Deinesgleichen und behandelst ihn danach heute wie morgen und alle Tage mit der milden Freundlichkeit, die im Grunde eine kühle Gleichgültigkeit ist, und um die ich Dich so oft beneidet habe. – Wie ist das alles bei mir so anders, so ganz anders! Mein Herz ist ein wildbewegtes Meer und die Bilder des Lebens verzittern darin, schwankend und wechselnd und mich ängstigend wie ebenso viele Gespenster. Zwar auf der Oberfläche! – Nun ja, da ist's scheinbar ruhig genug – wenigstens sagen es die Leute und ich fühle es selbst; aber in der Tiefe? Da kocht es und wühlt es – da keimen Wünsche, die ich mir kaum selbst zu gestehen wage; da sprießen Gedanken, vor denen ich selbst erschrecke; da blüht die Sehnsucht nach einem unsäglich hohen, unsäglich köstlichen Glück, die Sehnsucht, die ich Dir oft – und ach, niemals so, wie ich sie wirklich fühle – geklagt habe und die Du lächelnd in das Reich der Träume verwiesest. Solltest Du recht haben? Sollte die Stimme, die oft in stiller Nacht – wie jetzt – aus meiner Seele ruft, klagend, sehnsuchtsvoll, verzweifelnd – nie ein Echo finden? Mir glüht die Stirn – meine Augen brennen – mein Herz pocht in ungeduldigen Schlägen. Was willst du, ungestümes, wildes Herz? Liebe? Ja! Macht und Ehre und Glanz und Herrlichkeit? Ja! – Wie aber, wenn du beides nicht auf einmal haben kannst; wenn da das eine oder das andere opfern müßtest? Wie dann? Was willst du opfern? Die Liebe – nein! Die Herrlichkeit? nein, o nein! – Nun denn! So poche rastlos unbefriedigt weiter und quäle mich ohn' Erbarmen, bis diese Hand und dieses Haupt es müde werden, deine fiebernden Schläge zu zählen.

Ich sehe Deine weichen blauen Augen erwartungsvoll auf mich gerichtet; ich sehe auf Deinen Lippen die Frage zittern: Was hast du, dearest? Oh, Liebste, Teuerste, Du sollst es mir sagen. Seit einiger Zeit verstehe ich mich selbst nicht mehr.

Ich schrieb Dir, daß ich Herrn St. zufällig vom Fenster aus wiedergesehen habe, und daß ich sehr wünschte, ihn einmal allein zu sprechen. Dieser Wunsch sollte noch an demselben Tage in Erfüllung gehen. Ich traf ihn bei Fräulein R. und er begleitete mich, da die Dienerin nicht kam, nach Hause. Wir hatten unterwegs ein Gespräch, das mich sehr erregte, da es von Bruno handelte, und ich hatte endlich Gelegenheit, Herrn St. den Dank abzustatten, den ich ihm von meiner Verlobungsaffäre her schuldete. Ich war tief bewegt, als er vor der Tür Abschied von mir nahm. Der Zauber, den dieser Mann stets auf mich ausgeübt hat und den ich nur von mir abzuschütteln vermag, wenn ich von ihm nichts sehe und höre, war in seiner Nähe wieder mächtig geworden. – Ich fühlte das und gerade deshalb – Du kennst mich – vermied ich es nicht, ihn wiederzusehen, obgleich ich es leicht gekonnt hätte.

