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Achtzehntes Kapitel

Die Dienstwohnung des Gymnasialdirektors Doktor Moritz Klemens prangt heute abend in ungewöhnlichem Glanz. Nicht nur sind in der »guten Stube« und in der Wohnstube die Überzüge von sämtlichen Sofas, Sofakissen und Stühlen entfernt und über die enthüllte Pracht herrlichster Stickereien das verschwenderische Licht zweier Lampen und eines halben Dutzend Stearinkerzen ausgegossen; auch das Studierzimmer des Direktors auf der einen und das Wohn- und Schlafgemach der beiden Töchter auf der andern Seite sind durch Wegräumung des Arbeitstisches hier und der Betten dort in Salons umgeschaffen und ebenfalls mit je einer Lampe und drei Kerzen erleuchtet worden. Durch sämtliche Räume wallt der aromatische Duft des Räucherpulvers.

»Ich dächte, unsere lieben Gäste ließen etwas lange auf sich warten«, sagt Direktor Klemens, zum zwölften Male seit den letzten zwölf Minuten nach seiner Uhr sehend, während er in nervöser Erregung im Zimmer auf und ab wandelt.

»Ich begreife auch nicht, wo die Leutchen bleiben«, sagt Frau Direktor Klemens, sich für einen Augenblick auf dem Sofa niederlassend und die erhitzte Stirn mit dem Taschentuche trocknend, »ich hatte Doktor Stein noch ausdrücklich gebeten, ja vor sieben hier zu sein, weil ich seine Rolle noch mit ihm durchgehen wollte.«

»Wird er denn den Hauptmann lesen können?« meint Fräulein Thusnelde Klemens, vor dem Spiegel ihren Kopfputz in Ordnung bringend.

»Du denkst, dein Wimmer kann ganz allein gut lesen«, ruft Fräulein Fredegunde Klemens aus dem Nebenzimmer her, wo sie ebenfalls vor dem Spiegel noch mit ihrer Toilette beschäftigt ist.

»Mindestens liest er so gut wie Breitfuß«, erwiderte Fräulein Thusnelde in gereiztem Ton.

»Aber Kinder, ihr werdet euch doch nicht noch gar zanken«, sagt die Mutter beschwichtigend.

»Fredegunde kann das Necken nicht lassen«, sagt Thusnelde.

»Und du willst immer oben hinaus!« ruft Fredegunde, in der Tür erscheinend.

»Um Gottes willen, Kinder, ich bitte euch, seid still«, flüstert Doktor Klemens mit ängstlicher Stimme, die Hände wie flehend erhebend, »ich höre jemand auf dem Vorsaal.«

In der Tat wird in diesem Augenblick von dem Dienstmädchen die Tür geöffnet, und herein schreiten: Herr Professor Snellius, Frau Professor Snellius und Fräulein Ida Snellius.

Der gestörte Familienfriede der Familie Klemens ist sofort wiederhergestellt. Man begrüßt die Eintretenden so herzlich wie möglich.

Die lange Begrüßung zwischen den Familien Klemens und Snellius ist noch nicht zu Ende, als sich abermals die Tür öffnet, um den Doktor Kübel nebst Frau und Tochter einzulassen. Ihnen folgen die Herren Doktoren Wimmer und Breitfuß.

»Da wäre ja unser Kränzchen nun wohl beisammen«, sagt Direktor Klemens, sich sanft die Hände reibend und die Stimme mäßig erhebend, »und nur unsere lieben Gäste fehlen noch.«

»Unsere Gäste, liebster Kollega?« sagt Professor Snellius, »ich denke, es handelt sich nur um den Singularis von hospes.«

»Minime!« ruft der Direktor, »ich habe Ihnen, meine Damen und Herren, heute abend einen Dualis, ja sogar einen Pluralis von Überraschungen zugedacht. Es werden außer unserem neuen Kollegen Stein noch zwei Gäste kommen, von denen ich mir für unseren geselligen Kreis sehr viel verspreche. Raten Sie, wer?«

»Aber, Moritz, es sollte ja eine Überraschung sein«, sagt Frau Klemens in vorwurfsvollem Ton.

»Ich glaube, Liebe, es ist besser, wir bereiten das Kränzchen darauf vor. Ist es doch unser Wunsch, die Betreffenden nicht bloß für einen Abend als Gäste zu haben, sondern sie dauernd für unser Kränzchen zu gewinnen, und müssen wir doch zu diesem Zweck nach den Statuten, die du selbst entworfen hast, die Einwilligung sämtlicher Beteiligten haben.«

»Wer ist es, Herr Direktor?« fragt Doktor Wimmer. »Sie spannen uns auf die Folter.«

»Ein Herr, dessen Name in der Gelehrtenrepublik einen guten Klang hat, und eine Dame, die für Sie als lyrischen Dichter von ganz besonderem Interesse sein wird, Kollege Wimmer.«

»Eine Dame?« ruft Herr Wimmer, indem er sich mit der Hand durch sein sorgsam gepflegtes reiches Haar fährt, für welche unzeitige Regung der Eitelkeit er durch einen strafenden Blick der Dame, deren Locke er auf dem Herzen trägt, bedacht wird.

»Ja, eine Dame, Kollege, ein hochbegabtes lyrisches Talent.«

»Ohne Zweifel Primula; ich meine Frau Konsistorialrat Jäger«, ruft Herr Wimmer.

.,Richtig geraten, die Dichterin der Kornblumen und der Interpret der Fragmente des Chrysophilos, werden heute abend eine Gastvorstellung geben, die hoffentlich zu einem dauernden Engagement führen wird«, sagt Herr Direktor Klemens mit seinem sanftesten Lächeln.