Zwei Abende darauf traf ich ihn abermals, ebenfalls bei Fräulein R. Diesmal war, als wir nach Hause gingen, die Dienerin zugegen, aber da wir französisch sprachen – das Herr St. entzückend schön spricht; er sagte mir, er sei durch Abstammung ein halber Franzose –, war unsere Unterhaltung doch ungeniert. Was die zwei Tage gut gemacht hatten, verdarben diese zwei Stunden Zusammensein wieder, und ich erkannte zu meiner größten Beschämung – und mit Röte der Scham auf den Wangen schreibe ich es nieder –, daß das Gefühl, das mich in seiner Nähe überkommt, stärker ist als mein Stolz. Nicht, als ob er mir durch Geisteshoheit, durch Manneskraft eben imponierte! Durchaus nicht. Er gleicht, streng genommen, gar nicht dem Ideal, das ich von dem Helden, den ich lieben könnte, im Herzen trage: Aber es ist in dem Ton seiner Stimme, in dem Blick seiner großen blauen Augen, in seinem ganzen Wesen ein Etwas, das mich unsäglich rührt. Und dann – ich will Dir ja alles sagen –, ich weiß, daß er mich liebt, und wie es wohl unter diesen Verhältnissen nicht anders sein kann, hoffnungslos liebt, und das macht mir ihn wert wie den Dolch mit der blanken Damaszenerklinge und dem goldenen Griffe, den ich als Mädchen von zwölf Jahren einmal in der Rüstkammer von Grenwitz fand, wie einen herrlichen Schatz mit mir auf mein Zimmer nahm und von dem ich mich seitdem nicht wieder getrennt habe. Ich weiß es – Oswald und der Dolch – sie beide gehören mir, nur mir. Es ist so unendlich süß, etwas sein eigen zu nennen, von dem niemand weiß, niemand ahnt und das doch zu uns stehen wird, uns helfen wird in der letzten Gefahr, wenn alle andern uns verlassen haben. Wenn ich Oswalds Blick auf mich gerichtet sehe, so ist mir zu Sinnen, wie wenn ich den Dolch halb aus seiner sammetnen Scheide zücke und in der Sonne funkeln lasse.

Aber es liegt Gefahr in diesem Funkeln. Wie oft hab' ich die Waffe dann ganz herausgezogen, die haarscharfe Spitze mir aufs Herz gesetzt und zu mir gesagt: Ein Druck – und du atmest nicht mehr. Und es liegt Gefahr in der Nähe dieses Mannes; ein Wort von ihm, und er hat aufgehört für mich zu leben, und wenn ich schwach genug wäre, es zu erwidern. – – Ich darf nicht daran denken; nicht daran denken, wie nah ich schon dem Abgrund gestanden habe!

Ich hatte mir vorgenommen, nicht wieder zu Fräulein R. zu gehen und diesen Entschluß auch durchgeführt. Vorgestern gegen Abend, als ich allein im Garten war – die andern waren, Fräulein Bär an der Spitze, auf ihrem gewöhnlichen Spaziergange –, hörte ich das Brausen des nahen Meeres so deutlich, daß mich eine unwiderstehliche Sehnsucht befiel, mein Lieblingselement einmal wieder von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Unser Garten stößt an eine Parkanlage, die sich unmittelbar bis ans Ufer erstreckt. Sie gehört der Stadt und ist, wie ich höre, im Sommer eine gesuchte Promenade. Im Herbst aber, noch dazu in dieser kühlen, feuchten Abendstunde, hatte ich in den breiten Alleen unter den hohen Bäumen nie jemand bemerkt. So öffnete ich denn die nicht einmal verschlossene Pforte und trat hinaus. Es war dunkler im Park, als es im Garten gewesen war; lauter rauschte der Abendwind durch die kahlen Äste der mächtigen Buchen; deutlicher hörte ich das Brausen der See. Unter meinen Füßen raschelte das Laub; über mir krächzten ein paar Krähen, die auf den schwankenden Zweigen keine Ruhe finden mochten. Ich hüllte mich fester in meinen Schal und schritt weiter. Das mit jedem Augenblick tiefer hereinsinkende Dunkel und der kühle feuchte Atem des Waldes und des Meeres übten den alten Zauber auf mich aus, den ich so oft als kleines Mädchen empfunden hatte. Ich verspürte nicht die mindeste Furcht; die Seligkeit, einmal mit mir und meinen Gedanken allein zu sein, allein in einer Umgebung, die so ganz zu meinen Gedanken stimmte, ließ ein solches Gefühl gar nicht aufkommen. Ich eilte weiter und immer weiter wie in einem Traum, bis ich an das Ende der großen Allee kam. Dort öffnet sich ein kleiner von hohen Bäumen fest überwölbter Platz, dessen eine Seite vom Meere selbst begrenzt wird, das bis unmittelbar an das mäßig hohe, aber steile Ufer brandet. Ein eisernes Geländer faßt den Rand ein. Bänke stehen hier und da für die Spaziergänger, die sich, von der Wanderung ermüdet, an der Kühle des Platzes und der Aussicht auf das Meer erquicken wollen. Ich lehnte mich auf das Geländer und blickte hinein in die dunkelnde und im Dunkel leuchtende Wasserwüste und sah Welle auf Welle rastlos heranrollen und auf den glatten Kieseln des schmalen Vorstrandes zerschäumen. Ihr Donnern, das jedes andere Geräusch übertäubte, war Wiegengesang für mein wildes Herz und lullte mich in wunderliche Träume von einem Glück, das tief und grenzenlos war, wie das tiefe, grenzenlose Meer, an dessen im Dunkel verzitterndem Horizont mein Blick hing; und – hätte das Glück sonst einen Reiz für mich! – ebenso voll schauerlicher Geheimnisse und unberechenbarer Gefahren.

Da schlug in unmittelbarster Nähe eine Menschenstimme an mein Ohr. Ich fuhr aus meiner gebückten Stellung in die Höhe, und vor mir stand Herr St.

›Ich bitte um Verzeihung‹, sagte er, ›wenn ich Sie in Ihren Phantasien störe; aber der Zufall, Sie zu dieser Stunde an diesem Platze zu treffen, ist zu seltsam, als daß ich darin nicht etwas mehr als einen bloßen Zufall erblicken sollte.‹

Ich war über diese plötzliche Begegnung so erschrocken, und das Unpassende meines Schritts wurde mir mit einem Male so klar, daß ich kalt und scharf erwiderte:

›Wie meinen Sie das, mein Herr? Ich will hoffen, daß es in der Tat ein Zufall ist, was mir in diesem Augenblick das Vergnügen Ihrer Gegenwart verschafft.‹

Er trat einen Schritt zurück.

›Verzeihen Sie, mein gnädiges Fräulein‹, sagte er, ›ich wußte nicht, daß meine Gegenwart Ihnen so lästig sei.‹

Er verbeugte sich und ging.

Der Ton, in dem er gesprochen hatte, schnitt mir ins Herz. Als er ein paar Schritte fort war, konnte ich's nicht länger ertragen. Ich nannte seinen Namen. Im nächsten Augenblick war er wieder an meiner Seite.

›Herr St.‹, sagte ich, ›verzeihen Sie mir. Ich war erschrocken! ich wußte nicht, was ich sagte.‹

›Nein, nein‹, sagte er, ›Sie hatten ganz recht. Es ist kein Zufall, der uns hier zusammenführt; von meiner Seite wenigstens nicht. Ich sah Sie in den Park treten; ich bin Ihnen gefolgt; ich hatte Sie keinen Augenblick aus den Augen verloren.‹

›Und kommen Sie häufiger hierher?‹ fragte ich, indem wir anfingen, die lange Allee wieder hinaufzugehen.

›Ja‹, erwiderte er, ›für einen Unglücklichen sind das Dunkel und die Einsamkeit die passendsten Gefährten.‹

Ich hatte nicht den Mut zu fragen, weshalb er unglücklich sei; wir gingen schweigend nebeneinander weiter. Ich beschleunigte den Schritt, denn der alte Zauber kam wieder über mich und ich wollte ihm entfliehen. Nach wenigen Minuten näherten wir uns der eisernen Gittertür, die aus dem Park in den Garten führt. Zwischen den dichten Büschen, unter den hohen Bäumen war es sehr dunkel. Mein Herz schlug zum Zerspringen. Ich war fest entschlossen, koste mich es auch das Leben, seine Liebe, sollte er jetzt von Liebe sprechen, zurückzuweisen und dennoch – dennoch wünschte ich, daß er spräche, zürnte ich ihm, daß er nicht sprach. Es waren vielleicht nur wenige Sekunden, aber sie dünkten mich eine Ewigkeit – eine Ewigkeit von Furcht und Hoffnung. Da standen wir an der Tür. Oswald öffnete sie. Ich dankte ihm und wünschte ihm gute Nacht. Er antwortete nur mit einer schweigenden Verbeugung. Als die Tür hinter mir in das Schloß fiel, zuckte ich zusammen, wie ein Gefangener, der das Kerkertor, das ihn für immer vom Leben trennt, hinter sich zuschlagen hört. Ich wollte im ersten Augenblick die Hand durch das Gitter strecken und ihm sagen – ich weiß nicht was – aber ich bezwang mich und ging, ohne mich umzusehen, raschen Schrittes nach dem Hause. Und als ich auf meinem Zimmer angekommen war, habe ich mich auf das Sofa geworfen und bitterlich, bitterlich geweint, wie ich nie in meinem Leben geweint habe, nie geglaubt hatte, daß Helene von Grenwitz weinen könne.