Ein erstauntes, langgezogenes Ah! bezeugt das Interesse, das die Gesellschaft an dieser Nachricht nimmt.

»Ich hatte auch noch einen andern Grund, Jägers gerade heute zu bitten«, fährt der Direktor fort, »es war, wenn Sie wollen, eine Rücksicht der Humanität gegen unsern neuen Kollegen Stein. Er ist ganz fremd in unserm Kreis und scheint überdies scheu, befangen und wenig gewohnt, sich in größeren Zirkeln zu bewegen. Nun aber sind, wie er mir selbst heute morgen sagte, Jägers spezielle Bekannte von ihm aus früherer Zeit – aus der Zeit seines Hauslehrerlebens – und er wird sich ohne Zweifel freuen, an diesem Abend unter so viel halb oder ganz fremden Gesichtern auch einigen Bekannten zu begegnen.«

»Diese zarte Rücksicht ehrt Sie, Kollega«, sagt Professor Snellius, dem Direktor die Hand drückend, wobei der elegische Zug um seine Nasenflügel deutlich hervortritt.

»Aber ich denke, Frau Direktor, die Rollen sind alle verteilt«, sagt Doktor Wimmer, der den Max hat, und jeder Veränderung um so mehr entgegen ist, als seine geliebte Thusnelde die Thekla liest, und er auf die Einstudierung seiner Rolle vier Wochen angestrengtesten Studiums verwandt hat.

»Ich habe Doktor Stein den Hauptmann gegeben, der noch nicht besetzt war«, sagt Frau Direktor Klemens in dem Tone jemandes, der keinen Widerspruch gewohnt ist und keinen Widerspruch duldet. »Das ist eine hübsche kleine Rolle und er kann darin zeigen, ob er zu lesen versteht oder nicht. Ich hätte sie freilich gern einmal vorher mit ihm durchgelesen, aber er mag nun sehen, wie er fertig wird. Was Jägers betrifft, so habe ich ihnen den Deveroux und Macdonald zuerteilt, die ebenfalls noch unbesetzt waren.«

»Aber, verehrte Frau Direktor«, meint Doktor Kübel, »sollten diese Rollen für unsere Debütanten wohl ganz geeignet sein?«

»Weshalb nicht, lieber Doktor?« fragt die Frau Direktor mit einem ungeduldigen Stirnrunzeln.

»Ich meine nur, weil es ihnen gerade nicht besonders lieb sein dürfte, sich bei uns gleich das erste Mal als Mörder zu introduzieren?« ruft Doktor Kübel.

Frau Direktor, deren Stirn sich bei diesen Worten des scherzhaften Kollegen in noch tiefere Falten gelegt hat, will etwas erwidern, vermag es aber nicht, da sich in diesem Augenblick die Tür öffnet, um Herrn und Frau Jäger ins Zimmer zu lassen.

»Ah, mein würdiger Freund!« ruft Konsistorialrat Jäger, nachdem er Klemens und Snellius begrüßt, dem Doktor Kübel, bei dem er selbst noch Unterricht gehabt hat, mit Wärme die fetten weißen Hände drückend, »wie freue ich mich doch, mein hochverehrter Lehrer, Sie in so herrlichem Wohlsein anzutreffen! Wahrhaftig, man möchte von Ihnen wie Wallenstein von sich selbst sagen, daß über Ihrem braunen Scheitelhaar die schnellen Jahre machtlos hingezogen. Ja, ja: Mens sana in corpore sano – das habe ich in jener Zeit von Ihnen gelernt; aber Sie haben selbst geübt, was Sie lehrten. – Herr Doktor Wimmer, ich freue mich ausnehmend, Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen; Sie sind mir und meiner Frau durch ihre reizenden »Maiglöckchen« schon lange lieb und wert. Erlauben Sie, daß ich Sie meiner Gustava vorstelle; ich möchte die Kornblumen und die Maiglöckchen gern zu einem Strauß vereinigt sehen! Herr Doktor Breitfuß, ich bin glücklich, einem jungen Gelehrten von Ihren Verdiensten zu begegnen. Ihre herrlichen Monographien über Origines und Eusebius haben mir bei Abfassung meiner ›Fragmente‹ die wesentlichsten Dienste geleistet. Ich bin entzückt, meinen Dank jetzt endlich persönlich abtragen zu können.«

Während so Konsistorialrat Jäger im Kreise der Herren sich schlangengleich von einem zum andern windet, durchflattert Primula sylphenhaft den Zirkel der Damen. Sie sagt den älteren Damen ein verbindliches Wort; sie beneidet Thusnelde und Fredegunde Klemens um ihre »reizenden, tiefpoetischen« Namen; sie gratuliert Ida Snellius zu ihren Fortschritten im Portugiesischen und klopft Marie Kübel auf die errötenden Wangen und nennt sie ein liebes, gutes Kind.

»Aber der Kollege bleibt auch wirklich ein wenig gar zu lange«, sagt Direktor Klemens, nach der Uhr sehend, »ich dächte, Auguste, du ließest den Tee servieren.«

»Wen erwarten Sie noch, Wertgeschätzter?« fragt Konsistorialrat Jäger den Direktor.

»Wessen Fuß trat noch über diese Schwelle nicht?« fragt Primula die Direktorin.

In demselben Moment, wo die beiden Angeredeten den Mund zu einer Antwort öffnen, öffnet sich auch die Türe, und Oswalds hohe Gestalt erscheint in dem Rahmen.


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