Dann aber raffte ich mich empor und schwor mir zu, diese Schwäche, die mich so tief gedemütigt, koste es, was es wolle, zu überwinden. Ist doch mein Stolz mein einzig Gut, die blanke Waffe, mit der in der Hand ich mich jedem Gegner gewachsen fühle; selbst meiner Mutter! – Ich dachte mit Schaudern an den Moment, wo ich mich in dem Bewußtsein, mich vor mir selbst erniedrigt zu haben, auch vor ihr erniedrigen müßte; wo ich ihr nicht mehr mutig in die großen, kalten, strengen Augen schauen könnte! Ich wußte, wußte es mit unumstößlicher Gewißheit, daß dieser Moment mein letzter sein würde.

Und so begab ich mich hernach zu Bett; aber es wollte kein Schlaf in meine Augen kommen. Ich lag da, die Hände über der Brust gekreuzt, und wiederholte mir unablässig, was ich mir zugeschworen, und wenn das Herz vor einem unsäglich jammerreichen Gefühl, das mir die Tränen in die Augen trieb, so schwer, ach so schwer wurde – so setzte ich die Spitze des Dolches auf das ungehorsame, rebellische Herz, und dann wurde es wieder ruhiger, demütiger; es mochte fühlen, daß es in dem Kampfe zwischen Stolz und Liebe doch keine Aussicht auf den Sieg habe. Zuletzt schlief ich ein und träumte, ich sei mit meiner Mutter versöhnt. Sie bedeckte mich mit Küssen und Juwelen; aber die Küsse waren eisig und die Juwelen erkälteten mich bis ins innerste Mark. Doch ließ ich es geschehen, und sie nahm mich bei der Hand und führte mich durch dunkle Gänge in das hellerleuchtete Schiff einer Kirche, das voll Menschen war. Die Augen aller dieser Menschen waren starr auf mich gerichtet. Dann war es plötzlich nicht mehr meine Mutter, die mich an der Hand hielt, sondern ein großer fremder Mann in einer Uniform, die von Gold und Diamanten blitzte. Das Gesicht konnte ich nicht sehen, er hielt es beständig nach der andern Seite gewandt. So traten wir an den Altar, auf dessen Stufen der Priester stand. Die Orgel brauste und Gesang flutete durch die hohen Hallen. Über dem Priester hing ein großes Kruzifix, so wie in der Kapelle von Grenwitz eins hängt, das ich oft als Kind voll Grausen betrachtet habe. Auch jetzt kam dieses Grausen wieder über mich, denn das Bild schüttelte, während er sprach, immer mit dem Kopfe, und als ich genauer hinsah, trug es die Züge von Oswald, aber verzerrt und totenbleich, und in der Seite des Bildes stak mein Dolch bis an den goldenen Griff und schwarze Blutstropfen fielen lang und langsam herunter. Da öffnete es den Mund und schrie laut auf, laut und gellend und vor dem Schrei zerstob die Menge, die Gewölbe krachten zusammen, und der Mann an meiner Seite wurde zum Gerippe. Vergebens, daß ich mich seinem Griff zu entziehen suchte. Es umschlang mich mit seinen Knochenarmen und fuhr mit mir hinab in finstere Tiefen – schneller, immer schneller, bis ich vor allem Entsetzen erwachte. Der trübe Herbstmorgen blickte in mein Zimmer, aber noch immer glaubte ich, die Posaunen zu hören, und es dauerte geraume Zeit, bis ich mich überzeugen konnte, daß es die Hörnertöne eines Trauermarsches waren von einem militärischen Leichenzug, der an dem Hause vorüber nach dem nahen Friedhofe ging.

Ich versuchte zu lächeln über den wunderlichen Traum, und es gelang mir – weil ich es wollte, weil ich den leeren Schreckensbildern einer aufgeregten Phantasie keinen Einfluß auf meine Entschlüsse zugestehen wollte. Überdies konnte ich mir bei ruhiger Überlegung wohl erklären, wie ich zu diesem Traum gekommen war. Am Abend vorher hatte ich Oswald im Schmerz von mir Abschied nehmen sehen; an diesem Tage sollte ich meiner Mutter nach langer, langer Zeit zum ersten Male gegenübertreten. Mein Vater hatte diese Zusammenkunft vermittelt; er wünschte, mich auf einer Gesellschaft zu haben, die man zu geben beabsichtigte – ich mochte dem guten Vater diese Bitte nicht abschlagen.

Ich ging am Morgen zur Visitenzeit hin. Das Wiedersehen war weniger peinlich, als ich erwartet hatte. Es war glücklicherweise viel Besuch da – Clotens, Barnewitzens usw., auch ein Offizier – ein Fürst Waldernberg – ein außerordentlich stattlicher, stolzer, wenn auch nicht schöner Mann. Er ließ sich mir natürlich vorstellen und bat mich um den ersten Walzer. Bald darauf brach der Besuch auf, ich mit. Emilie von Cloten – ich habe Dir schon von ihr geschrieben – gratulierte mir, während sie mich in ihrer Equipage nach der Pension zurückfuhr, zu meiner »Eroberung«. Ich erwiderte ihr, daß ich für Eroberungen, die so leicht zu machen wären, danke. ›Das ist Geschmackssache‹, antwortete Emilie lachend. ›Ich für mein Teil finde, daß, was man nicht im Fluge erobert, nicht des Eroberns wert ist. Bei mir heißt es immer: l'amour ou la vie. Freilich, ich bin eine Schwalbe und lebe von Mücken. Königsadler wie du müssen eine stolze Beute haben, die sich auch nötigenfalls zur Wehr setzen kann. Mir ist diese fürstliche Beute, offen gestanden, zu stolz. Aber für dich – c'est autre chose. Gleich und gleich gesellt sich gern.‹

Die leichtfertigen Worte der Schwätzerin hatten meine Neugier rege gemacht; ich nahm mir vor, während der Gesellschaft den Fürsten etwas genauer zu beobachten. In der Stimmung, in der ich war, kam es mir gelegen, meinen Stolz an dem Stolz eines andern zu messen. Hatte ich mir doch zugeschworen, nie wieder einem weicheren Gefühl Eingang in mein Herz zu verstatten; und da war es mir eine Art von Beruhigung, daß es noch andere Menschen gäbe, die ebenso dächten wie ich.

Meine Mutter empfing mich am Abend des folgenden Tages mit einer Güte – die ich zum mindesten nicht um sie verdient hatte. Es war offenbar ihre Absicht, mir zu zeigen, daß sie es auf eine wirkliche Versöhnung abgesehen habe. Sie küßte mich auf die Stirn, nahm mich bei der Hand und führte mich zu den Damen, die mich ebenfalls mit Zuvorkommenheit überhäuften. Es schien, als ob das ganze Fest nur meinethalben gefeiert würde; als ob sich alles nur um mich drehte. Wo ich saß und stand, hatte ich einen Kreis von Herren und Damen um mich wie eine Königin.

Es war das erste Mal, seit ich von Grenwitz fort bin, daß ich mich wiederum unter meinesgleichen in stattlich schönen Zimmern bewegen konnte. Ich fühlte, deutlicher, als ich es je gefühlt, daß dies die Umgebung sei, in der ich einzig frei auftreten, daß dies die Luft, in der ich einzig frei atmen könne, daß ich, mit einem Worte, zum Herrschen und nicht zum Dienen geboren sei. Es erschien mir auf einmal als eine keineswegs schwere Aufgabe, den Schwur zu halten, den ich in der Nacht mit glühenden Tränen in meine Seele gebrannt hatte; ich lächelte über – die Phantasien des Mädchens in der Pension! Und lächelnd nahm ich die Huldigungen entgegen, die man mir verschwenderisch zu Füßen legte.

Unter diesen Huldigenden befand sich auch Fürst Waldernberg. Ich brauchte mich nicht näher nach seinen Verhältnissen zu erkundigen. Alle Welt beeilte sich, mir darüber Auskunft zu geben. Er ist ein geborener Russe und unermeßlich reich. Die Güter seiner Mutter, einer Fürstin Letbus, liegen in allen Teilen Rußlands; Fürst von Waldernberg ist er ebenfalls durch seine Mutter, die aus diesem Hause stammt. Seit er zur Sukzession kam, ist er aus russischem in unsere Dienste getreten. Sein Vater ist ein Graf Malikowsky. Die Eltern leben noch beide, er ist das einzige Kind. Du siehst, liebe Mary, hier tritt zum ersten Male in meinen Briefen ein wirklicher Grande auf, der euren stolzen Herzögen und Marquis ebenbürtig ist; und ich dachte an Dich, während die schwarzen Augen des Fürsten, mochte er noch so fern von mir stehen, beständig zu mir herüberblitzten, ob ich in Deinen Augen, wärest Du zugegen, wohl ein aufmunterndes Lächeln sehen und darin lesen würde: Er ist Deiner wert! Ich hoffe es, denn das Aussehen und die Haltung des Fürsten sind so vornehm wie sein Rang. Ich bemerkte mit einiger Beschämung, wie traurig sich unsere jungen Herren neben ihm ausnahmen und wie sich alle vergeblich bemühten, seine Art zu gehen und sich zu tragen, nachzuäffen. Er unterhielt sich mehrmals angelegentlich mit mir. Eine seiner Äußerungen ist mir im Gedächtnis geblieben, weil sie mir aus der Seele gesprochen war. Ich fragte ihn, weshalb er, der Tausende und aber Tausende von Leibeigenen habe, in der Armee diene wie unsere jungen Adeligen, die nichts auf der Welt besäßen als ihren Degen? ›Weil‹, antwortete er, ›ich zu stolz bin, da herrschen zu wollen, wo ich es nicht im strengsten Sinne des Wortes kann.‹ – ›Wie das, Durchlaucht?‹ – ›Ich bin nicht Souverän. Meine Ahnen waren es; ich muß jetzt büßen für die Schwäche meiner Ahnen.‹ – ›Würden Sie nicht die Oberhoheit aufgegeben haben?‹ – ›Nimmermehr!‹ erwiderte er – und es war dies das einzige Mal, wo ich eine Art von Bewegung in seinem kalten, stolzen Gesicht sah. – ›Nimmermehr! Tausendmal lieber mein Leben! Aber‹, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu, ›ich kenne jemand, der auch lieber sterben, als sich demütigen würde.‹ – ›Und wer wäre das?‹ – ›Sie selbst, mein gnädiges Fräulein.‹

Die Gesellschaft endete tief in der Nacht. Papa ließ mich in unserer Equipage nach Hause fahren. Mama versprach, am nächsten Tage – das war heute – meinen Besuch zu erwidern. Wirklich war sie am Vormittag bei mir. Sie war wiederum sehr gütig, sagte mir viel Schmeichelhaftes über mein Benehmen gestern abend und daß sie (ebenso wie der Vater) dringend wünsche, mich wieder bei sich zu Hause zu haben. Indessen sollte es ganz bei mir stehen, ob ich überhaupt, und wann ich zurückkommen wollte. ›Du hast nicht ganz deinen freien Willen gehabt, als du gingst‹, sagte sie, ›so will ich wenigstens die Beruhigung haben, daß dein Kommen ganz freiwillig ist.‹

›Und Vetter Felix?‹ – ›Er reist in einigen Tagen nach Italien. Es versteht sich von selbst, daß ich dir nicht zumute, mit ihm zusammen in unserm Hause zu sein.‹

In der Tat, wenn meine Mutter es nicht redlich mit mir meint, so hat sie zum mindesten den rechten Weg zu meinem Herzen getroffen. Ich bin halb und halb entschlossen, zu tun, wie sie und der Vater wünschen.« –

Das junge Mädchen saß, die Arme über dem Busen gekreuzt, in den Stuhl zurückgelehnt und starrte, in Träumen versunken, vor sich hin. Mechanisch horchte sie auf das Sausen des Nachtwindes in den Pappeln vor dem Fenster, in das sich von Zeit zu Zeit der dumpfe Donner des am Ufer aufrauschenden Meeres mischte. Diese Musik rief mit den Erinnerungen frühester Kindheit ganz andere Empfindungen wach als die, in die sie sich zuletzt hineingeschrieben. Da plötzlich fuhr sie zusammen und lauschte atemlos nach dem Fenster. Durch die klagenden Laute des Windes ertönte der Gesang einer weichen, tiefen Stimme.

Dann rauschte der Wind wieder laut auf, und die Stimme verwehte; dann klang es wieder deutlich herauf.

Helene bebte an allen Gliedern. Sie wußte, daß der Sänger nicht bis in das hochgelegene Zimmer sehen konnte; aber ihr war, als ob seine Augen – die blauen träumerischen Augen – auf ihr ruhten. Sie wagte nicht, sich zu rühren, sie wagte kaum zu atmen. Noch einmal, aber schon ferner, kaum noch vernehmlich, sang es – ›Und muß nun sterben so jung!‹

Helene dachte des Bildes im Traum, des blassen Gekreuzigten, der so wehmutvoll sein Haupt schüttelte, als der Priester über sie den Segen sprach; und sie dachte an den Dolch, der bis zum goldenen Griff ihm in die Seite gestoßen war, und an die Blutstropfen, die lang und langsam herunterfielen, und sie drückte schaudernd ihr Antlitz in beide Hände.


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